Erdmann-Degenhardt: Wiebeke Kruse, die „Amasia“ Christians IV.

Antje Degenhardt (verh. Erdmann-Degenhardt)
veröffentlicht im “Bauernblatt” 13. Januar 1996
hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin


Wiebeke Kruse,  die „Amasia“ Christians IV., eine Frauengestalt des 17. Jahrhunderts

Die Herzogtümer Schleswig und Holstein waren seit Christian I. von Dänemark im 15. Jahrhundert ein Teil des dänischen Gesamtstaates. Zwar hatte die grundlegende Idee der Unteilbarkeit der beiden Herzogtümer nicht allzulange Bestand, denn unter den nachfolgenden Königen von Dänemark, die gleichzeitig auch Landesherren von Schleswig und Holstein sein sollten, kam es mehrfach zu territorialen Teilungen mit ihren prinzlichen Geschwistern, die auch finanziell versorgt werden mußten. So entwickelte sich bekanntlich, sowohl auf Schleswiger Gebiet, wie im Holsteinischen jeweils der ,Königliche“ – oder nach dem damaligen Hauptschloß – der „Segeberger Anteil“ und der Gottorfer Anteil, der den Herzögen von Schleswig, Holstein und Gottorp unterstand.

Andere Gebiete, wie etwa die Klöster mit ihrem zumeist reichem Landbesitz, wurden gemeinschaftlich verwaltet.

Eine Zentralfigur des 16. Jahrhunderts war hier im Lande der bedeutende gebildete, politisch und musisch begabte Heinrich Rantzau, anfangs Königlicher Amtmann im Amt Segeberg, dann Königlicher Statthalter des gesamten königlichen Anteils in beiden Herzogtümern. Er diente drei Königen: Christian III., Friedrich II. und Christian IV. Er war ein höchst kultivierter Renaissance – Mensch, hatte studiert, sprach und las Latein und andere Fremdsprachen fließend und galt als „mächtiger als der König selbst“, nicht zuletzt begründet durch seinen immensen Reichtum, dem Erbe seines Vaters Johann und der gewaltigen Mitgift seine Ehefrau Christine von Halle, der einzigen Erbtochter eines braunschweigischen Edelmannes.

Ausgehend von seiner Residenz in Segeberg und seinem Stammsitz Breitenburg bei Itzehoe, erhielt das endende 16. Jahrhundert durch seine Ausstrahlung und Einflußnahme eine derartige Prägung im wirtschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Bereich, dass man hier von dem „Goldenen Ranzauischen Zeitalter“ spricht. Doch nachdem der junge Christian IV. jung – zu jung – mit zwölf Jahren den dänischen Thron bestiegen hatte, entstanden in den nächsten Jahren Querelen mit dem dänischen Königshaus, so dass Rantzau noch kurz vor seinem Tode im 72. Lebensjahr in der Sylvesternacht 1598/99 in Ungnade fiel. Er zog sich grollend auf die Breitenburg zurück. Der junge unerfahrene Christian IV. verlor einen wertvollen Ratgeber, den er in den nächsten Jahren dringend nötig gehabt hätte. Der Beginn des neuen Zeitalters – des 17. Jahrhunderts – mag als Vorabend des Dreißigjährigen Krieges betrachtet werden, der ab 1618 die Welt in Schrecken und Not setzte. Glücklicherweise standen in diesen Kriegsjahrzehnten Schleswig und Holstein nicht immer im Brennpunkt des Geschehens.

Das 17. Jahrhundert wurde mit seinem Kriegsgeschehen ein Zeitalter, das Männer negativ formte und in dem insbesondere Frauen und Kinder zu leiden hatten. Das Frauenbild des beginnenden 17. Jahrhunderts in Skandinavien und in den Herzogtümern ist uns überwiegend nur durch Portraits hochgestellter Damen bekannt geworden. So sei an Christine, Herzogin von Gottorp, die Ehefrau Herzog Adolfs ( 1543 – 1602 ) erinnert oder an Herzogin Augusta, Schwester Christians IV., die ihren Witwensitz auf dem Schloß vor Husum hatte oder an Königin Christine von Schweden. Sie werden alle auf den zeitgenössischen Gemälden in den langen schweren Kleidern der Renaissance mit hohen kostbaren Spitzenkragen dargestellt. Um die Bürgerinnen, Bauersfrauen oder gar die sogenannten „Mädchen aus dem einfachen Volk“ machte man damals kein Aufheben, geschweige, dass sie gar künstlerisch dargestellt wurden. Und so ist es außergewöhnlich, dass aus diesem geschichtlichem Dunkel eine Frauengestalt auftaucht, die einen ganz erstaunlichen Aufstieg nahm, der schon aufgrund des sozialen Hintergrundes seinesgleichen sucht: Wiebeke Kruse, die Hufnerstochter aus dem alten Amt Segeberg.

„Die Orte Föhrden und Barl“, so beschreibt es eine Topographie von 1855, sind zwei Ortschaften, „ welche durch die Bramau getrennt sind, aber eine Dorfschaft bilden. Der Ort besteht aus Hufen, Katen und Instenstellen. Der Boden ist von mittelmäßiger Art, indem er losen Sand und schwarze eisenhaltige Unterlage hat; doch kommt auch an einzelnen Stellen ein ziemlich guter Boden vor. An der Bramau ( über die eine Brücke führt) liegen einige gute Wiesen, die übrigen liegen zu hoch und geben wenig Heu. Holzungen und Moor sind für den Bedarf ausreichend.“ Diese Landschaftsbeschreibung erweckt nicht unbedingt Begeisterungsstürme und es würde der Ort Föhrden – Barl überhaupt nicht interessieren, wäre er nicht der Geburtsort

einer der wenigen nichtadeligen holsteinischen Frauen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges gewesen, über welche die Fama und die Historie reichlich und oft auch widersprüchlich zu berichten weiß.

Es ist die Bauerntochter Wiebeke Kruse, die neunzehn Jahre lang die Geliebte eines der populärsten dänischen Herrscher, Christians IV. war und die Mutter zweier seiner zahlreichen Kinder wurde. Sie war als Tochter des Vollhufhers Hans Kruse in Föhrden vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges, etwa zwischen 1610 und 1618 geboren, in jenem unscheinbaren Ort, den 1848 die Altertumsforscherin aus Bramstedt, Johanna Mestorf ( 1828 -1909) in ihrem gleichnamigen Roman „Wiebeke Kruse“ wie folgt beschreibt: „Am Ufer der Bramau, eine Meile westlich vom Marktflecken Bramstedt, liegt das unbedeutende Dörfchen Föhrden; unbedeutend nicht nur hinsichtlich seiner Größe, sondern in jeder Beziehung. Keine Geschichten von dort gelieferten Schlachten zur Zeit der Waldemare, Gerharde oder Adolphe vererben sich auf den Lippen der Burschen von Geschlecht zu Geschlecht; keine Localsagen von versunkenen Schlössern, wo grausame Ritter und Grafen hausten oder von umgehenden klagenden Burgfräulein, machen die Wangen der Mägde er blassen, wenn sie Abends am Spinnrade um den warmen Ofen beisammen sitzen. Selbst die allgütige Mutter Natur, die so manches holsteinische Dörfchen mit anmutiger Schönheit begabte, scheint beim Ausstreuen ihrer Gaben, als die Hand diesen Ort berührte, die Finger etwas fester geschlossen zu haben.“

Wiebeke Kruse traf mit dem König ganz zufällig zusammen und es entwickelte sich daraus eine starke Liebesbeziehung, die bis zu seinem Tode andauerte. Doch hier beginnen bereits die Schwierigkeiten für den Landeskundler, der es genau wissen möchte.

Nach der Bramstedter Überlieferung wusch Wiebeke in der Bramau Wäsche, wie dieses jahrhundertelang üblich war. Der König ritt vorbei und wurde auf sie aufmerksam, sprach sie an und begeisterte sich alsbald für ihre Frische und Natürlichkeit. In Anlehnung hieran heißt es bei Henning von Rumohr in seinem Führer „Schlösser und Herrenhäuser im Kreis Segeberg“:

,,Der Überlieferung nach hatte der König Wiebke Kruse entdeckt, als er sich mit seiner Kalvakade bei der Annäherung nach Bramstedt anschickte, die Au zu durchreiten und hier eine Gruppe von jungen Frauen und Mädchen antraf, die ihre Wäsche im Wasser der Au wuschen. Eine von ihnen war Wiebke Kruse, auf die das Auge des Königs fiel. Sie war seit 1629 zu ihm in ein enges Liebesverhältnis getreten, das mit unverminderter Zuneigung zueinander 19 Jahre lang dauern sollte und erst durch den Tod, der beide im gleichen Jahr 1648 traf, aufgelöst wurde.“

Christian IV. , dessen vierhundertstes Regierungsjubiläum im Jahre 1988 im Königreich Dänemark mit vielen Ausstellungen und Veranstaltungen gefeiert wurde, war das, was man langläufig einen „Frauenheld“ nennt. Er war seit 1612 Witwer, denn seine ihm 1597 angetraute Gemahlin Anna Katharina von Brandenburg (1575 – 1612) war verstorben. Sein Sohn aus dieser Verbindung war der spätere König Frederik III. ( 1609 – 1670 ).

Mit Nebenfrauen, wie Karen Andersdatter und der ihm zur linken Hand angetrauten Kirstin Munk (1598 – 1658) hatte er noch weitere Nachkommen. Die einundzwanzig Jahre jüngere Kirsten war nicht ganz standesgemäß. Sie war ein dänisches Fräulein, doch hatte ihre Mutter reichen Grundbesitz und war zeitweise Ratgeberin des Königs. Dem Historiker Olaf Klose in seiner „Geschichte Dänemark“ folgend, brachte Kirstin Munks Mutter ganz bewußt den König mit Wiebeke Kruse zusammen, um einen Treuebruch ihrer Tochter zu überdecken.

Nach den neuesten Recherchen des Hohenasper Mediziners Dr. Echt, die er mir allerdings nur mündlich mitteilte – und insoweit hat er die lokalen Erzählungen wieder aufgegriffen, war Wiebeke Kruses Bruder Heinrich Gutsverwalter auf dem heute nicht mehr bestehenden Schloß Drage, im Kirchspiel Hohenaspe, das damals Balthasar von Ahlefeldt ( seit 1581 ) gehörte. Wiebeke, auf die der König bereits beim Wäschewaschen in Bramstedt aufmerksam geworden war, traf hier zufällig, als sie ihren Bruder besuchte, wieder mit Christian IV. zusammen. Daraus soll sich dann die Beziehung entwickelt haben.

Johanna Mestorf, die hinsichtlich ihrer sonstigen Arbeiten sehr präzise vorging, hat vermutlich für ihren einzigen Roman auch Quellenstudien betrieben, diese aber leider nicht vermerkt. Das ergibt sich bereits daraus, dass sie bei einigen Szenen als Fußnote feststellt: „Das ist historisch.“ Sie lässt Wiebeke erst eine Art Kindermädchen bei Kirstin Munk sein. Nachdem Kirstin dem König in jungen Jahren neun Kinder geboren hat, betrügt sie ihn im Jahre 1628 mit dem Rheingrafen von Sohns, einem dänischen Offizier, was tatsächlich urkundlich belegbar ist. Wiebeke versucht sie vor dem König zu decken, wird aus dem Dienst entlassen und findet Aufnahme bei Kirstin Munks Mutter auf deren Gut Waldemars Slot auf Fünen. Hier trifft sie zufällig wieder mit dem König zusammen und er, ein Mann von einundfünzig Jahren, bittet sie nun, seine Lebensgefährtin zu werden und zwar „vor Gott“. Ein Priester segnet das Bündnis ab. Eine Verbindung „ vor aller Welt“, also eine legale Trauung , findet nicht statt. Offiziell bleibt er mit Kirstin Munk verheiratet, verbannt diese aber auf einen Herrensitz nach Jütland. Wiebeke wird nur seine Maitresse.

Die historische Wahrheit wird wohl sehr schwer festzustellen sein, da die Schwiegersöhne Kirstin Munks nach dem Tode Christians zahlreiches Urkundenmaterial vernichtet haben. Allein die Daten von Wiebekes Schwangerschaften lassen vage Vermutungen zu, wann Christian zu Wiebeke in intime Beziehungen trat. Außerdem spricht der Ankauf des Bramstedter Gutes und sonstigen Grundbesitzes für die Fürsorgepflicht des Königs um Wiebeke und die gemeinsamen Kinder zu versorgen.

Christian IV. hat leider den zweifelhaften Ruf – der gar nicht zu seiner landesweiten Popularität in Dänemark paßt – den Dreißigjährigen Krieg in die Herzogtümer Schleswig und Holstein geholt zu haben. Er griff 1625 auf protestantischer Seite in das kriegerische Geschehen ein und wurde von Tilly 1626 in der Schlacht bei Lutter am Barenberg besiegt. Er mußte sich mit seinen geschlagenen Truppen über die Elbe nach Holstein zurückziehen, gefolgt von Tilly und Wallenstein. Die besiegten protestantischen Truppen fluteten durch das holsteinische Land, nach ihnen die Regimenter der „Ligisten“, begleitet von Hunger, Not, Mord und Pest. Die Orte hatten unter Truppendurchmärschen und Einquartierungen sehr zu leiden. Im Mai 1626 kam der Friede von Lübeck zustande. Hierdurch schied Dänemark und damit auch die Herzogtümer Schleswig und Holstein aus dem Kriegsgeschehen aus. Im Sommer 1629 lag Christian in einem Heerlager bei Eutin und besuchte von hieraus Segeberg. Dort traf er mit dem frisch bestallten Amtmann Caspar von Buchwaldt auf dessen Dienstsitz, dem damals noch bestehenden Segeberger Schloß zusammen. Es ist denkbar, dass er von dort nach Bramstedt ritt und es so zu der zufälligen Bekanntschaft zwischen ihm und Wiebeke kam. Bereits 1630 kam Wiebeke mit dem Sohn Ulrich Christian nieder, der, wie viele königliche illegitime Abkömmlinge, den Nachnamen Gyldenlove erhielt. Zu dieser Zeit hatte sich Kirstin Munk schon lange vom König zurückgezogen. Später gebar Wiebeke noch die Tochter Elisabeth Gyldenlove. Beide Kinder wurden standesgemäß erzogen und reichlich ausgestattet.

Elisabeth, die 1654 verstarb, wurde mit dem späteren Feldmarschall Claus von Ahlefeldt verheiratet. Er kam aus dem Hause Gelting, wohnte aber zumeist auf Klein – Nordsee. Ulrich Christian wurde Offizier. Zur Versorgung dieser Kinder kaufte der König 1630 das Gut Bramstedt von Arend Steding, dessen Vater Gerhard zuerst Holstein -Gottorper Vizekanzler gewesen war und später Präsident des Weichbildes Husum wurde. Er hatte das Gut durch Einheirat erworben. Zur Zeit des Ankaufes durch den König, sah es im Flecken Bramstedt recht wüst aus. Denn 1628 hatte ein Großfeuer beträchtlichen Schaden, sowohl bei den Wohnhäusern, wie auch im Gutskomplex angerichtet. Der König ließ das Vorwerk wieder aufbauen und ein kleines Schlößchen, überwiegend aus Holz, errichten. Neben zahlreichen Hufen und Abgabeverpflichtungen aus den umliegenden Dörfern, erhielt Wiebeke als Leibgedinge, das bedeutet die Nutzung für sich und ihre Erben, die alte Bramstedter Mühle am Schlüskamp, das Gut Gayen bei Fuhlendorf und das nahe Roddenmoor. Die Schenkungsurkunde vom 16. November 1633 lautet eingangs wie folgt:

„Wir Christian der Vierdte .. thun kund hiermit, dass Wir der ehrsamen unser lieben besondern Wiebken Kruse aus besonderer Königl. Gnade Unser zu Bramstedt Erblich erkauftes Guht sambt allen Pertinentien und Zubehörung, selbiges für sich und ihre Erben künftiger Zeit zu Nutzen, zu gebrauchen und zu besitzen, auch damit ihrer Gelegenheit nach zu schalten und zu walten gnädigst gönnen und zukommen lassen wollen.“

Das Anwesen war ein langgestreckter Komplex. Man gelangte durch das heute noch bestehende Port – oder Torhaus, das laut Jahreszahl 1647, ein Jahr vor Wiebekes Tod gründlich hergerichtet wurde, in den Hofplatz mit Kuhhaus, Scheune und Reitstall. Eine Brücke führte über die Hudau. Durch ein weiteres, aber kleines Torhaus kam man nun in den inneren Schloßbezirk. Rechts vom Fahrweg befand sich das kleine Schlößchen, das im 18. Jahrhundert unter dem Segeberger Amtmann Christian Günter Graf zu Stolberg abgerissen wurde. Das Gebäude, das von Teichen und feuchten Wiesen umgeben war, hatte etwa die Länge von dreizehn Metern. Auf der anderen Seite des Fahrweges, ihm gegenüber, lag ein Park oder Obstgarten.

In einem Raum des Torhauses befindet sich noch heute das stuckverzierte Monogramm Christians IV. Allerdings läßt der Stil auf eine spätere Zeit, nämlich das Rokoko schließen, korrespondierend zu der prachtvollen Stuckrosette an der Decke. Hier sollen noch zu Lebzeiten Johanna Mestorfs die Portraits von Wiebeke und Christian IV. gehangen haben. Sie sind verschwunden. Nur alte Photos erinnern noch an sie.

Wiebeke Kruse begleitete den König häufig auf seinen Reisen und Inspektionen, hielt sich jedoch auch viel mit ihm zusammen auf den königlichen Schlössern in Kopenhagen und Frederiksborg auf. Sie wurde seine engste Vertraute und treue Lebensgefährtin. Auch auf dem Flaggschiff,, Die Heilige Dreifaltigkeit“, das sich der König bauen ließ, erhielt sie eine eigene Kajüte. Möglicherweise war sie an Bord, als Christian in der berühmten Seeschlacht auf der Kolberger Heide bei Fehmarn, im Kampf gegen die Schweden, verwundet wurde und ein Auge verlor. Auf Schloß Rosenborg in Kopenhagen wird nicht nur von diesem dramatischen Tag die blutbefleckte Kleidung des Königs aufbewahrt, sondern auch ein Paar emaillierte Ohrgehänge, in der Form von weißen Händen, die ein Stück Bronze und ein Stück Eisen halten, Splitter der gesprengten dänischen Kanone und der schwedischen Kugel, die den König verwundeten. In einem dänischen Schloßführer heißt es hierzu kühl: „Von seiner Maitresse Vibeke Kruse und ihrer Tochter getragen.“

Wiebeke Kruse erschien alljährlich auf ihrem Gut in Bramstedt, um nach dem Rechten zu sehen. Hierbei soll sie sich gegenüber der Bevölkerung als sehr freigiebig erwiesen haben. Die Legende berichtet, dass sie von Jugend an das Peitschenknallen der Hütejungen so gerne gehört hätte und so durften diese ihr zu Ehren tüchtig knallen. Mehr noch als in Bramstedt, besteht noch heute an sie die Erinnerung in Glückstadt an der Elbe. Die Stadt wurde von Christian IV. als Konkurrenz zu Hamburg gegründet. Auch hier schenkte der König Wiebeke ein Anwesen. Die Schenkungsurkunde vom 8. Mai 1638 befindet sich im Landesarchiv in Schleswig. Bei der Dotation handelte es sich um ein Wohnhaus mit Nebengebäuden, Privilegien, Freiheiten und Gerechtigkeiten. Es brannte erst 1867 ab und wurde hierbei gänzlich zerstört. Es handelte sich um ein hohes, dreigeschossiges Traufenhaus mit einem Treppenturm.

Dieser Turm, aus rotem und bläulichem Ziegelstein aufgemauert, versehen mit einer vergoldeten Wetterfahne, die Christian IV. hoch zu Roß zeigt, belebt noch heute das Stadtbild.

Die Spuren Wiebeke Kruses sucht man in Dänemark vergebens. Kein Portrait ist von ihr auf Rosenborg oder Frederiksborg zu finden und auf eine entsprechende Frage erhält man nur Achselzucken oder unwilliges Schweigen. Und dabei hat Wiebeke bis zu des Königs Tod, der nach längerem Siechtum am 28. Februar 1648 auf Rosenborg erfolgte, zu ihm gehalten! Besser wäre es für sie gewesen, rechtzeitig ihren Besitz in Holstein zu erreichen. Denn sofort nach Christians Tod wurde sie von dem Clan der Munk – Töchter und dem neuen König Frederik III. des Schlosses verwiesen und all ihrer Habseligkeiten und ihres Personals beraubt. In einer kleinen Kopenhagener Wohnung soll sie noch einige Wochen, nur umsorgt von einer Kammerjungfer, gelebt haben. Zwei Monate nach des Königs Tod verstarb sie, vermutlich durch Gift, achtunddreißigjährig. Sie wurde vor dem Nordertor auf dem Armenfriedhof sang – und klanglos beigesetzt. Als ihr Sohn, mittlerweile ein bekannter Feldherr in spanischem Dienst, 1652 endlich aus Flandern zurückkehrte, sorgte er für eine würdige Überführung und Bestattung auf seinem Besitz Ulriksholm auf Nordost-Fünen. Wenige Jahre später, 1658 verstarb auch er, nach einer raschen militärischen Karriere, an alten Kriegsverwundungen.

Bramstedt ging auf die Tochter über, die zumeist mit ihrem Ehemann auf Klein – Nordsee lebte. Dann erbte es Wiebekes Enkelin Christine Sophie Amalie von Ahlefeldt, die ein abenteuerliches Leben führte und zweimal verheiratet war, das letzte Mal mit einem übelbeleumundeten Ehemann. Auch diese Beziehung zerbrach.

1697 oder 98 ging das Gut an den Oberstleutnant von Grote über, dessen Frau dadurch in die Annalen einging, dass man von ihr erzählt, sie habe ihre Mägde und aufsässigen Untertanen in einen finsteren Keller eingesperrt. Nach einem weiteren Verkauf, erwarb 1744 der Segeberger Amtmann Graf zu Stolberg, Vater der bekannten Brüder Stolberg, die in jungen Jahren Reisebegleiter Goethes durch die Schweiz gewesen waren, das Gut. Er ist auch der Vater der berühmten Goethekorrespondentin Auguste, die im Torhaus geboren wurde. Sie heiratete den verwitweten Ehemann ihrer Schwester Henriette, den fähigen dänischen Minister Andreas Peter Bernstorff, unter dem im 18. Jahrhundert im dänischen Gesamtstaat eine glückliche Zeit ablief, die man allgemein als das „Goldene Bernstorffsche Zeitalter“ bezeichnet. Das Gut wurde im Laufe der Jahre parzelliert. Das Torhaus gehört heute der Stadt Bad Bramstedt.

Als unter Graf zu Stolberg Wiebeke Kruses kleines Schlößchen abgebrochen wurde, blieb noch lange der Fliesenboden des Kellers erhalten. „Auf der leeren Stätte“, so Henning von Rumohr, „knallten die jungen Burschen, vor allem die Hütejungen beim Aus -und Eintreiben morgens und abends trotz Klagen, Drohungen und Beschwerden mit ihren Peitschen hervorragend geschickt, kräftig und taktfest, weil Frau Wiebke ehedem das Peitschenknallen so geliebt und dafür an Belohnungen nicht gespart hatte.“

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Biel / Schadendorf: Die Familie der Wibeke / Wiebeke / Vibeke / Wiebke / Wiebcke Kruse

Die Familie der Wibeke / Wiebeke / Vibeke / Wiebke / Wiebcke Kruse

Vor einigen Wochen stellten der Hamburger Forscher Klaus Biel und ich fest, dass wir beide am Thema Wibeke Kruse arbeiten und viele gleiche Quellen untersuchen. Daraus entwickelte sich eine gedeihliche Zusammenarbeit, in die Klaus Biel sehr viele Energie und die Zuarbeit einiger weiterer Forscher steckte. Ich danke den Beteiligten herzlich.

Das bisherige Ergebnis stelle ich hier vor. Dabei sei ausdrücklich gesagt, dass es einen Arbeitsstand darstellt, der an der einen oder anderen Stelle auch zwischen den Beteiligten noch diskutiert wird und an anderen Stellen noch um Quellen, Dokumente und Bilder ergänzt werden soll. “Working in progress” heißt das wohl in Neudeutsch.

Gleichwohl stellen die Ergebnisse einen großen Schritt in der Forschung um die Herkunft der Wibeke Kruse dar. Denn es kann die von Nicoline Still schon 1973/74 und von Kuno Schuldt 1987 vermutete Herkunft aus Puls bei Schenefeld vermutlich belegt werden. Und über die Vermutungen dieser beiden Forscher hinaus sind hier weitere Generationen der Familie urkundlich erschlossen.

Für Anregungen, Kritik und weitere Erkenntnisse sind wir sehr offen und dankbar.


Hier Klaus Biels tabellarische Zusammenfassung unserer bisherigen Ergebnisse mit Stand vom 26.7.2010:

KlausBiel.HH@t-online.de                                                                       Hamburg, 26.07.2010

Hans H. Kunkelmoor in Itzehoe danke ich für die tatkräftige Mitbeschaffung von Forschungsunterlagen, wie auch Claus-U.Strüben für Bearbeitung der Rendsburger Amtsrechnungen, Besitzerfolgen in anderen Orten und der Obligationen des Vollhufners Claus Kruse in Puls/Schenefeld.

Erstmalig nach 400 Jahren die wahre Abstammung der Wibeke K r u s e   und 9 Generationen ihrer Familie

Diese Schreibweise ist ihre eigene Unterschrift, die sie zusammen mit ihrem morganatischen*) Ehemann Christian IV.von Dänemark benutzte. Beide sind mit Herzog Friedrich III.von Gottorf am 31.7.1636 in DRAGE anwesend zur Hochzeit Christian Rantzaus oo Dorothea Rantzau, Tochter des Detlev sonst auf Panker und der Dorothea Ahlefeld. Dorothea R.ist Enkelin des Balthasar Ahlefeld oo 1583 Margaretha Rantzau, Tochter des Statthalters Heinrich (sein direkter Enkel ist der Hochzeiter). Dazu wurde das Gut ab 1634 renoviert.

*) standesungleiche Ehe im Hochadel = vor Gott gültig – öffentlich nicht anerkannt, deren vermögens- und erbrechtliche Wirkungen, Titel und Rang ein Vertrag für Frau und Kinder festlegte.

Ihr B r u d e r  als ä l t e s t e r der 8.Generation (der erste Sohn Claus * 1599 + 1602)

1) Hinrich II.K r (a) u s e (*?1601  + vor 30.11.1658.Quelle: Leichenpredigt Sohn Christian)

tritt zuerst 1629 als Hofmeister auf GUT Drage bei Detlev Rantzau ins urkundliche „Rampenlicht“ und zwar 1629 als Kirchenstuhlinhaber in (Hohen-) Aspe = für Drage zuständig. 1630.28.7.Itz.Kl.Schuld-u.PfandProt.Heiligenst.S.109ff) schuldet Marten Witte wegen +Vorwirt Eggert Tode Grav.699 150 ML-Herrengelder an Hinrich K .Verwalter in D r a g e  bei Ritter Detlev Rantzau. Da Detlev Rantzau 8.7.1631 Drage gegen ein anderes Gut mit Christian Rantzau eintauscht, wird Hinrich 1632.27.3.Hausvogt Krempe.

12.2.1636 Pate bei Windmüller Marx Dorn Gr.27 Tochter Engel

28.4.1648 (Glückstadt-folio 43) haben Claus Reders Kinder in Glückstadt die Vormünder Marten Reder (Vaterseite) und Heinrich Krause (Mutterseite). 1649 gibt er sein Amt als Hausvogt Krempe an den bereits 1648.26.10.königlich bestätigten Nachfolger/ Schwiegersohn Detlev Köhn (ehemaliger Leutnant) ab und verkauft 26.10.1649 (LAS 137 Bd.447 No.883) sein Kremper Haus zw.Samuel Gehen und Gesche Vette an Detlef Haveman – diesem 7.1.1650 zuerkannt. Er selbst war mit Familie 1643 vor den Schweden nach GLÜCKSTADT geflohen. Dort wird noch 1644.4.12 . „Cilie Kruse“ (deshalb auch neue Taufe  Cile Margreta  K.* 1649.16.9.Krempe) und 1657.8.5. wieder ein weiteres Kind 3.Ehe „beläutet“ (begraben) wegen des 3.schwedischen Krieges. Dazwischen ab 1645 finden weitere Taufen im neuen Wohnsitz KREMPE statt.

oo1) (vermutlich im Ksp.ASPE 1627).
(vermutlich Witwe.des bisherigen HausVogtes/ Hofmeister Drage Johan B o r c h e r s  genannt 1622 könnte Enkel des ITZEHOER Bürgers Johan B.+1566 sein.

Die Mitglieder des Niedersächsischen Kreises wählten 1625.21.5. Christian IV.DK in Segeberg zu ihrem Anführer/Kriegsobersten. Die holsteinischen Gutsherren und ihre Vögte/Hofmeister zogen in den „kaiserlichen Krieg“. Darunter vermuten wir auch Hofmeister Johan Borchers und Hinrich Kruse aus Puls. Höchstwahrscheinlich verlor Johan Borchers wie viele Holsteiner1626.20.8. in der Schlacht bei Lutter am Barenberge/Braunschweig sein Leben. Innerhalb Jahr und Tag folgte ihm Hinrich Kruse im Amt und Ehe. August 1627 überschritten die kaiserlichen Feldherren Tilly und Wallenstein bei Lauenburg und Bleckede die Elbe und alle mussten wieder ins Feld. Am Ende musste sich Christian IV. bei Großenbrode ergeben. Erst 12./22.5.1629 wurde der Friede zu Lübeck geschlossen und im selben Jahr wird Hinrich Kruse urkundlich als Hofmeister Drage genannt.

Hencke (überschrieben mit Emcke) Borchers in Puls war Bürge für sel.(1647) Hans Jacobs Schuld 200 ML an

Claus Harpes zu Todenbüttel. (LAS 104 Nr.694.76.folio  151)

oo2) ?1632 Catharina = PATIN  6.12.1633 /12.3.1634 * J a c o b s  +1635 (bei?Geburt), (Bruder) Dietrich Jacobs zu Itzehoe, ist Vormund 1637 (Leichenpredigt als erfolgter Druck erwähnt in Miscellancen historisch-statistischen und ökonomischen Inhalts 1798,  Bd.2.S.203.I.A.Bolten – aber Wortlaut nicht gefunden)

11) Margaretha Dorothea K. * 1633.21.4. Ihre Namensgebung: Ma.Ahlefeld= die 1629 + „alte“ Gutsherrin oo Balthasar Ahlefeld/ Dorothea Ahelefeld= die lebende „amtierende“Gutsherrin = *Ahlefeld, Tochter des Balthasar) –> Bei Hinrich Kruse Stiftung 1637 der Altarumkränzung in Schenefeld werden auch Elemente des Ahlefeldschen Wappens verwendet !!

oo 1649 SchwS Detlev K ö h n (= NF.1649.Gr.245) 1) Leutnant 2) 1649 Hausvogt Krempe 3) 1651.Hanerau

ihre Ausweisung ist 18.2.1637 in Glückstadt protokolliert (Band 314 S.132/725): VORMUND Vater und dessen Bruder Clauß K., Mutterbruder Dietrich J.in Itzehoe und KspV.Dietrich Twechtmann

1654 lässt der Hanerauer Hausvogt in Krempe taufen:

T.Anna Juliana Köhn (*) 3.8.1654 P: Fr: Juliana Krebs oo AmtM.Hanerau/ Christoph Jönsen m.Frau

12) * 1632 + vor 18.2.1637

13) * 1634 + vor 18.2.1637

oo3) (29.5.Pf.Mo) 1637 /Leichenpredigt Cathrina O s t e r d  o r f f * 1613.21.9. +1640.29.4.(+ 6.5.) bei Totgeburt
.(Quelle: Roth 9/8574) als „Ca.Krausin“ 30.5.1637 PATIN bei Christian Ehrhorns.Krempe.T.Magda.
V +Harm Osterdorff BarmstedterAmtmann u. Margretha *Rademann

14) Christian K.(*)Krempe 18.4.1638 Student Wittenberg 29.10.1655/ +30.11.1658 Wittenberg.20 J.7 M.5 T.Pocken
VORMUND.gen.bei seiner Leichenpredigt (Roth 10/9663) Franz Otto Kruse (= EN.Mutter-Schwester Ma.*Osterdorff
TP: Namensgeber (ONKEL) C h r i s t i a n  IV.DK und  Christian Rantzau (oo Drage s.o.)/ Elis.Magens(*Osterdorff)
LP: Beide Eltern Hinrich Kruse Hausvogt.Krempe und Cathrina*Osterdorff 1658 bereits verstorben
Großmutter Ma.Witwe des Amtmannes +Harm Osterdorff *Rademann noch 1658 in Hamburg am Leben !!
Georg Green * Tremsbüttel 8.7.1636 auch seit 17.4.54 Wittenberg/ 1658 Gedichtswidmung und wie er Enkel der Ma.Ww.Osterdorff (M :Ma.*Osterdorff)

15) (Sohn) * 1639 , 1640 im Leben, ABER bei LP Christian bereits verstorben – sonst erwähnt !

16) männl.Totgeburt mit der Mutter verstorben + 29.4.1640

Ich nehme an, dass er seinen eigenen Bestattungsplatz 1637 in der Kirche von Schenefeld (Geburtskirchspiel) erworben hat, als er dort eine, neue Altarumkränzung spendete-

Qu: Wilhelm Johnsen: Meister Jürgen Heitmann d.Ä.Wilster S.97)  – wie sich sein jüngerer Bruder Claus in Puls als Nachfolger auf dem elterlichen Hof mit 10 Reichstaler = 30 ML 1637 (Epitaph) an der neuen Schenefelder Kanzel beteiligt.

oo4) 1640.6.12.(Sonntag oder vorher) Anna F r a u e n, V.Michel Gr.38/1641 oo Silcke Gröting, Tochter des Hans Gröting u.Anna *Frauen

RatsHerr und Stadtfähnrich Emichius Frauen ist Hinrich Kruses „Schwager“: tatsächlich 2.Grades > Ehefrau Anna * Frauen mütterliche Großmutter Anna Gröting *Frauen und Emichius F.sind Geschwister = Kinder des Michel Frauen Grav.833 und der Silcke von Leesen, Emckes Tochter

F r a u  Anna ist noch 1642.7.8. als Patin (bei 32) in Itzehoe ansässig, weil Hinrich K.als Bruder der Wibeke K. (aufgrund der königlichen Obligationen bei Ihm) ein privilegiertes Gewese mit Schankgerechtigkeit im königlichen Burgviertel ITZEHOE (HAGEDORN) lt.Nicolie Still erhielt. Als 15.12.1643 ein Trompeter des schwedischen Generals Torstensen den Itzehoer Rat aufforderte, die Stadttore für sie zu öffnen, floh Hinrich K. nach GLÜCKSTADT. Die Stadttore wurden 17.12.1643 geöffnet. 28.1.1652 wird in Glückstadt eine Obligation von 1770 Reichstaler = 5310 Mark lübsch von Hinrich Kruse und Frau Anna protokolliert, jedoch ausgegeben 1650.7.12.(Montag), Kreditor ist der Kirchspielvogt Herr Claus Petersen zu Barlt/Süderdithmarschen (Schuld/PfandProt.Glückstadt Band 314 S.775). 1652 ist bereits sein SchwS Detlev Köhn, Hausvogt.

17) * 1641 Itzehoe-Lücke (Silie= Name ihrer Mutter) (+) Glückstadt 1644.4.12.

18) * 1643 Itzehoe-Lücke (Michel = Name ihres Vaters)

19) * 1645. Krempe. Sophia Catharina getauft in Krempe, 1645, den 1. Nov. (Seite 20):

„1. Novemb. Hinrich Krausen Hausvoigd ein Kind getaufet Sophia Catharina genand,

die Gefattern:Dms (für Dominus/ Herr) Angelus Lütken, Die Fraw Waldenwisch, und Severin Teeckelsen frauw.“

1.10) Zw.Hinrich-Christian K.* 25.12.1647 (Weihn.) Mg.Joh.Hudemann *)/Emichius Frauen/Abel Steinmann (T.d.Amtsverwalters Jacob oo Sile B o r c h e r s)

*) Memo: Johannes Hudemann studierte in Wittenberg, 1628: https://www.civ-online.org/de/service/datenbank/#/matrikel/59cbe9a4d310d8380000e609?offset=438

1.11) Zw.Anna Christina  K.* 25.12.1647 P: Anna Cantzler(*Kruse= 42 a.Gr.376)/Christina Horst(*Köster)/Peter Kleinfinger(Gr.264 oo Otto Lentz’T)

1.12) Cile Margreta  K.* 1649.16.9. P: Fr:Sil Steinmann (*B o r c h e r s)/ Garpe Schröder(*Klüver)/ Angelus Lütke jun.

20.11.1648 (Schuld/PfandProt.Glückstadt Band 264 Folio 726) Hausvogt Hinrich Kruse in Krempe wird Schwager Emichio Frauen 1692 ML schuldig.

Wwe.Anna Kruse hält 28.8.1667 (LAS Abt.137 Nr.447) Überfrage über Frauen-Kirchenstand in Krempe, den sie von + Großmutter Anna Gröting geerbt und davor ihr +Vater und dessen  Kinder innehatten. 3.10.1668 zuerkannt.

Nach Schwiegervater Michel Frauen wird Hinrich 1641 Besitzer von Gr.38 sowie 171/1648 von Kg. und 245 bis 1649 an SchwS Detlev Köhn.

20.10.1648 Amtsbestätigung durch Friedrich III. und Anwartschaft für künftigen Schwiegersohn Leutnant Detlev Köhn (s.o.) des kranken Hinrich Kruse.

 

2) Schwester Wibeke Kruse * 1603 + 1648.27.4. (+)  3.5.Kirche Nörreport

wird 17.-19.5.1629 auf Gut Kjärstrup auf Taasinge durch Kirsten Munks Mutter Ellen *Marsvin KÖNIG Christian IV .zugeführt und wird dienstverpflichtet in Kirsten Munks Haushalt > damals noch Christian IV.morganatische Ehefrau. Bei Beerdigung Balthasar Ahlefeldts Wwe.Ma.*Rantzau von Drage 1629 ist auch Christian IV.anwesend und lernt auch Hinrich Kruses Schwester Wipke kennen.

ANFANG JULI 1629 war das Beilager zwischen ihr und Christian IV., denn SOHN ULRICH CHRISTIAN GÜLDENLÖV * 7.4.1630 Ibstrup (Jägersborg).

Obwohl ihr Christian IV.nach Geburt Elisabeth Sophie das GUT BRAMSTEDT per Urkunde 16.11.1633 schenkt, erwirbt er 1633.25.05. für sie und ihre Erben ein Begräbnis vor dem K r e m p e r Altar. M.E.kann das nur Wipkes persönlicher Wunsch gewesen sein, denn Bramstedt hätte dafür näher gelegen. 1635 erhielt sie 1 Hof in Kopenhagen an der Ecke von Stranden/Nabolös gegenüber dem Schloß und 1638.06.05. das Haus in Glückstadt mit „Turm“.Sohn Ulrich Christian erhält später das Gut Skinnerup auf Fünen und benennt es in „Ulriksholm“ um. Seit 1639 erhält die Tochter einen eigenen Lehrer JOHANNES HAUSMANN, dessen Vertrag 23.2.1641 in Kolding schriftlich bestätigt wird. Sowohl der damalige Kronprinz Christian (1637) als auch der jüngere Friedrich (später III.) suchen bei Vorhaben ihre Fürsprache/Unterstützung beim König. 1647 wird ihr Gift zugeführt, so dass sie schwer erkrankt und kurze Zeit nach Christians Tod (+1648,28.2.) stirbt auch sie +1648,27.4. Der Anführer der sog.SchwS-Partei Corfitz Ulfeldt lässt ihre Leiche um Mitternacht ohne Zeremonie und Glockengeläut außerhalb der Wallanlagen wie Arme und Verbrecher bestatten.

21) Ulrich Christian Güldenlow * 7.4.1630 + ledig 11.12.1658

22) Elisabeth Sophie G.* 1633 + Kindbett 20.1.1654 (+) Kiel-S.Nic.16.3.

oo 18.6.1648 Generalmajor/Wwr.Claus Ahlefeld * Gelting 2.9.1615 + 1674 (+) Kiel-S.Nic.6.5.

 

3) Schwester Engel *K. *1607? OO1) Verwalter JÜRGEN Kruse von Wibekes Gut Bramstedt 1633 Er stirbt 1.9.1638. >

31) Tochter Gertrud K.ist 1650.27.10.> *1636? Patin bei Rötger Lindemann

 

Verwalter-Nachfolger wird 1639 Johan  F r e y m u t h + 3.3. (+) 10.3.1649 Bramstedt

oo1) Hamburg 1633.17.4. Lucia Hohusen V Hieronymus, Hamburger Familie + 1640 Seuche April

 

erst OO2) 11.11.1641 Witwe Engel Kruse *Kruse

12.02.1647 (LAS 110,3 Nr.122) erteilen – Zitat:

„Herr Königl: Hausvogt Henrich Kruse und Johan  F r e y m u h t  Verwaldter zu Brambstedte im nahmen und habender Vollmacht derer respectiven hertzlieben SCHWESTER und FRAUEN an M(eister) Geberdten“ in Glückstadt Auftrag zur Fertigung einer hölzernen Zugbrücke für das Gut Bramstedt.

Kinder:

32) Ulrich Christian Freymuth (wie Kg.Chr.IV.oo Wiebkes Sohn) (*) Bramstedt 7.8.1642

PATEN: Clawes Redegeltt.Gr.839/Peter Hellertt.Itzeho/Fr: Anna Kruse.Itzeho(oo Hinrich =1)

33) Ingeborgh Freymuth (*) Bramstedt 8.10.1643 + 1645/6 PATEN:

edle viel Ehr u.Tugentreiche Jungfer Elisabeth Sophia Güldenloew (= 22 Chr.IV.u.Wiebkes T)

Zyllyie Hellrichs (oo Peter = 1638 ErbNf.d.Claus Stark) Marx Frauen(Gr.857/1629 oo Geske F.

V:Michel u.Silke Gröting)

34) Engelborgh Freymuth (*) Bramstedt 10.6.1646 PATEN:

Fr: Pastor Margreta Galenbek/ Dorothea Nißen/ Hinrich Wilde.Hamburg (-Ca.oo 25.1.1629 Ma.Huge)

35) Clemens Freymuth * 1648? oo Itz.1683.8.11.Wwe.A.d.Clauß Schuldte oo1) 1672 *Struve

Kindervormünder 1653 (LAS 110/52 S.178)

Daniel Rosenow (oo Beke Cordes) Albrecht Bartels (V Joh.oo Ma.Westfal)

 

OO3) 1650 Witwer und Pastor Hinrich Galenbek — keine Kinder, da bereits im 44. Jahr

* Neubrandenburg 1598 + Bramstedt 25.5.1659, Sohn des Paul u.Anna

16.10.1651 Fr:Engel G.bei Bramstedter Organist Harm Einhusen oo’50 Fr.Mgd.Elers.HH ebenso

wie Kindervormund Daniel Rosenow (s.o.)

2.7.1653 Fr.Engel G.bei Joh.Stekemiß VH.13 oo Elsche Bult

25.3.1660 Fr:Engel G. bei VORM. Albrecht Bartels oo Ca.Mor

 

4) Bruder Clauß IV.K. (*ca.1605) besitzt väterlichen Hof in P u l s noch 1637 10 Rth.Mitstifter

Kanzel in Schenefeld. 1637.18.2.(LAS 133 Nr.261 fol.132) ist er mit Kindesvater Hinrich K.(1)

VORMUND von dessen einzigen überlebenden Kind 2.Ehe = Margaretha Dorothea K.

Mütterliche MITVORMÜNDER sind Dietrich Jacob(s) Itzehoe und Schenefelder KspVogt Dietrich Twechtmann.

41) Anna K.(TP.1647 = 1.11) oo 1647.vor 1.11. Rittmeister Johan Cantzler Grav.376

42) Alheit K. in Trauregister Schenefeld S.21: Den 16.9bris (11.) war der Donnerstag nach dem 23.Sontage nach Trinitatis

1663 – Eggert Gridbohm zu Pulß und Alheit Krusen daselbst — Hierzu im Amtsregister 1668/9:

Claus Cruse nun Eggert Gritbohm = offensichtlich Besitznachfolger

Wegen des schwedischen Krieges lässt Claus Kruse von  P u l s in KREMPE taufen:

43) Christian Detlev K. (*) Krempe 1644.9.8. mit PATEN: Herr Hans Gröting (Schwager seines Bruders Hinrich) Herr Hinricus Schröder (Diakon Krempe) und J.NN Seyer.

1540 und seit 1585 ist in der Amtsrechnung für PULS durchgehend bis 1622 ein  C l a u ß  K.

als Hofbesitzer genannt. Letzteren halte ich für den gemeinsamen Vater.

C.-U.Strüben sagt dazu:“ Sicherstes Zeichen für eine Vollhufe ist die Abgabe eines ganzen Schweines,

jedoch gab der Kruse-Hof nicht einmal 1/2 Schwein ab.“ Offensichtlich waren sie davon befreit.

 

Wichtigste Abstammungsbeweise:

12.02.1647 (LAS 110,3 Nr.122) erteilen „Herr Königl: Hausvogt Henrich II.Kruse und Johan Freymuht Verwaldter zu Brambstedte im nahmen und habender Vollmacht derer respectiven hertzlieben SCHWESTER und FRAUEN an M(eister) Geberdten“  in Glückstadt Auftrag zur Fertigung einer hölzernen Zugbrücke für das Gut Bramstedt.

Hieraus lese ich, Klaus Biel, dass HAUSVOGT Henrich Kruse und die FRAU des Verwalters Johan Freymuth = Engel Ww.Kruse = Geschwister zu Wiebke Kruse – > Gutsherrin Bramstedt sind.
Jan-Uwe Schadendorf liest daraus, das Hinrich Kruse und Wibeke, die Schlossherrin (Schwester und Frauen) Geschwister sind.

1637 Hausvogts Hinrich K.BRUDER Claus IV. in Puls/Schenefeld Vormund für dessen Tochter Margretha Dorothea K.

……sowie Patenschaft Christian IV.DK 1638 bei (14) Christian K r u s e.

 

7.Generation

Aller gemeinsamer Vater: VOLLHufner C l a u ß  V. Kruse – AR Rendsburg ab 1598 und 5.5.1616

Kinder ab 1599 siehe oben

(eventuell OO Tochter des HALBHufners  H e i n r i c h  Borgers = Borchers in  P u l s

Der HAUSVOGT Krempe Johan Borchers 1622 ist bestimmt ein Verwandter u n d Ehevorgänger des Heinrich K r u s e (= 1)

 

6.Generation

Großvater: VOLLHufner C l a u ß  IV. Kruse 1573/1576/1585 – AR Rendsburg 1597  + PEST 1597

12.06.1573 (Qu: Seite 512 im Ältesten Urteilsbuch des Holsteinischen Vierstädtegerichtes) wird C l a u s  Kruse mit Gevollmächtigten Jochim Moritz (Itzehoe) wegen Schadens und Kosten bei einem Pferdekauf von Tanckloff Johanssen verklagt. Kläger Tanckloff erscheint nicht und bleibt der Sachen verlustig. 1576 Erwähnung im „Kirchenmissale Schenefeld“ sowie ab 1585 in den AR Rendsburg.

 

5.Generation

Urgroßvater C l a u s  III. Kruse 1538 „der JUNGE“ (+  Pest 1566)

Seine Witwe Silje/Cäcile K. zahlt 1585 = 6 ß Verbittelgeld/Abschiederin (LAS 104 Nr.694.76 folio 152)

Siljes (Ahlefeld) etwaige Großmutter Wwe Ca.Krummendiek (von Heiligenstedten) überlässt ihr bewohntes Haus in  I t z e h o e   n e b e n   dem Kloster (!!!) an ihre Tochter Heilwig Kr.OO Christoffer von Alevelde (+ 1532) zur lebenslangen Nutzung: (Urkunde vom 21.12.1529 (SHRU 8-306) >> Enkelin/Tochter Silje Ahlefeld 1538 Nonne dann Ehefrau

1538 wird derselbe Claus zu 100 ML Brüche verurteilt, weil er mit Genossen kirchliches „Silberzeug“ entwendete.

Die Geschichte Itzehoe, Band 1, Stadt Itzeoe 1988, Seite 42, erhellt den ganzen Ablauf dieser Strafe. Nach Regierungsübernahme wandelte Christian III.DK das Itzehoer Kloster 1534 in eine Versorgungsstätte für adlige Töchter um und forderte das Klostersilber ein. Im Frühjahr 1538 richteten 28 Nonnen des Klosters einen Hilferuf an Christian III.DK, sie vom Zwang der Heuchelei und dem katholischen Gottesdienst zu befreien. Die Ratsherren nahmen am 25.2.1538 an der nach Gottorf einberufenen 1.evangelischen Synode teil. Daraufhin hatten zunächst unbekannte Täter das Kreuz aus der Itzehoer Laurentiikirche (= Klosterkirche) entwendet und es der noch streng katholischen Abtissin Catharina Rantzau, Schwester des Ritters Johann R., zum Spott vors Fenster gestellt. Sie beschwerte sich bei König Christian III.DK, dem ehemaligen Schüler Ritter Johanns R., und der König befahl 29.4 .1538 dem Rat (StA.Itz.Urk.89), die Kreuzdiebe festnehmen zu lassen…was folglich geschah, wie man aus der festgesetzten Strafe Claus Kruses als hauptschuldigem Anführer sieht — selbst wenn Christian III.als Verfechter der Lutheraner diesen Vorfall bestimmt mit Wohlgefallen gesehen hat, konnte er als Landesherr einen „Diebstahl“  jedoch nicht ungestraft lassen. > Diese Brüchezahlung ist eventuell Ursache für Befreiung von der „Schweine“-Abgabe.

Meines Erachtens ist mit dieser Tat bewiesen, dass Claus III. Kruses in Puls/Ksp.Schenefeld Familie aus Itzehoe stammt.

 

4.Generation

Gemeinsamer Ururgroßvater C l a u ß  II.Kruse (der Alte) in Itzehoe

vermutlich Einheirat oder Kauf in P u l s  1538 mit 15 M Steuerabgabe

a) SOHN > Enkel Johan K. ist 1553 (SHRU 8 Nr.436) Bewohner des Hauses am Kirchhof

b) Tewes K. in   I t z e h o e + 1566 PEST OO Cilke = 21.06.1569 Witwe

27.02.1543 (SHRU 8 Nr.348) Jochim und Bruder Marcus Brandt werden als Nutzer der 4 Stücke Acker auf dem Schulenberg vom Itzehoer Rat bestätigt, Zeuge: Peter Garp, Hanß Homudt, Tewes Kruse, Jochim Moritz und Marcus Garp alles Bürger in Itzehoe. 12.06.1548 (Qu: Seite 200 im Ältesten Urteilsbuch des Holsteinischen Vierstädtegerichts 1497-1574, Kiel 1925, Dr.Franz Gundlach) verklagt Andreas Weinhoever von Itzehoe T h e v s   K r u e ß e  vor dem Vierstädtegericht, weil er ein Kleinod von 10 ML nicht bezahlen will. Marthen Vormhann als Bevollmächtigter des Thevs begehrt Klageabweisung. Da Andreas weder erschienen noch einen Vollmächtigten geschickt hat, wird die Berufungsklage abgewiesen und Thevs soll die Bezahlung bei Marten anmahmen. 03.07.1565 (gleiche Quelle Seite 333) zwischen den Klägern Tewes Kruse, Andres Oliegart, Arnt Brunnerer und Christoffer Elers sind „Irrungen“ mit den Beklagten Hermann Kleinmoß für seinen Stiefsohn Peter Stegemann (Mutter Grete Kleinmoß oo1) Tewes Stegemann) wegen 60 ML entstanden. Die Verhandlung wird wegen Vergleichs der Beteiligten beigelegt. 21.06.1569 (Seite 428 in gleicher Quelle) verklagt C z i l l i g e  Kruse mit Worthalter Jochim Moritz Wibeke to Rade und ihren Bevollmächtigten Hinrich Blanck, weil Czillige wegen 6 ML 4 ß Rente wegen 100 ML gemahnt wird für ein bei Czillige noch vorhandenes Kontor (Schrank) und ein Schenkeschive (Büffet). Czillige ist in ihrer 24jährigen Ehe mit Tewes Kruse nicht einmal wegen der Rente angesprochen worden. Marcus Hase als Worthalter der Wibeke bringt vor, dass Czilliges Mann die ersten 100 ML „up liffgeding“ bekommen und dafür gedankt habe. Weitere 100 ML stammen von Jürgen Wichmann. Wegen der zweiten 100 ML wird Czillige des Eides entbunden und wenn Wibeke den fehlenden Beweis für die anderen 100 ML erbringen kann, muss bezahlt werden.

c) Claus (der „Junge“) wird 1538 in P u l s/ Schenefeld zu 100 ML Brüche verurteilt, weil er mit Genossen kirchliches „Silberzeug“ entwendete.

So einen „Schelmenstreich“ hat sicherlich eher ein junger, lediger Mann mit seinen „Genossen“ verübt.

 

3.Generation

Das Haus des H i n r i k I.Kruse in Itzehoe ist 1491/1507 Pfand für 30 ML Schuld bei S.Laurentii

Kirchenrechnungsbuch Folio 5a = S.24 in  W.Jensen „Aus alten Itzehoer Archiven-Kirchenmissale ab 1491“ Itzehoe: Nationalsozialistischer Gauverlag Schleswig-Holstein.1938

Besitzer ist er sicher v o r  dem Tod seines Vaters 1478 schon gewesen.

 

2.Generation

C l a w e s I.Kruse in Itzehoe, Breitestr.2(Hagedorn), 2.7.1460 (SHRU 9-69) + 1478

OO Tale als Nachbar zur Breitenstr.6 erwähnt, das Knappe Breyde Rantzau, Großvater des Feldherrn Johan Rantzau, mit Zustimmung seiner 2.Frau Margretha *Stake und all seiner Söhne an die Vorsteher S.Laurenti zum gemeinsamen Seelenheil vermacht. Clawes Kruse + vor 02.01.1479 (StA.Nr.47) oo Tale verkauft dato als Witwe den Hagedorn an Hartich Kaleke, dem Ehemann der Schwägerin Elsabe *Kruse.

a) Ältester J o h a n K.geht nach K r e m p e + 1516 Pest oo um 1492/Pest Tale Wwe.des 1489 Peter Hoveld (Nr.6 -Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt: „Das Kremper Stadtbuch 1488-1602“)

1516 (Nr.296-Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt: „Das Kremper Stadtbuch 1488-1602“) teilt Wwe.Tale K.die Töchter Cathrina und Gretge Hoveld ihres +Sohns Johan Hoveld ab.

b) M e t t e K. (Wwe.15.1.1513-StA.Nr.75 und „Bede“ 1518) oo (StA.Nr.47) 1479 Ratsherr 1490 Bürgermeister Hans Clüver.Itzehoe + Pest 1494

c) E l s a b e K.oo1) (Albert) Reddich.*)Küster Zeuge 1479 > c.1) Benedictus R.(1513 Küster S.Laurentii)  oo2) Detlev Syverd

*) Nr.113 = 1477 Albert Kosster als Mitglied Liebfrauengilde – Prof.Dr.Detlefsen,Glückstadt: Namenverzeichnis von 160 Itzehoer Einwohnern vor 1461 ff

d) A n n e  K.oo1) (StA.Nr.47) Hans Matthies > d.1) Paul Matthies später nach Stiefvater Grise genannt oo2) 1508 Wwr. Wulf Grise *) 1511 Ratsherr 1513 Bürgermeister

*) Nr.178 = 1510 als Mitglied Liebfrauengilde – Prof.Dr.Detlefsen,Glückstadt: Namenverzeichnis von 160 Itzehoer Einwohnern vor 1461 ff

e) B a r t o l o meus K. lebt als Nachbar K r e m p e  7.4.1493 (Nr.40 – Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt: „Das Kremper Stadtbuch 1488-1602“) in der Schomaker Str.

f) H i n r i c h K.1491/1507 Hausbesitzer  I t z e h o e

 

1.Generation

Des seeligen J o h a n   Kruses Haus südlich am Kirchhof und Hans Grote westlich wird verkauft 30.03.1421 (SHRU 8 Nr.161)

durch Abtissin Ide Reventlow und Priorin Alheydis für 40 ML an Marquardt Lovete, dem Vicarius am Heiligen-Kreuz -Altar: Zeugen = Vikare Herren Engelbrecht Louwe, Marquard Hovemann, Johan Trappe und Hynrik van Oderynghe. Johan Kruse war voriger Besitzer des „Hagedorns“, den seine Tochter Elsabe  *K.oo Hartich Kalcke von Claus Kruses Witwe Tale 02.01.1479 (StA.Nr.47) kauft.  Kinder: a) Clawes  b) Elsabe oo Hartich Kaleke

Rats-„Herr“Johan K r u s e  13.9.1391 (SHRU.6 Nr.975) Vikar zu Itzehoe mit Herren Ludeke Bramhorst und Johan Thome geben bei Generaloffizial Herman des Hamburger Domes S.Maria die Abgabenpflicht von Land in Kollmoor/Itzehoe an das S.Jürgens Hospital zu Protokoll.

Sein Bruder Herr M i c h a e l   Kruse war Prediger und Vikar am Hamburger S.Maria-Dom 10.02.1425 (SHRU 8 Nr.172).

 

0.Generation

BRUDER seines Vaters war 24.06.1362 (SHRU 8 Nr.57) katholischer Priester und Vikar Herr J o h a n   Kruse am Altar des hl.Kreuzes in S.Laurentii

Veröffentlicht unter B - Schloss und Roland, Gut und Mühle | Kommentare deaktiviert für Biel / Schadendorf: Die Familie der Wibeke / Wiebeke / Vibeke / Wiebke / Wiebcke Kruse

Bruhn: Wiebeke Kruse – ein Beitrag zur Restaurierung des „Wiebke-Kruse-Turmes“ in Glückstadt 1978/79

aus: Heimatkundliches Jahrbuch des Kreises Segeberg, 1997 (auf diesen Beitrag reagierte der Historiker Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt)


Waltrud Bruhn, Glückstadt

Wiebeke Kruse – ein Beitrag zur Restaurierung des
„Wiebke-Kruse-Turmes“ in Glückstadt 1978/79

1648 – gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges – am 28. Februar, starb im fernen Kopenhagen in seinem Schloß Rosenborg der königliche Gründer Glückstadts, Christian IV. von Dänemark, im Alter von 71 Jahren.

Unbemerkt von der hohen Politik, kaum beachtet von der Geschichtsschreibung, wurde damit eines anderen Menschen Lebensnerv getroffen, eines Menschen, der Christian IV. seit achtzehn Jahren sehr nahegestanden hatte.

Es war Wiebeke Kruse.

Dieser Name ist uns und jedem Bramstedter Kind dank der heimatkundlichen Bemühungen der Lehrer wohlbekannt: Eines unserer ältesten Bauwerke, der barocke, sechseckige Turm am Hafen, hinter dem Haus Nr. 4, wird noch heute „Wiebke-Kruse-Turm“ genannt.

Über dreihundert Jahre steht dieser Turm. Und Erhaltungsmaßnahmen, die seinem Mauerwerk, besonders aber dem barocken Turmhelm und der originellen kupfernen Wetterfahne galten, begannen im Herbst 1978 gerade noch in letzter Minute. Es wäre ein großes Unglück für die Baukultur der Stadt gewesen, halte dieser Turm unter den Herbststürmen oder den gewaltigen Schneemassen des Winters 1978/79 unheilbaren Schaden erlitten – ist er doch ein schmückendes Wahrzeichen in der barocken Stadtsilhouette, ein bindendes Glied in der Geschichte und ein liebenswürdiges Zeugnis menschlicher Beziehungen.

Es ist Wiebeke Kruse nicht an der Wiege gesungen worden, wie merkwürdig und glanzvoll, außergewöhnlich und beschwerlich ihr Leben verlaufen sollte, dieser kleinen Wiebeke, die in Föhrden-Barl bei Bramstedt geboren worden war als Tochter des Vollhufners und freien Bauern Hans Kruse. Ihr Geburtsdatum ließ sich bis heute nicht ausmachen, denn das Kirchspiel Bramstedt hatte auch unter den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zu leiden gehabt; doch wollen wir uns das Geburtsdatum etwa um 1610 denken.

Wiebeke hatte noch eine Schwester und zwei Brüder. Und wir können uns wohl vorstellen, in welch ruhiger Beschaulichkeit und althergebrachter Ordnung ihre Kindheit in der bäuerlichen Umgebung verlief. Noch war es jenes Föhrden-Barl vor dem Dreißigjährigen Kriege.

Wenn wir nun aber erfahren möchten, wie das Leben Wiebekes lief, wie sie es bewältigt haben mag, welche Persönlichkeit sie gewesen ist, ja, vielleicht nur, wie sie ausgesehen hat, so geraten wir in das Thema einer „Personenwüstung“.

Wiebeke Kruse ist für uns, für jeden Geschichtsinteressierten, zweimal gestorben. Man könnte Nygenstad bi de Elve, die mittelalterliche Stadtwüstung (1350 1402 an Schleuer und Elbe nahe (Glückstadt gelegen), heranziehen: So wie dieser Ort immerfort von den Fluten angegriffen, unterwühlt und schließlich total verwüstet und dem Erdboden gleichgemacht wurde, so wurde Wiebeke Kruse in ihrer Person, ihrer Stellung, d. i. in ihrem „Da-Sein“, immerfort angegriffen und nach ihrem reichlich mysteriösen Tod ihr Nachlaß, das Andenken an sie. total verwüstet und vernichtet oder kaum wieder auffindbar beiseite geschafft.

Uns bleibt fast nichts als wenige überlieferte Jahreszahlen, die das (Gerüst aller Ausführungen nur mühsam halten. Allerdings bleibt der kleine historische Roman von Johanna Mestorff von 1866 „Wiebeke Kruse“ als wertvolle Grundlage und Bereicherung des Themas von großer Bedeutung.

Mit allergrößter Dankbarkeit muß man im übrigen jedes aufgefundene Einzelteilchen aus anderen, auch spärlichen Quellen, einer Darstellung hinzufügen. Außerdem aber sind Sie, lieber Leser, gebeten, Ihre ganze Vorstellungskraft bereitzuhalten, um aus dieser „Personenwüstung“ das Bild einer jungen, nicht-adeligen Frau an der Seite eines der bedeutendsten Könige Nordeuropas, einer renaissancehaften Persönlichkeit, zu gewinnen.

Immerhin hat es in der Geschichte Schleswig-Holsteins nie eine zweite Frau gegeben, die einen derart großen Sprung in die allerhöchste soziale Stellung gemacht hat, ohne auch nur im geringsten von Geburt dazu vorbestimmt gewesen und dafür erzogen worden zu sein.

Wie die wenigen Hinweise zu sagen scheinen, hat sie eine ganz außergewöhnliche Stellung, außerhalb jeder Norm und immer auf das neue vom König selbst geregelt, innegehabt.

Rufen wir uns in Erinnerung, daß Wiebekes Vater Vollhufner war. d. h. für dieses Gebiet im Amte Segeberg: Er hatte einen grollen Hof als Eigentum. und er war ein freier Bauer, das bedeutete in seinem Falle: er war allein dem Landesherrn (dem dänischen König) untertan, war auch nicht abgabenpflichtig oder dienstleistungspflichtig, sondern diese Landesherrschaft war eine reine Schutzherrschaft. Außerdem besaßen die Hufner und freien Bauern in diesem Gebiet Jagdrecht, Nutzungs- und Besitzrecht, an den großen Waldflächen. die ihre Wohlhabenheit besonders steigerten. Auch zeichnete sich ihre Stellung dadurch aus. daß sie immer schon Kirchspielvögte, Gerichtspersonen, Dingvögte, überhaupt „Amtspersonen“ gestellt hatten.

Die Lebenseinstellung ihrer Vorfahren, deren Stellung an sich, ihre Haltung, müssen wir in Betracht ziehen, wenn wir von Wiebekes heimatlicher Umgebung sprechen und wenn wir darüber nachdenken, was sie in ihrer frühen Jugend geprägt haben mag. Es lässt sich nicht beweisen, doch spricht vieles dafür, daß Wiebeke Kruse als Tochter des Hufners und freien Bauern Hans Kruse die gleiche Lebenseinstellung, die gleiche Haltung, wohl auch den gleichen Stolz besessen hat.

Was ihre mögliche Schulbildung betraf, so lässt sich außer dem üblichen Konfirmandenunterricht nur anführen, daß immerhin 1573 bereits ein Schulmeister in Bramstedt erwähnt wird, dem „6 Schillinge gegewen, alse de forigen gehat hadde“. Doch das war Bramstedt. Von Föhrden-Barl heißt es: „De arme Schulmeister in Förden bekommt eene Mark“  –  doch das war 1647.

Als junges Mädchen kam Wiebeke nach Bramstedt „in die Lehre“, bevor sie selbst auf einem eigenen Hof, auf den sie einheiraten sollte, die Wirtschaft hätte übernehmen sollen. Und hier in Bramstedt, so erzählt die Sage, entdeckte Christian IV. sie. der gerade mit seinem Gefolge vorüberritt. Sie soll an der Au Brücke mit Wäschewaschen beschäftigt gewesen sein. (Und tatsächlich führte auch der Hauptweg in Bramstedt über die Brücke der Bramau.)

Dem König bot sich ein liebliches Bild: Der Pfarrhof mit der Kirche in Grün gebettet zur Seite, davor der silbern glitzernde Lauf der Au und ein hübsches junges Mädchen auf der Waschbrücke direkt vor seiner Nase. Er redete sie an und war angetan von ihrer freien Erwiderung. Der König fragte sie, oh sie in die Dienste seiner Frau, Kirstine Munk, Gräfin von Schleswig und Holstein, treten, bei der Aufzucht der Kinder helfen und seiner Frau zur Hand gehen wolle.

So kam Wiebeke Kruse als junges Mädchen an den königlichen Hof. (Hier findet sich die Art des Königs wieder, Menschen, deren charakterliche oder geistige Gaben ihm aufgefallen waren, selbst in seinen Umkreis zu ziehen und zu fördern, ohne dabei nur auf hohe Geburt und Adelsprivilegien zu achten.)

Christian IV, seine Frau Kirsten Munk und die zahlreichen kleineren Kinder samt Gefolge waren recht häufig auf Reisen. Man hielt sich in Kopenhagen auf Rosenborg und auf Kopenhagen Slot (Christiansborg), auf Cronborg, Fredericksborg, aber auch auf Steinburg, dem Amtssitz und alten Schloß und später in der Residenz Glückstadt mit seinem Schloß Glücksburg auf.

Um alle späteren Verwicklungen und den auflodernden Haß in der königlichen Familie besser verstehen zu können, müssen wir ein wenig abschweifen und von Kirsten Munk erzählen. Sie hatte sehr jung, mit siebzehn Jahren, und eigentlich gegen ihren Willen, den 38jährigen König geheiratet (nach dem Tode der Königin Anna Catharina von Brandenburg, 1612) und war als dänisches Fräulein zur Gräfin von Schleswig und Holstein erhoben worden. Der König war bezaubert von ihrer Jugend und ihrem Liebreiz, sie war „smuck og rank med lyst Haar“, und er liebte sie sehr. Doch diese Liebe blieb wohl mehr einseitig und war recht lau von Frau Kirstens Seite. Sie genoß allerdings den hohen Rang und die Stellung neben dem König sehr.

Sie gebar dem König zehn oder elf Kinder, einige starben jung. Diese seine Kinder liebte und umsorgte der König sehr, Frau Kirsten aber kümmerte sich herzlich wenig um sie – oder nur im Unguten.

In diese Umgebung stellte Christian IV. die junge Wiebeke Kruse als deutsches Dienstmädchen ein. Sie muß ihre Aufgaben auffällig gut bewältigt haben, Frau Kirsten selbst stellte ihr zu Anfang der Jahre am Hofe ein gutes Zeugnis aus. Und später einmal zankte der König seine Frau aus, sie hatte sich nicht um die Kinder gekümmert, die weggelaufen waren. Nur Wiebeke habe er gesehen, wie sie die verregneten Kinder aus dem zugigen Torgang herausgeholt und wieder beruhigt hätte.

Eine schicksalhafte Wende bahnte sich ab 1626 an. Christian IV. wurde als Oberster des Niedersächsischen Kreises, der Protestanten, 1626 im Kampf gegen die katholische Liga und den Kaiser von Tilly schwer geschlagen bei Lutter am Barenberge. Und 1627 drangen gar die Truppen Wallensteins bis nach Jütland vor. Wir kennen die verheerenden Verwüstungen, die die Kaiserlichen in der Marsch anrichteten, die Zerstörung der Breitenburg und die Vernichtung bis auf den letzten Soldaten, die Aushungerung der Festung Krempe, aber auch das Standhalten der jungen Festung Glückstadt. Zu dieser glücklosen Feldherrschaft in immer wieder unternommenen Feldzügen und Truppenverlagerungen, in deren Strapazen der König wie der einfachste Soldat sich aufrieb, fügte sich auch noch die Sorge um seine Kinder und Kirsten Munk, um eine mögliche Bedrohung der Familie durch den immer weiter fortschreitenden Krieg.

Zur gleichen Zeit aber führte Frau Kirsten ein heileres, unbeschwertes Leben ohne bindende Verpflichtungen (denn die kleineren Kinder befanden sich für längere Zeit unter Frau Ellen Marswins, ihrer Mutter, Obhut, Waldemar Christian und die größeren Töchter hatte Frau Kirsten nach Friesland fortgegeben; das einzige Kind, das bei ihr war, verstarb 1628.)

Und Frau Kirsten, jung, anziehend und lebensfreudig, verwickelte sich gar in eine Liebesaffäre mit dem jungen Wild- und Rheingrafen Otto zu Solms, einem Offizier in dänischen Diensten, derart gegen alle Sitte und Anstand, daß sie in aller Munde geriet.

1628 z. B. hatte man die einjährige Tochter Marie Kathrine zu beerdigen, doch Kirstine Munk war nicht bei der Beerdigung anwesend. Sie wurde aber gesehen, wie sie zur selben Zeit zusammen mit dem Rheingrafen in einer Kutsche vom Schloß zu einer Spazierfahrt aufbrach und erst am späten Abend zurückkehrte. In dieser Art gibt es zahlreiche Stückchen ihres lauen oder lieblosen Verhaltens gegen die Kinder und den König.

Drei Ereignisse möchte ich zitieren:

In einem seiner unzähligen (Briefe, Berichte, Klarstellungen und Memoranden zu seiner späteren Scheidung von Kirstine Munk schreibt Christian IV:

„Eines Tages, als ich nach unten zu den Kindern gehen wollte, um zu sehen, was sie anfingen, da fand ich Frau Kirsten zwischen ihnen, die ihnen lustig eins draufgab. (Anm. d. Verf.:  ‚Hiebe verteilte‘). Worüber es fast dazu kam, daß ich die Hofmeisterin Anne Lykke vom Hof entfernt hatte, da sie Fru Kirsten gestattete, derart mit den Kindern umzugehen. “ (Anm.: Anne Lykke war dem König besonders empfohlen worden, weil man von ihr annahm, sie könnte das garstige Temperament seiner Frau bändigen.) „Deshalb zog ich nun die Wache von meinem Gemach ab und postierte sie vor die Tür des Fräuleins. Und mein Bett ließ ich umstellen in eine Kammer näher an die Stube der Kinder heran. Als Fru Kirsten sah, daß es darum gemacht war, daß sie nicht herrschen dürfte, wie sie wollte, da wurde sie fuchsteufelswild… „

Und eine andere Bemerkung, die die beklagenswerte Entwicklung bezeichnet, die Affäre zwischen seiner Frau und dem Rheingrafen, für Frau Ellen Marswin das leichtfertige Betragen ihrer Tochter:

Frau Ellen (Anm.: die Mutter Fru Kirstens) weinte deswegen Tag und Nacht…“

Als dritte Episode:

„Da nun Fru Kirsten ein Kind bekommen sollte (Anm.: es war das letzte in dieser Ehe 1629), da wollte die Mutter nicht zu ihr. (Anm.: sie war sonst immer an das Wochenbett der Tochter geeilt.), Und da nun das Kind an einem Tag kam, da sandte Fru Kirsten einen der Edelknaben zu mir und teilte mir mit, daß sie an Egidii („1. Sept.“) eine junge Tochter geboren hätte,  ,huilkiid mig kam heel spansk for‘, welches mir sehr spanisch vorkam, wenn ich an den Abschied dachte, den Fru Kirsten von mir genommen hatte, damals auf Fredericksborg. „

Und der König zieht alles, was ihm zu Ohren gekommen war, in Betracht, dazu diesen Vorfall in Fredericksborg, rechnet nach und findet seine bösen Vermutungen bestätigt.

„Während dieser Tage kam sie eines Morgens vor die Tür vom Rondell in Kopenhagen und klopfte an. Ich fragte, was sie wolle. Sie wollte gern nach Fredericksborg, um dort zu beichten. Ich sagte, ja, fahr nur dahin, wenn du willst. Als das gesagt war, zog sie aus ihrem Muff eine kleine goldene Dose mit etwas weißem Pulver, das sie mir schenkte. Sie sagte: Wenn E. M. dieses Pulver nimmt, würde E. M. sich sehr wohl fühlen. Worauf ich sagte: Was ist das für Zeug? Sie sagte: Ich habe es von Dr. Peter Pay, er sagt, es sei gut für E. M. Ich meinte: Der Kumpan soll sagen, was er will; weshalb sollte ich es nehmen? Mir fehlt doch gottlob nichts. Und ich stellte die Dose auf meinen Tisch und sagte: Soll es dort bleiben, bis ich es bei Gelegenheit brauche. Sie ging und stieg in ihren Wagen.

Als sie die Schloßbrücke passiert halte, ließ ich Dr. Peter Pay holen, zeigte ihm das Pulver und fragte, ob er es kenne. Er: Ja, Fru Kirsten hat es von mir bekommen. Als ich wissen wollte, wozu, antwortete er: Für die kleinen Bläschen, die Fru Kirsten um Kinn und Mund zu haben pflegt. Ich: Aber kann man es auch schlucken (inwendig brauchen)? Da trat er zurück und sagte: Gott bewahre uns, Gnädiger König, es ist Gift. „

Ein anderer Vorfall unter all diesen unseligen Ereignissen führt Wiebeke Kruse namentlich ein; und dieser Vorfall hat auch dem bösen und bekannten Gerücht Nahrung gegeben, Wiebeke Kruse hätte Fru Kirsten aus ihrer Stellung „verdrängt“: Der König mußte entdecken, daß Fru Kirsten von den Kleinodien und Kostbarkeiten, die er ihr für schlimme Zeiten, die bei seiner Niederlage oder seinem Tod hätten eintreten können, als Sicherung in Verwahrung gegeben hatte, daß sie von diesen Kleinodien einen kostbaren großen Rubin und einen besonders herrlichen Spitzenkragen an den Rheingrafen verschenkt hatte. Sie aber bezichtigte die deutschen Mädchen des Diebstahls. Frau Kirsten schalt sie dann auch noch Lügnerinnen, als einige zu erklären suchten, daß sie selbst die Dinge fortgegeben habe. Kirstine Munk jagte sie alle miteinander fort, Sylle und die kleine Anne, Wiebeke und Jungfer Marie. … Nun aber fragte Frau Ellen Marswin den König, ob sie Wiebeke mit sich auf ihre Güter nehmen dürfe. So kam Wiebeke in eine weit freundlichere Umgebung als zuvor, denn „sie kamen gut miteinander aus“.

Kirstine Munk versuchte inzwischen, mit dem Rheingrafen und zusammengerafften Kostbarkeiten nach Schweden zu fliehen. Daraus wurde nichts. Der König aber trennte sich auf immer von ihr und verbannte sie zeitweilig auf ihre Güter Boiler und Rosenvold, weil sie ihn auf jede erdenkliche Art bloßgestellt und lächerlich gemacht hatte in aller Welt und bei der Verwandtschaft.

So hatten mehrere Dinge den König tief getroffen und verletzt: Kr war in seinem Ansehen als Feldherr und König tief getroffen und erniedrigt worden, er war in seinem Ansehen als Ehemann und König tief getroffen und erniedrigt worden, und sein Land und Volk litten schwer unter den Folgen des Krieges. Alle diese unseligen Ereignisse trafen Christian IV zugleich als Person wie auch als König, denn nach seiner Auffassung waren Person und Königtum nicht voneinander zu trennen; der König hatte alle seine persönlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten in den Dienst des Reiches zu stellen, sie zur Erhöhung der Macht und des Glanzes seines Königtums einzusetzen.

Ist es ein Wunder, daß der König in dieser überaus niederdrückenden Zeit, als er zufällig Wiebeke wieder begegnet, sie dabei über die damaligen Geschehnisse auszufragen versucht und natürliche Liebenswürdigkeit, standhafte Verschwiegenheit und ihr hübsches Aussehen entdeckt, daß er sich zu ihr hingezogen fühlt? Immerhin war sie die einzige, die die Vorgänge ganz genau kannte und sich trotzdem nicht in Spott über ihn ausließ.

So konnte Christian IV. in einer späteren Erklärung überaus schonend und zurückhaltend schreiben:‘

„Als ich mit der Armee nach 0 in Angeln kam, damals, als der Friede mit dem Kaiser geschlossen war, da geriet ich in Freundschaft mit Wiebeke Kruse, auf dem Gut Kjerstrup. (Anm.: Wohin Frau Ellen Marswin ihn eingeladen hatte). Du nun jener Heerzug, über den geredet worden ist, endete, und ich wieder zurück ins Reich wollte, da nahm ich meinen Weg über Fyn und kam so nach Dalum, wo ich Wiebeke Kruse fand.

Da wir uns nun gegenüberstanden und einander ansahen, da fragte Fru Ellen mich, wie Wiebeke mir nun gefiele. Sie war eine sehr ausgesprochen hübsche Person. Auf diese Frage tat ich ihr den rechten Bescheid. Bald darauf kam sie (Ellen Marswin) zu mir und hat darum, daß Wiebeke auf einem ihrer Güter das zu erwartende Kind zur Welt bringen dürfe, worauf ich nichts antworten wollte, aber Wiebeke befahl, sich nach Kopenhagen zu begeben.“

Und so beginnt eine 18jährige, treue Lebensgemeinschaft, die erst durch den Tod des Königs beendet wird.

Gleichzeitig aber beginnen auch die angestrengtesten Bemühungen des „Kirstine-Munk-Clans“ (wobei wieder auffällt, daß Ellen Marswin sich auch hier anders als ihre Tochter verhält), den König zu bewegen, seine geschiedene Frau wieder in ihre Rechte einzusetzen und Wiebeke Kruse fortzujagen. Dies ist ein ganz eigenes Kapitel in loderndem Familienhaß, verbunden mit Machtstreben, der vor fast nichts zurückschreckt, und hier tun sich ganz besonders die verheirateten Munk-Töchter und ihre Ehemänner hervor, Hannibal Sehestedt, Statthalter von Norwegen, und seine Frau Christiane Sophie, weniger Graf Christian Pentz, Gouverneur von Glückstadt, als seine Frau Sophie Elisabeth, allen voran aber Graf Corfitz Ulfeldt, Reichshofmeister und erster Minister.

Bis an sein Lebensende wird dem König von dieser Partei zugesetzt: immerfort versucht er, die Angelegenheit zu bereinigen, denn er liebt seine Töchter, er bleibt aber bei der Scheidung von Kirstine Munk und steht zu Wiebeke Kruse. Unglücklicherweise – denn dadurch beraubt der König selbst uns auch mancher Quelle – gibt er nur allernötigste, kurze Erklärungen über Wiebeke ab, um sie vor dieser Verwandtenmeute zu schützen.

Interessant ist aber noch, daß der König 1635 vor den Bischöfen schriftlich einen freiwilligen Eid ablegt, daß er „mit Wiebeke Kruse keine körperliche Berührung gehabt (habe) inzwischen und in all der Zeit, während sie in Fru Kirstens Diensten war, so wahr ich hoffe, Gnade bei Gott im Himmel zu haben, hier auf Erden in Zeit und in aller Ewigkeit.“

Damit, so meine ich, dürfen wir das kränkende Gerücht. Wiebeke habe Frau Kirsten aus ihrer Stellung durch Intrigen verdrängt, vergessen.

Wiebeke Kruse bleibt beim König. 1630 bringt sie den Sohn Ulrik Christian zur Welt, 1633 die Tochter Elisabeth Sophie. Wiebeke hat lebenslang das Vertrauen des Königs behalten, so berichtet z. B. ein Brief von ihm, er habe sie nach Kopenhagen gesendet, ihm Kleinodien, Goldketten und Dukaten aus der Schatzkammer zu holen. Sie war fast überall mit auf den Schlössern anwesend, auf denen sich der König aufhielt. Ja, sie bekam sogar auf seinem Flaggschiff „Die Heilige Dreifaltigkeit“, das der König sich bauen ließ, eine eigene Kajüte neben der seinen angelegt. Und es ist möglich, daß sie sich bei jener schweren Seeschlacht 1644 auf der „Kolberger Heide“ bei Fehmarn, als dem König von den Splittern einer zerplatzenden Kugel das rechte Auge schwer verletzt wurde, auch auf dem Schiff befand. Zum Andenken an dieses Erlebnis ließ Christian IV. zwei kleine Eisensplitter in Gold fassen und als ein Paar kleiner Ohrringe arbeiten, die er Wiebeke schenkte. (Sie befinden sich heute in einem Schaukasten auf Schloß Rosenborg, in dem auch die brokatene Jacke des Königs aufbewahrt wird, an deren Spitzenkragen auf der rechten Seite ein großes Loch von der Verwundung zeugt.)

Zur Sicherung ihres Daseins, besonders wohl für spätere Zeiten gedacht, erhielt Wiebeke Kruse neben einem mäßigen Jahresgehalt verschiedene Besitztümer.

1633, am 16. November, übereignete der König Wiebeke sein kürzlich erst gekauftes Adeliges (Gut zu Bramstedt, das er zuvor hatte wieder instandsetzen lassen, samt dem Schloß und der Mühle. Die Mühle und das Land, „Mönke Gayen“ genannt, aber schenkte er als unverkäuflichen Besitz an Wiebeke und ihre Leibeserben. Damit hatte der voraussehende König sie wieder in ihrer Heimat heimisch machen wollen.

Am 15. Oktober 1636 erhielt Wiebeke den Hof „paa Hjörnet af Stranden og Naboløs“ in Kopenhagen in der Nähe des Schlosses Christiansborg. (Noch heute finden wir diese Biegung am Wasserlauf und die Ortsbezeichnungen als Straßennamen.) Am 8. Mai 1638 schenkte der König ihr das hier in Glückstadt gelegene Haus, dazu etliche Privilegien.

Am 10. Dezember 1644 schenkte Christian IV Wiebeke Kruse einen „Lyst och Køchenhaftre … j sin lengde och brede med det Lysthuse, biogning, borde och bencke med ald anden tilbehør“, – einen großen Lustgarten und Küchen-Garten, mit Gebäuden und Tischen und Bänken und allem sonstigen Zubehör.

Die beiden Kinder aus der Verbindung mit Wiebeke Kruse umsorgte Christian IV. ebenso liebevoll wie alle seine vorigen Kinder. So finden wir etliche Briefe in dieser Art:

„26. Nov. 1636 an Jørgen Ahlefeldt

Du sollest miir Etzliiche Strümpphe vndt hendsken in hadersleben machen lassen, zue Paar strumpphe fuhr miich vndt zue paar hendsken. Item führe paar Strümpphe fuhr dii kinder von Siihen vndt führ Jahr.

Friderigsburch  den 26 Nouembris Christian „

Oder diesen Brief, der uns unversehens mit einem kleinen kostbaren Geschenk überrascht:

Der skal forferdigis Ett Syngnet till lomfru Eliisabet Soffia gyldenløffue aff den størrelse, som det uar, som siist bleff giiordt y københaffuen. Som skall fattis y guld paa den maner, som ded herhuosføiiende Siignet Er fattiit. „

„Es soll ein Siegel für Jungfrau Elisabeth Sophia Gyldenløve verfertigt werden in der Größe wie jenes war, das kürzlich in Kopenhagen gemacht wurde. Es soll in Gold angefertigt werden auf dieselbe Art, wie das folgende Siegel gemacht ist.“

Am Ende des Briefes finden sich zwei Abdrücke eines kleinen Siegels. Im Wappen ist ein Löwe. Darüber stehen die Buchstaben: W. K. Wiebeke Kruse.

Vieles begründet die Auffassung, daß Christian IV. auch diese beiden Kinder, seine jüngsten, mit der gleichen Sorgfalt erziehen ließ, wie es bei den anderen geschehen war. Der Sohn Ulrik Christian Gyldenløve bekam den Magister Hans Lauritsen als Lehrer, der zuvor bereits Schulmeister der Königstöchter (von 1632 bis 1635) gewesen war. Später kam Ulrik Christian auch auf die Akademie in Sorø, auf der er wie auch seine Halbbrüder und andere Söhne des Adels erzogen wurde. Ein hübsches Zeichen seiner Erziehung finden wir in einem fein geschriebenen Brief, den der Sohn an seinen Vater gerichtet hat.

Der König versuchte, auch diesen beiden Kindern ebenbürtige Ehen zu stiften; so bemühte er sich um die Hand einer besonders wohlhabenden Adelstochter für Ulrik Christian, es war die 15jährige Krysten Lykke. Doch obwohl sie genau im heiratsfähigen Alter war – alle königlichen Töchter hatten, soviel ich weiß, mit etwa 15 Jahren geheiratet – findet dieser Wunsch des Königs vom 9. Dezember 1647 nicht die freudige Zustimmung. Die Eltern des jungen Mädchens erbitten noch etwas Zeit. Aus dieser Hochzeit wurde nichts. Ulrik Christian blieb unverheiratet. (Er entwickelte sich zu einem wilden Burschen und hat 1652 und 1654 die Glückstädter bös geärgert, er habe, wird von ihm berichtet, „gräßlich herumgeswirret und Debauchieret“).

Ulrik Christian Gyldenløve wurde Offizier. Er diente 1648 im spanischen Heer in Flandern unter Turenne und Condé. 1650 wurde er Oberst und 1652 ernannte ihn Philipp IV. zum Generalmajor. Von Friedrich III. aber wurde dieser tüchtige Offizier wieder in dänische Dienste gerufen, als die Bedrohung des Reiches durch Schweden heraufzog. 1654 wurde Ulrik Christian zum dänischen Generalmajor ernannt. Die feindselige Haltung Schwedens brachte ihn in vorderste Stellung, er hatte die Vorbereitungen für die Rüstung gegen Schweden zu treffen und die Verteidigung von Seeland zu leiten. Während des Krieges mit Schweden zeichnete er sich als tapferer und verwegener Heerführer aus. Nach der tödlichen Verwundung von Marschall Anders Bille bekam Ulrik Christian Gyldenløve Ordre, Fünens Verteidigung zu leiten – der Schwede war auf einem rasenden Vormarsch durch Dänemark begriffen.

Die außerordentlichen Anstrengungen mit dem Sammeln der aufgelösten Heeresabteilungen, der Bildung eines Landsturmes und mit der Anlage von Verteidigungswerken überforderten seine Kräfte; kurz nachdem Carl Gustav von Schweden über das Eis nach Fünen gelangt war, mußte Ulrik Christian das Kommando abgeben und sich krank melden. Bereits im August 1658 aber beteiligte sich Ulrik Christian Gyldenløve wieder mit großer Energie und Entschlossenheit an der Verteidigung Kopenhagens. Der Ausfall am Amager Tor, bei dem Carl Gustav fast sein Leben hatte lassen müssen, geschah unter seiner Leitung und war seine letzte Waffentat. Die alte Fiebererkrankung brach wieder aus, und am 11. Dezember 1658 starb er unter der heftigen Belagerung Kopenhagens durch die Schweden. Während der ganzen Belagerungszeit blieb sein Sarg unbeerdigt; der König, Friedrich III., hatte sich geschworen, ihn erst in dem Augenblick beisetzen zu lassen, da seine Hauptstadt und sein Reich frei wären von der feindlichen Umzingelung. Die Teilnahme, die die Kopenhagener bei seiner Beisetzung ihm so außerordentlich bewiesen, war die Teilnahme am viel zu frühen Tod eines jungen, hoffnungsvollen, tapferen Königssohnes, der in so manchem dem von seinem Volk verehrten Vater Christian IV. glich. In den wenigen Jahren, die er seinem Vaterlande diente, hatte er alles in seinen Kräften Stehende getan, um das Land gegen die eingedrungenen Schweden zu verteidigen. In der Frauenkirche zu Kopenhagen wurde er mit großem Gepränge begraben. Friedlich III. selbst hatte die Begräbniszeremonien aufgestellt.

Seine Schwester Elisabeth Sophie Gyldenløve hatte der König dem berühmten Claus von Ahlefeldt auf Klein Nordsee und Schierensee versprochen, Eine vorausgeschickte Mitgift von 44 000 Talern hatte jener bereits vor der Hochzeit erhalten. Auch sonst konnte diese jüngste Tochter des Königs wohlausgestattet in die Ehe treten.

Doch 1648 trifft die Kinder und mehr noch Wiebeke Kruse das Schwerste: Christian IV. stirbt am 28. Februar nach monatelangem Dahinsiechen.

Völlig allen Schutzes beraubt, sind sie nun dem lodernden Haß und der Verfolgung der Stiefgeschwister und -kinder ausgeliefert. Ulrik Christian war in der entscheidenden Zeit viel zu weit entfernt, um Wiebeke aus dieser lautlosen, gefährlichen Bedrohtheit helfen zu können.

Sofort, in der Minute seines Todes, verjagen die Machthungrigen, Reichshofmeister Graf Corfitz Ulfeldt und Leonora Christina, seine Frau, Wiebeke vom Totenbett des Königs und aus dem Schloß Rosenborg, setzen sie und ihre Tochter in einer eilig in Kopenhagen gemieteten Wohnung fest und beschlagnahmen alles, was ihnen an Besitz gehörte, versiegeln es und haben es nie wieder herausgegeben.

Wiebeke Kruse war zur Zeit des Sterbens von Christian IV. selbst bettlägerig und geschwächt. Nun wird sie wochenlang belästigt von Boten, die bei ihrer Dienerschaft nachfragen sollen, ob sie endlich gestorben sei. Diese grausame, ausweglose Lage hat gewiß zu ihrem Tode beigetragen. Niemand war da, der ihr entscheidend hätte helfen können, denn selbst Friedrich, Prinz und Erzbischof von Bremen, der in der Thronfolge der nächste war, hatte die größten Schwierigkeiten mit dem Grafenpaar Corfitz Ulfeldt – Eleonore Christina war adelsstolz und schön und klug, ihr Mann politisch sehr gewandt und machthungrig – sie rechneten sich selbst große Chancen aus, den Thron erringen zu können und säumten nicht, alle politischen Hebel in Bewegung zu setzen, außerdem hatte sie nie die Zurücksetzung ihrer Mutter, Kirsten Munk, vergessen.

Wiebeke starb zwei Monate nach dem König am 28. April 1648. Etwa 38 Jahre mag sie alt geworden sein. Doch selbst ihr Tod ließ die Stiefkinder ihren Haß nicht vergessen. Auf Anweisung des Reichshofmeisters Corfitz Ulfeldt sollte mit ihrem Leichnam „ein Spektakel vollführt werden“; die Leute liefen bereits auf der Straße zusammen. Doch glücklicherweise kam Friedrich, der spätere König, dazwischen und verhütete Schlimmeres.

Bös genug aber ging es danach noch zu: Der Leichnam Wiebekes wurde „auf einem verächtlichen Wagen hinausgebracht, auf einem Wagen, der von einem weißen und einem roten Pferde gezogen wurde“ (so hatte Kirsten Munk, in ihrer Eile, vom König fortzukommen, Schloß Fredericksborg verlassen, mit dem Gespann des Fischmeisters, einem roten und einem weißen Pferd, „armselig und unedel“). „Rakkervis“, heißt es, wurde Wiebeke begraben – so wie wir das Wort noch in „ihr Schelmen und Racker“ kennen, obwohl es heute nicht mehr das ursprüngliche „ihr Verbrecher“ beinhaltet: also wie ein Verbrecher wurde Wiebeke verscharrt. Der damalige Bischof von Fünen, Laurits Jacobsen Hindsholm, schrieb dazu in seinem Tagebuch. „Den 6. Maji om Natten urd 12 bleff wiwirkes liig udfört og begraffent den nyen Kirke uden vör noord port“.

Allenthalben wurde über diesen Schimpf und Tort, den die Stiefkinder der wehrlosen Wiebeke angetan hatten, mit Mißfallen und Abscheu geredet. Der schwedische Gesandte in Kopenhagen, Magnus Durel, schreibt, sie wurde „bey der nacht sehr schimpflich begraben, so daß nun von den meisten mitt grosser Commiseration (großem Mitgefühl) davon geredet wirdt. Ihre Tochter lieget wegen solchen Schimpfs todtlich krank“.

So war Wiebeke Kruse bei Nacht um Glockenschlag zwölf ohne Pastor und Predigt und ohne Lied und Glockenläuten, wie ein Verbrecher, auf dem damaligen Armenfriedhof vor dem Nordertor begraben worden, eine Frau, die ohne ihr Zutun in die Mühlen der Machtgier geraten war und nach dem Tode des Königs keine Möglichkeit hatte, dem Haß der Stiefkinder zu entgehen, denn ihre heimatlichen, deutschen Besitzungen waren weit und unter diesen Verhältnissen unerreichbar. Sie hatte ja immerhin sich nicht zur eigenen Sicherheit aus der wohlbekannten Gefahr gebracht; sie war bis in den Tod an des Königs Seite gebliehen und hatte ihm in seinem langen Sterben beigestanden.

Hier nun offenbart sich auch für uns, warum es so unendlich mühsam ist. auch nur eines Stückchens des Andenkens an Wiebeke Kruse habhaft zu weiden: Die versiegelten Besitztümer von Frau Wiebeke sind nie wieder zum Vorschein gekommen. Schriftliche Dokumente werden vernichtet worden sein und zerstört: die Kostbarkeiten werden sich die Stiefkinder geteilt haben. Wiebekes Sohn aber sorgte nach seiner Rückkehr aus Flandern dank, daß 1652 der Sarg vom Armen-Friedhof vor Kopenhagens Nordertor überführt wurde auf seinen Besitz auf Fünen, wo Wiebeke ihre letzte Ruhe fand.

Ein wenig mehr noch ist von den Kindern zu berichten:

Elisabeth Sophie Gyldenløve heiratete noch im Todesjahr ihrer Eltern, am 18. Juni 1648 Claus von Ahlefeldt auf Klein Nordsee und Schierensee, den späteren Feldmarschall, mit dem sie seit 1643 verlobt gewesen war. Am 20. Januar 1654 ist sie gestorben und wurde, wie später, 1674, ihr Gemahl, in der Nicolaikirche zu Kiel begraben. Detlev von Ahlefeldt vertrat den König bei ihrem prachtvollen Leichenbegräbnis.

Das adelige Gut mit dem Schloß in Bramstedt ging an die Tochter Elisabeth Sophie, ebenso auch die Bramstedter Mühle und ein Gebiet des Landes, „Mönke Gayen“ genannt.

Elisabeth Sophie hatte eine Tochter, Christine, geboren 1650, die dreimal heiratete: Baron Claus v. Örtzen, nach der Scheidung den Grafen Kielmannsegg. nach dieser Scheidung den Baron v. Dieden. Sie hatte schon in ihrer Kindheit Ulriksholm, den Besitz Ulrik Christian Gyldenløves, geerbt. Die Enkelin Wiebeke Kruses hat längere Zeit in Bramstedt und von ihren Besitztümern gelebt. Ihre Tochter Charlotte Friedericke heiratete Thomas I. Graf v. Schmiedegg.

Die Grafen Schmiedegg hatten bis in das vergangene Jahrhundert die erblichen Besitztümer Wiebekes in Bramstedt inne. Die heute noch lebenden Mitglieder des Geschlechtes der Schmiedeggs verfolgen die Spuren von Wiebeke Kruse mit regem Interesse.

Ulrik Christian erhielt das Glückstädter Haus. Doch fiel es nach seinem frühen Tode an die Krone zurück. Es muß bis 1864 in dänischem Besitz gewesen sein und ist von Beamten bewohnt worden. 1867 diente es als Kaserne. Doch am Ende des Jahres geriet das Haus in Brand und wurde völlig zerstört. Nur der barocke Treppenturm ist uns erhalten geblieben. Detlefsen, der das Maus noch gekannt hatte, beschrieb es folgendermaßen:

„Es hatte zwei hohe Stockwerke im Stil des Rathauses. Die Sandsteineinfassung der Fenster war von niedrigen Giebeln überragt, in denen je ein Kopf in Hochrelief angebracht war. Ein Gesimse von Sandstein trennte die Geschosse voneinander. „

Nachdem das Haus jahrzehntelang im Besitz des alten Bürgermeisters Brandes und seiner Erben gewesen war, ging es in den Besitz, von Frau Zeischke über, die sich mit großer Aufgeschlossenheit und in guter Zusammenarbeit um die Restaurierung und Erhaltung von Haus und Turm bemüht.

Wir haben das seltene Glück, daß die originale Schenkungsurkunde Christian IV. an Wiebeke Kruse erhalten blieb. Sie befindet sieh im Landesarchiv auf Schloß Gottorf unter der Signatur Urkunden-Abt. B Nr. 314. Diese Urkunde ist auf gelblichem Pergament mit dunkler Tinte geschrieben und reich einfarbig dunkelbraun abgeschmückt.

Ihr Text lautet:

„Wir Christian der Vierdte von Gottes Gnaden zue Dennemarck, Norwegen, der Wenden und Gothen König, Herzogh zu Schleswigh, Hollstein, Stormarn und der Dithmarschen, Greve zu Oldenburg und Delmenhorst thun kundt hiermit gegen menniglich, wesgestalt wir aus besonderen Gnaden, womit wir der Ehrbaren, unserer lieben besonderen Wybeken Craussen bestendiglich zugethan. Ihro und Ihren Erben auf das in unserer Stadt und Vestung Glückstadt auf dem Teiche belegenes Wohnhaus und Gebäude samt allen seinen pertinentien sunderbarer Privilegien, freyheit und Gerechtigkeiten zukommen geruhet. Tuen auch solches hiermit… dieses dergestalt und also, daß selbige mit keinen bürgerlichen Beschwerden, sie mögen Namen haben, wie sie wollen, künftig und itzo soll belegt, sondern gänzlich und allerdings, auch dergestalt, wenn, was Gott verhüte, sich Kriegszeiten inskünftig über kurz oder lang wiederum ereignen sollten, von aller Einquartierung verschont bleiben. Wollen auch, daß darüber unser Gouverneur, jitzo oder künftig allda sein wird, wie auch Bürgermeister und Ratsherren sich halten und im Geringsten kein Widriges geschehen lassen sollen, gestalt nach uns unsere königlichen und fürstlichen Nachfolger an der Regierung, solange gemeldetes Haus von Ehrbarn Wybeken Craussen und ihren Erben an niemand anders verkauft oder veralienieret wird, bis zu ewigen Zeiten bei dieser unserer Königlichen Immunität und erstbemelter sonderlicher durchlauchtigster Freyheiit immerfort ohngemindert und ungeschmälert lassen, sie vielmehr handhaben und schützen, vermehren sonder aller Gefährdung.
Urkundlich mit unserem Königlichen Handzeichen und Secret gegeben auf
Hauß Flensburgh. denn 8. May Anno I638  Christian“

Knüpfen wir noch einige Gedanken an dieses Glückstädter Haus Wiebeke Kruses.

Wie Detlefsen es uns beschrieben hat, muß es nach dem Muster der adeligen Wohnhäuser jener Zeit um 1638, der Stadtpalais, gebaut gewesen sein.

Wiebeke Kruses hohes, dreigeschossiges Traufenhaus mit dem Treppenturm war auch in Glückstadt nicht das einzige dieser Art. Ähnliche Häuser mit angesetztem Treppenturm waren das Palais des Grafen Pentz am Fleth und wahrscheinlich das Palais des Grafen Rantzau am Rethövel. Und in Dänemark sind noch heute Treppentürme an Christian IV. Bauten zu sehen, z. B. am Schloß Rosenborg in Kopenhagen, am Schloß Fredericksborg in Hillerad und am Schloß Cronborg.

Auch die Art der beschriebenen Giebelverzierungen an den Fenstern lässt sich häufig finden: In Glückstadt weist noch heute das Rathaus solche Giebelformen auf; und möglicherweise waren die Fenstergiebel des Glückstädter Schlosses, der Glücksburg (1630-1711), das wahrscheinlich zur gleichen Zeit errichtet wurde wie Wiebckes Haus, dem ihren sehr ähnlich. Auf jeden Fall zeigen sich in Kopenhagen das Schloß Rosenborg mit verwandtem Fensterschmuck, wie auch einige Gebäude in der Stadt selbst. Eine Giebelverzierung mit dem Hochrelief eines Kopfes ist noch an einem Hause am Jungfernstieg zu entdecken.

Über den Turm wäre einiges mehr zu sagen: Es ist ein achteckiger Treppenturm, der zweierlei Bedeutung haben muß, nämlich die Treppe zu den einzelnen Stockwerken des Hauses zu beherbergen und zugleich Ausguck und Wachturm in Kriegszeiten zu sein. Das Haus hatte eine breite Einfahrt vom Jungfernstieg aus auf den Hof zur Rückseite an den Treppenturm heran. (Heute ist diese Einfahrt zugebaut.) Es war ja in damaliger Zeit üblich, mit der Kutsche direkt vorzufahren.

Der Turm ist aus roten und bläulichen Ziegeln aufgemauert und mit regelmäßig bei jedem Stockwerk angesetzten, umlaufenden gelben Ziegelbändern geschmückt.

Kleine Fenster geben Lieht in diesen Treppenturm, und im obersten Stock, direkt unter der Turmhaube, befindet sieh die sogenannte Wachstube, die Fensteröffnungen nach allen Seiten hat und einen freien Ausblick überallhin, über die Elbe, über die Stadt und den Hafen gewährt.

Der gesamte Turm ist 30,44 m hoch, davon mißt der gemauerte Teil I 19,36 m. Die Turmhaube ist eigentümlich und besonders hübsch: Sie ist im barocken Stil doppelt geschwungen und ausgebuckelt und war zuvor mit blauem Schiefer gedeckt. Nach alten Vorlagen aber soll sie früher mit Kupfer eingedeckt gewesen sein. In diesem Jahr nun wird der Turmhelm wieder mit Kupier belegt. Er ist 6,93 m hoch.

Der Turmhelm verjüngt sich in eine Spitze, mit einer 4,15 m hohen Wetterfahne aus Kupfer. Sie ist geschmückt mit dem Reichsapfel und der königlichen Krone. Über der königlichen Krone erhebt sich als Wetterfahne der Reiter auf einem feurig daherspringenden Pferd. Durch eine Eigentümlichkeit weist sich der Reiter aus: der große, breitkrempige Hut ist ein eindeutig königliches Zeichen. Niemanden anders als Christian IV. soll dieser Reiter darstellen.

Kann nun der kupferne König dort hoch oben über den Dächern der Stadt uns auch die Lebensgeschichte Wiebekes nicht offenbaren, so hält er doch das Andenken an sie über die Zeiten hin lebendig, wie er uns auch an den königlichen Gründer Glückstadts erinnert, an jenen kraftvollen, zielstrebigen und baufreudigen dänischen König Christian IV, I Herzog zu Schleswig und I Ullstein und Grafen von Oldenburg und Delmenhorst, der in so vielem unserer Heimat verbunden war, aus dessen eigenster Idee Glückstadt geboren wurde und aufblühte unter seinem steten Bemühen, der sich nicht nur als König und Regent an das Land band, sondern auch als Mensch, da er die Bauerntochter Wiebeke Kruse zu seiner Lebensgefährtin machte.

(Der Abdruck der Arbeit aus dem Jahrbuch des Heimat Vereins des Kreises Steinburg 1982 erfolgt mit Genehmigung der Autorin.)

Quellenangabe (auszugsweise):
„Kong Christian den Fjerdes Egenhaendige Breve“, Bd. 1 – 8, Hrsg.: C. F. Bricka und J. A. Fridericia u. a. Kjobenhavn: Forlagt af Selskabet for Udgivelse af Kilder til Dansk Historie. 1969.
Hans Riedinger: „Die Bevölkerung des urholsatischen Kirchspiels Bramstedt vom Beginn des 30-jährigen Krieges bis zum Ende des Nordischen Krieges“. (Dissertation). 1937
Dörte Rieken: „Das Amt Segeberg“. Dissertation 1963.
Hans-Jochen Leupelt: „Die Verfassung und Verwaltung des Amtes und des Fleckens Bramstedt“. Dissertation.

 

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Lorenzen-Schmidt: Wiebke Kruse – eine holsteinische Bauerntochter?

Klaus-J. Lorenzen-Schmidt

Wiebke Kruse – eine holsteinische Bauerntochter?

Vortrag vor der Detlefsen-Gesellschaft am 2. Februar 2000

Im „Steinburger Jahrbuch“ 1982 veröffentlichte die Glückstädter Literatin Waltrud Bruhn einen kleinen Aufsatz unter dem Titel: „Wiebeke Kruse. Beitrag zur Restaurierung des ,Wiebke-Kruse-Turmes‘ in Glückstadt 1978/79″ (S. 178-194). Die Autorin, die aus ihrer Sympathie für Wiebke Kruse keinen Hehl macht und quasi 330 Jahre nach dem Tod dieser Frau ihr ein Denkmal setzen will, schreibt: „Es ist Wiebeke Kruse nicht an der Wiege gesungen worden, wie merkwürdig und glanzvoll, außergewöhnlich und beschwerlich ihr Leben verlaufen sollte, dieser kleinen Wiebeke, die in Föhrden-Barl bei Bramstedt geboren worden war als Tochter des Vollhufners und freien Bauern Hans Kruse. Ihr Geburtsdatum ließ sich bis heute nicht ausmachen, denn das Kirchspiel Bramstedt hatte auch unter den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zu leiden gehabt; doch wollen wir uns das Geburtsdatum etwa um 1610 denken. Wiebeke hatte noch eine Schwester und zwei Brüder. Wir können uns wohl vorstellen, in welch ruhiger Beschaulichkeit und althergebrachter Ordnung ihre Kindheit in der bäuerlichen Umgebung verlief. Noch war es jenes Föhrden-Barl vor dem Dreißigjährigen Kriege. Wenn wir nun aber erfahren möchten, wie das Leben Wiebekes lief, wie sie es bewältigt haben mag, welche Persönlichkeit sie gewesen ist, ja, vielleicht nur, wie sie ausgesehen hat, so geraten wir in das Thema einer .Personenwüstung‘.“ (S. 178 f.) In der Tat: Die historische Person Wiebke Kruse, die 1629 Geliebte des dänischen Königs Christian IV. (geb. 1577, regierte 1588 bis zu seinem Tod 1648) wurde, ist hinsichtlich ihrer Herkunft und ihres Lebensweges vor dem Zusammentreffen mit dem König kaum zu fassen. Umso vorsichtiger muss man angesichts des Fehlens historischer Zeugnisse mit der Rekonstruktion einer Biographie verfahren. Keinesfalls aber darf man eine romanhafte Erzählung zur Grundlage ihrer Rekonstruktion machen. Genau das aber hat Waltrud Bruhn getan, indem sie sich kritiklos auf ein 1866 in Hamburg erschienenes Werk von Johanna Mestorf stützte; es trägt den Titel „Wiebeke Kruse, eine holsteinische Bauerntochter. Ein Blatt aus der Zeit Christians IV“ Johanna Mestorf ist zweifellos eine bedeutende Frau in der schleswigholsteinischen Geschichte. Geboren am 17. April 1829 in Bramstedt als Tochter eines dort praktizierenden, jedoch bald nach ihrer Geburt gestorbenen ehemaligen Regimentschirurgen und Arztes, besuchte sie die höhere Mädchenschule in Itzehoe. Nach der Konfirmation wurde sie nach Schweden geschickt, von wo sie als Hausdame der italienischen Gräfin Faletti di Villa Faletto nach Italien reiste. 1858/9 kehrte sie zu ihrer inzwischen nach Hamburg gezogenen Familie zurück und übte verschiedene Tätigkeiten aus, u.a. bei dem lithographischen Institut von C. Adler in Hamburg. Sie legte verschiedene Veröffentlichungen vor, deren fünfte die genannte romanhafte Erzählung war. Ansonsten beschäftigte sie sich mit der Übersetzung von Werken zur nordischen Ur- und Frühgeschichte ins Deutsche und gewann unter anderem dadurch tiefe Kenntnisse auf diesem Gebiet. Deshalb wurde sie 1873 als Kustodin des Museums für Vaterländische Alterthümer in Kiel angestellt. Sie war die erste Professorin in Preußen und starb, hochgeachtet und -geehrt, am 20. Juli 1909 in Kiel.

Die Wiebke-Kruse-Erzählung hatte sie im Alter von 37 Jahren veröffentlicht, und die Bearbeitung zeigt nicht nur in reichem Maße zeittypisches Kolorit, sondern auch die spezifischen Befindlichkeiten einer Frau des 19. Jahrhunderts, der eine weibliche Karriere als Ehefrau und Mutter versagt geblieben war. In ihr wird Wiebke Kruse tatsächlich als Tochter des Förden-Barler Hufners Hans Kruse gezeichnet, die eine unmädchenhafte Jugend verbringt, weil sie Jungenspiele mehr interessieren als geschlechtsspezifische Freizeitvergnügungen: „’Ist das ein Sonntagsvergnügen für ein sittiges Mädchen,‘ brummte der Vater weiter, ’sitzt sie hier und vertreibt die Zeit mit Knabenspielen, statt mit den anderen Mädchen ins Holz zu gehen und Maiblumen zu pflücken. Mädchen, Mädchen, wenn der liebe Gott Dich plötzlich abriefe, da könnten wir es erleben, dass statt der Mädchen mit den Blumensträußen Dir die Buben das Geleite gäben, und statt des Kranzes einen Peitschenstiel auf Deinen Sarg legten.'“ (S. 8) Von einer „Taterschen“ (Zigeunerin) war den Eltern geweissagt worden: „’… sie wird einen alten Wittwer heirathen und durch ihn zu Gelde kommen; aber weite, lange Wege muss sie gehen, bis es so weit kommt'“ (S. 10). Diese Zigeunerin wird der „running gag“ der Erzählung, denn immer wieder greift sie im weiteren Verlauf der Erzählung mit Vorhersagen und geheimnisvollen Tips ein, um Wiebke Kruse zu helfen. Belohnt wird sie schließlich mit einer kleinen Kate, die ihr die zu Vermögen gekommene Wiebke schenkt. Das erste Zusammentreffen zwischen Wiebke Kruse und König Christian IV. wird von Johanna Mestorf wie folgt geschildert: Der König reitet mit seinem Gefolge („der damalige Besitzer des adeligen Gutes Bramstedt, Arndt Stedingk; ihnen folgte der Stallmeister des Königs Wenzel Rothkirch, und zwei holsteinische Edelleute, Sigmund Pogwisch und Wolf v. Buchwald; dahinter das Gefolge, die Dienerschaft und die Leibwache“ – S. 22) von Hitzhusen her nach Bramstedt ein. Er erblickt Wiebke bei durchaus weiblicher Beschäftigung: „Auf einer Waschbrücke, welche am Vordergrunde von einem Garten ins Wasser hinaus gelegt war, stand in der kleidsamen Tracht des Landes, mit hochgeschürztem Rocke, ein junges Mädchen und spülte und klopfte das sauber gewaschene Leinenzeug. Als sie die vornehme Reiterschar über die Brücke ziehen sah, hielt sie verwundert inne und schaute, den Körper leicht nach vorn gebeugt, das Waschholz in der erhobenen Rechten, neugierig auf die Fremden, ohne zu ahnen, dass sie selbst einen malerischen Ruhepunkt für die Augen der vornehmen Herren bildete.“ (S. 22 f.) – Johanna Mestorf hat hier mit einer Fußnote „historisch“ angemerkt, ohne indessen anzugeben, worauf diese Einschätzung beruht. Offensichtlich soll das Wort „historisch“ bedeuten, dass es sich um ein quellenmäßig abgesichertes historisches Ereignis handelt; allein bleibt diese Bemerkung ohne weiteren Nachweis und ohne jede Möglichkeit der Überprüfung eine schiere Behauptung – sie ist nicht verifizierbar. – Es kommt zu einem Gespräch zwischen dem König und der Bauerntochter, in deren Verlauf sich der Landesherr entscheidet, das Mädchen in den Dienst seiner morganatischen Gattin Kirsten (Kirstine, Christine) Munk (1598-1658) zu nehmen. Wenig später kommt es zu einem Gespräch zwischen den Eheleuten über die Neueinstellung; der König fragt: „’Und mit meiner Holsteinerin bist Du zufrieden?‘ ,Das ist ein merkwürdiges Mädchen,‘ rief Christine lebhaft. ,5ie hat zwar bäuerische Sitten und eine bäuerische Sprache, aber ein so scharfer Verstand, ein so feines Schicklichkeitsgefühl und eine so strenge Moralität sind mir selten vorgekommen. Auch mit den Kindern weiß sie umzugehen. Die kleinen wollen sich bei niemandem anders gedulden, selbst die heftige, herrschsüchtige Anna Catharina wird unter Wiebeke’s Aufsicht weich wie Wachs, ohne dass ein hartes Wort vonnöthen wäre.‘ ,Es war also ein glücklicher Augenblick, in dem ich sie von der Waschbrücke herbeirufen ließ,‘ meinte der König lächelnd. ,lch will nicht vorschnell in Urtheil und Plänen sein,‘ begann Christine von neuem, ,doch möchte ich, wenn Ew. Gnaden nichts dagegen hat, dies Mädchen in verschiedenen nützlichen Dingen unterweisen lassen und mir eine brauchbare, schätzbare Hofjungfer an ihr erziehen.‘ ,Auf derlei Sachen versteht Ihr Frauen Euch besser, als ich,‘ entgegnete der König. .Meine Einwilligung gebe ich dazu….'“ (S. 37 f.) Wiebke folgt ihrer Dienstherrin und deren Gemahl in den Kaiserlichen Krieg nach Niedersachsen, wo Christian IV. bei Nienburg einen nicht ungefährlichen Sturz mit seinem Pferde tut, von dessen Folgen er sich durch ein Heilmittel der alten Zigeunerin, die schon in Bramstedt zweimal auftauchte, erholen kann. Nach der bitteren Niederlage in Lutter am Barenberg erfolgt der Rückzug über Glückstadt. Der Krieg hielt noch bis zum Frieden von Lübeck 1629 an. 1628 kam es zum Bruch zwischen Christian IV. und Kirsten Munk, weil diese 1627/28 eine Liebschaft mit dem Grafen Otto Ludwig von Solm hatte. Wiebke Kruse war Ende 1628 aus dem Dienst von Kirsten Munk ausgeschieden und in den Dienst bei deren Mutter, Ellen Marsvin auf Kjaerstrup (Fünen), eingetreten. Johanna Mestorf gibt eine „Beschreibung“ der jungen Frau: „Es war Wiebeke Kruse, die wir hier in modischem Kleide als Dame wiederfinden. Frau Ellen hatte vollendet, was ihre Tochter einst begonnen, indem sie Wiebeke als ihre Gesellschafterin in ihr Haus eingeführt, und Wiebeke machte ihrer neuen Stellung Ehre. Der gediegene Kern ihres biederen festen Charakters hatte ihrem äußeren Wesen von je her das Gepräge ruhigen Selbstbewußtseins verliehen. In den vier Jahren, die sie bei der Gräfin Munk verlebt, hatte sie den äußeren Schliff angenommen, so dass ihr tactvolles anspruchsloses Benehmen keinen Verstoß gegen die Sitten der vornehmen Welt machte. Ihre äußere Erscheinung hatte durch diese Umwandlung nicht gewonnen. Ihr Gesicht war vielleicht zu voll und rosig, um auf Schönheit Anspruch machen zu können. Schlug sie aber die klaren, nußbraunen Augen auf, so wurde man durch den Blick so wunderbar gefesselt, dass man die unschönen Züge gar nicht bemerkte.“ (S. 123) Gleichwohl umwarb der König sie, als er 1629 Kjaerstrup besuchte; sein Werben wurde von Ellen Marsvin unterstützt. Allerdings wollte der König sich nicht von Kirsten Munk, die inzwischen in eine Art Verbannung vom Hof geschickt worden war, scheiden lassen. „Im Herbste [1629] hatte er auf einer in Regierungsgeschäften unternommenen Reise auch Fünen berührt und wiederum auf Kjaerstrup gerastet, wo sein Erscheinen für Wiebeke Kruse von wichtigen Folgen war. Die junge Holsteinerin war längst zum klaren Verständniß ihrer Lage gekommen und hatte seitdem auch ihre innere Ruhe wiedergewonnen. Sie sagte sich, dass sie einerseits durch eine Verbindung, wie der König und Ellen Marsvin sie im Auge hatten, den Fluch ihres Vaters auf sich laden würde, während es andererseits in ihre Hand gegeben sei, dem Landesvater in bezug auf sein Privatleben die Achtung seiner Unterthanen zu erhalten. Eine gottgefällige Lösung dieser Frage glaubte sie gefunden zu haben und wartete gelassen der Rückkehr des Königs, um sie seiner Entscheidung anheimzustellen. Als der König sich mit Wiebeke Kruse in Frau Ellen’s Schreibzimmer allein befand und sie fragte, ob sie die Antwort für ihn fertig habe, erinnerte sie ihn an jenen Tag, als er, unter der großen Linde im Schloßgarten zu Bramstedt sitzend, ihrem Vater Hans Kruse aus Föhrden Gehör schenkte, der ihm die Verantwortung für das Wohlergehen seiner Lieblingstochter so dringend ans Herz legte, dass der König ihm bewegt die Hand gereicht und gelobt hatte Vaters Stelle an ihr zu vertreten und entweder in Dänemark für ihre Zukunft zu sorgen oder sie mit Ehren heimzuschicken. ,Was würde Hans Kruse sagen, wenn er hörte, dass der König bei Lebzeiten seiner Gemahlin mich aufforderte ihre Rechte, ihre Pflichten zu übernehmen?‘ schloß Wiebeke ihre Erklärung. .Hast Du ausgeredet?‘ fragte der König. .Nein!‘ ,So sprich weiter!‘ ,Ew. Majestät betrachtet sich vor den Augen des Höchsten als von der Gräfin Munk rechtmäßig geschieden, obwohl Sie es durch weltliche Gerichte nicht aussprechen lassen will. Wenn nun aus dieser Ursache meine Stellung niemals auf Billigung und Achtung der Welt Anspruch erheben darf, so kann sie doch vor dem Herrn geheiligt sein, indem sie durch die Hand eines seiner Diener auf Erden geweiht wird.‘ Ich verstehe Dich,‘ versetzte der König. ,Und wenn dies nicht geschähe? ,So würde ich ohne Bedenken zur Waschbrücke zurückkehren und, in dankbarer Erinnerung der Gnade und Huld meines Königs, als ehrliche Magd mein Brod verdienen.‘ Der König erhob sich, verließ das Zimmer, und bald darauf sah man seinen Leibkutscher mit einem leeren Wagen vom Hofe fahren, in welchem er nach Verlauf einer Stunden den Ortsgeistlichen zurückbrachte. Der König schloß sich mit dem Pfarrer ein, und als er, nach einer langen Unterredung mit demselben, Wiebeke Kruse hereinrief, da errieth Frau Ellen, was drinnen, der Welt zum ewigen Geheimniß, vorgehe. Als Wiebeke nach einer Weile an der Hand des Königs vor Ellen Marsvin trat, lag eine feierliche Ruhe auf ihrer Stirn. Sie wußte, dass sie nicht nach weltlich gültigen Formen dem Könige angetraut sei, aber das Opfer, welches sie brachte, hatte göttliche Weihe erhalten, und sie betrachtete sich von Stunde an bis zu ihrem letzten Athemzuge als rechtmäßige Gattin Christian’s von Dänemark.“ (S. 137 ff.) Die Aussöhnung mit dem Vater konnte schließlich auch herbeigeführt werden, wozu nicht wenig beitrug, dass sie 1631 das Gut Bramstedt von ihrem Lebensgefährten als Geschenk erhielt. Als liebevolle, brave Frau sorgte sie nach Kräften für Christian. „Alle Sorgen, allen Kummer schüttete König Christian in das treue theilnehmende Herz seiner nunmehrigen Lebensgefährtin, die durch ihren scharfen klaren Verstand, ihre Besonnenheit und ihr warmes Herz zu einer Freundin Christian’s IV. wie geschaffen war. Sie beschwichtigte seinen Zorn, sie verscheuchte seine trüben Gedanken, erheiterte ihn durch fröhliches Geplauder und pflegte seiner durch unaufhörliche Strapazen angegriffenen Gesundheit. Sie begleitete ihn auf allen Reisen zu Wasser und zu Lande, theilte manche Gefahr, manche ernste und manche frohe Stunde mit ihm. Im übrigen war Wiebeke Kruse’s Stellung nicht beneidenswerth. Standes- und andere weltliche Vorurtheile verschlossen ihr die Thür der adeligen Gesellschaft. Niedrige Schmeichler und Glücksucher wußte sie fernzuhalten, und trotz der offenen Erklärung des Königs glaubten doch die meisten, dass Wiebeke an Christine Munk’s Verstoßung Schuld sei.“ (S. 142 f.) Die Jahre gingen hin; Wiebke gebar dem König zwei Kinder. Bei dem Seegefecht auf der Kolberger Heide (1645) erlitt der König eine Verwundung, die ihn der Sehkraft seines linken Auges beraubte. Wiebke war gegen das Gebot des Königs zur Stelle und übernahm seine Pflege. Johanna Mestorf gibt den fiktiven Dialog zwischen den beiden wieder; er gipfelt in dem Ausruf Christians: „’Du bist zum Weibe eines Helden geboren, Wiebe, und Du verdienst besser, die Krone einer Königin zu tragen, als manche geborene Fürstin!'“ (S. 177) Die Geschichte um Wiebke Kruse endet schließlich mit dem Tod Christian IV. und der unmittelbar folgenden Exmittierung seiner Lebensgefährtin aus Schloß Rosenborg.

Was Johanna Mestorf 1866 zum Druck gab, musste zahlreiche Elemente des vollständig Fiktiven in sich tragen. Ihre Vermischung von Wahrheiten und Dichtung beeinflußten aber ihre Zeitgenossen nachhaltig. Dazu trug auch bei, dass die ungewöhnliche Karriere der Wissenschaftlerin Mestorf ihr romantisches Frühwerk zu einem quasi-wissenschaftlichen Historiengemälde adelte. So referierte Pastor Johannes Kähler in seinem Heimatbuch über das Stör-Bramautal,1) dass das Gut Bramstedt im Mai 1631 von König Christian IV. seiner Geliebten Wiebke Kruse aus Föhrden geschenkt worden sei. Wenig später sagt er auf das Bestimmteste: „In Föhrden …, eigentlich im nördlich der Bramau liegenden Barl, ist Wiebke Kruse auf dem jetzigen Rühmannschen Hofe geboren.“2) Die Mestorfsche Erzählung trug also Früchte. Was ist an der Vermutung dran? Glücklicherweise liegt als Ergebnis jahrelanger Kleinarbeit das Hofstellenverzeichnis von Föhrden und Barl aus der Hand Hans Riedigers vor.3) Hierin finden wir die wenigen Barler Hufen mit ihren Besitzern im 16. und 17. Jahrhundert, erarbeitet aus den Segeberger Amtsrechnungen. Sehen wir sie uns an:

– Hufe 1 -1526 Hinrik Volßer, 1533-1560 Clawes Stekemest, 1569
Marquard Kruse, 1600-1620 Marquard Carstens, 1629-1642 Hans
Voltzer.

– Hufe 2 -1526-1537 Eler Kruße, 1543 Hartich Kruße, 1560 Hinrik
Kruße, 1569-1620 Henneke Kruße (möglicherweise mehrere gleichen Namens), 1629 des letzteren Witwe Wibke Kruße, 1633-1642
Jasper Carstens.

– Hufe 3 -1526-1543 Clawes Detleffs, 1560-1569 Hartich Kruse I,
1600-1620 Hartich Kruse II, 1629 Henke Kruse, 1633-1642 Hartich
Kruse III, 1656-1665 Henneke Kruse.

– Hufe 4 -1526-1537 Henneke Kruße, 1543 Carsten Kruse, 1560-1620
Hinrik Kruse, 1629 Jasper Kruse, 1633-1654 Henneke Kruse, 1657-
1665 Lütke Henneke Kruse. Diese Hufe war seit 1827 im Besitz der
Rühmanns, die hierher von Lockstedt eingeheiratet hatten.

Wir sehen: Kein. Hans Kruse, schon gar kein Nachweis einer Tochter Wiebke in den Jahren vor 1630 – höchstens eine Hufnerswitwe dieses Namens. Kirchenbuchmaterial, das familiäre Zusammenhänge erkennen ließe, gibt es in Bramstedt erst nach der Mitte des 17. Jahrhunderts. Ein Nachweis über die Barler Herkunft von Wiebke Kruse, der Geliebten Christian IV., kann nicht geführt werden. Welches mögen aber die Motive von Johanna Mestorf gewesen sein, Wiebke Kruse als Kind des Kirchspiels Bramstedt zu skizzieren und so in gewisser Weise in die Heimatkunde einzuführen? Wir sahen, dass Johanna Mestorf in Bramstedt geboren wurde und die ersten Lebensjahre verbrachte; sie mag auf den Namen gestoßen sein, als sie sich später mit ihrer Heimat beschäftigte, denn Wiebke Kruse war tatsächlich Gutsbesitzerin in Bramstedt. 1631 erwarb König Christian IV. das Gut und schenkte es ihr 1633.4) Über ihre Zeit als Gutsherrin wissen wir wenig – wohl auch, weil sie sich selten dort aufhielt und die Rekonstruktion des 1628 im Krieg zerstörten Betriebes und dessen Neueinrichtung ganz dem Segeberger Amtmann und ihrem Bruder, dem Hausvogt in Krempe, dann in Segeberg, Hinrich Kruse, überlassen hat. Der König selbst mischte sich mit zahllosen Aufträgen ein. Die Wirtschaft leitete ein Vogt. Das ebenfalls von Johanna Mestorf geschilderte Idyll einer für ihre Untergehörigen treusorgenden Gutsherrin findet keinerlei quellenmäßige Stütze.

Übrigens ist die Mestorfsche Legende nicht die einzige, die sich um die Herkunft der Geliebten des Königs rankt. Detlef Detlefsen, der Nestor der Elbmarschenforschung, zitiert in seiner „Geschichte der holsteinischen Elbmarschen“ in einer Fußnote aus dem Werk des von F.C. Dahlmann herausgegebenen Dithmarscher Chronisten Johannes Adolfi Köster, genannt Neocorus, dass der König auf der Flucht von Glückstadt nach Diekhusen in Dithmarschen in der Zeit vom 7./17. Juni 1627 „in die Gefahr gekommen [sei], den Feinden [den kaiserlichen Truppen] in die Hände zu fallen, und durch eines Vollmachts Tochter Wiebke gerettet sei, der er zum Dank das sog. Turmhaus am Hafen zu Glückstadt erbaut habe; [der Glückstädter Historiker] Lucht [Glückstadt oder Beiträge zur Geschichte dieser Stadt, Kiel 1854, S. 29]. Doch scheint hier eine an die spätere Geliebte des Königs, Wiebke Kruse, sich anlehnende Sagenbildung vorzuliegen.‘ 5)

Alle neueren dänischen Forscher, die sich mit Christian IV. und seiner Zeit befassen, stehen hinsichtlich der Herkunft von Wiebke Kruse vor demselben Rätsel, das Johanna Mestorf durch eine einfache Legende zu lösen suchte – welche „Lösung“ in der holsteinischen lokalhistorischen Literatur begierig aufgenommen und munter weiterverbreitet wurde. So heißt es bei Benito Scocozza, ihr „Hintergrund ist unbekannt“6) Dasselbe sagt auch Steffen Heiberg7), der vermutet, dass Ellen Marsvin, die Mutter von Kirsten Munk, den König in Kontakt mit Wiebke Kruse brachte.8) Aber nun muss kurz auf die Geschichte der Beziehung zwischen dem König und seiner morganatischen Gattin Kirstine (Christine, Kirsten) Munk und seiner Geliebten Wiebke Kruse eingegangen werden, um das Umfeld der Herkunftsfrage der Königsgeliebten zu klären.

Christian IV. hatte aus dynastischen und machtpolitischen Gründung 1597 die Tochter des Kurfürsten und Herzogs von Brandenburg, Anna Katharina (1575-1612) geheiratet, die ihm drei Söhne gebar, nämlich Christian (1603-1647), Friedrich (1609-1670) und Ulrich (1611-1633). Schon vor dem Tod seiner Gattin hatte der König wenigstens eine außereheliche Beziehung zu der Kopenhagener Bürgermeisterstochter Kirsten Matsdatter (?-?), aus der der Sohn Christian Ulrich Gyldenløve (1611-1640) hervorging. Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass Christian IV. nicht auch Beziehungen zu anderen Frauen unterhielt; über diesen unehelichen Sohn sind wir – wie auch bei den anderen unehelichen Kindern – nur durch die formelle Akzeptanz als Bastard durch Beilegung des Namens „Gyldenløve“ (Goldenlöwe) unterrichtet. Dieser Name taucht übrigens nicht nur bei den unehelichen oder nebenehelichen Kindern Christian IV. auf, sondern findet auch bei seinen Nachfolgern Verwendung. 1614/15 hatte der König eine Liebesbeziehung zu der Bürgertochter Karen Andersdatter (?-?), aus der der Sohn Hans Ulrich Gyldenløve (1615-1645) hervorging. Um 1615 nahm der 40jährige König jedoch eine Liaison zu der erst 17jährigen Tochter des dänischen Hochadligen Ludwig Munk und dessen Ehegattin Ellen Marsvin 9), Kirsten Munk (1598-1658), auf. Sie konnte jedoch nur unter der Bedingung der morganatischen Eheschließung 10) von den Eltern gebilligt werden. Aus dieser Ehe, die formell bis zum Tod des Königs 1648 andauerte, gingen sieben Kinder hervor: Amalie Katherine (1618-1633), Sophie Elisabeth (1619-1657), Leonora Christina (1621-1698), Waldemar Christian (1622-1656), Elisabeth Augusta (1623-1677), Christiane (1626-1670) und Hedwig (1626-1678). Ein achtes Kind, die Tochter Dorothea Elisabeth (1629-1687), wurde vom König nicht als sein Kind anerkannt („det kasserede froken“ = das eingezogene Fräulein). Alle diese Kinder waren keine Prinzen und Prinzessinnen, sondern gehörten dem dänischen Hochadel an. Als Königskinder waren sie „gute Partien“ für Mitglieder ihrer Klasse, auch, weil über sie nahezu direkter Zugang zum König möglich wurde. So heiratete Amalie Katherine Franz Rantzau, Sophie Elisabeth den Reichsgrafen Christian Pentz,“ Leonora Christina Corfitz Ulfeldt, Elisabeth Augusta Hans Lindenov, Christiane Hannibal Sehestedt und Hedwig Ebba Ulfeldt. Auf diese Weise blieb Kirsten Munk mit ihren Kindern auch auf das engste mit dem dänischen Hochadel verbunden, nachdem sie wegen ihrer Affäre mit dem Grafen Otto Ludwig von Solm (1597-1634), genannt der Rheingraf, 12) 1627 – 1628 schließlich 1630 vom königlichen Hof verbannt wurde 13) und ihr weiteres Leben auf den jütischen Gütern Boller und Rosenvold in einer Art Hausarrest verbrachte. Ihre jüngste Tochter Dorothea Elisabeth wurde, wie gesagt, von Christian IV. aufgrund dieser Vorfälle nicht als seine Tochter anerkannt – das geschah erst nach dem Tod Christian IV. durch den dänischen Reichsrat. Wiebke Kruse, die als Dienstmädchen bei Kirsten Munk diente, scheint dem König von der Mutter seiner Gattin, Ellen Marsvin, als Geliebte angedient -etwas frechere dänische Autoren (B. Scocozza und S. Heiberg) sagen: „ins Bett geschoben“ – worden zu sein. Über die Motive lässt sich in Ermangelung schriftlicher Äußerungen der Beteiligten nur spekulieren. Eine Hoffnung der Schwiegermutter mag gewesen sein, den Einfluß ihres Clans auf den König zu erhalten. Diese Hoffnung trug, denn es scheint, als habe Wiebke Kruse ihrer vormaligen Dienstherrin keine Loyalität erwiesen. Vielmehr muss sie Christian IV. gegenüber wohl recht viel von den Intimitäten Kirsten Munks berichtet haben. Nur so lässt sich erklären, dass der König 1632 seiner pro-forma-Frau eine Reihe von Fragen stellen lassen konnte, die allesamt recht genaue Kenntnisse der Vorgänge inbesondere um den Rheingrafen verraten. dass es Kirsten Munk nicht egal sein konnte, wie töricht sie ihre Gefühle ihrem Gatten, dem König, gegenüber ausgedrückt hatte, wird durch eine Reihe von Aktionen deutlich, die sie – sicher auch gedrängt von ihrer Mutter und anderen Mitgliedern ihres Familienkreises – unternahm, um den Bruch zu kitten. Unter anderem versuchte sie, über den Hamburger Alchimisten Heinrich Becker den König verzaubern zu lassen. Ein kompromittierender Brief wurde abgefangen, Becker in Hamburg auf Betreiben des Hofes inhaftiert. Er starb in der Untersuchungshaft, noch bevor ihm der Prozeß gemacht werden konnte. Wichtiges Belastungsmaterial war sogleich nach seiner Verhaftung auf Betreiben des niederländischen Gesandten in Hamburg, Voppe van Aitzema, vernichtet worden.14) Allein – der König dachte nicht daran, sich seiner Gattin wieder anzunähern, sondern verbreiterte eher die Distanz zu ihr. Ein unerlaubter Besuch in Altona und Glückstadt (bei ihrer mit Christian Pentz verheirateten Tochter) – bei letzterem kam es sogar zu einer Begegnung der Wagen von Kirsten Munk und Wiebke Kruse – führte sogar zu einer Verschärfung des Arrestes in Jütland. 15) Wiebke Kruse lebte als früheres Dienstmädchen am Rande des Hofstaates. Sie war – wie B. Scocozza schreibt – die uneheliche königliche Bettgefährtin, die sich in den Nebengemächern aufhielt und vom Hochadel verachtet wurde.16) Ihre beiden Kinder Ulrich Christian Gyldenløve (1630-1698) und Elisabeth Sophie Gyldenløve (1633-1654) wurden allerdings vom Hochadel als königliche Bastarde akzeptiert. Die Tochter heiratete 1648 Claus von Ahlefeldt (1614-1674) und erbte nach dem Tod ihrer Mutter das Gut Bramstedt. Die Mutter hingegen sah sich schon bei Lebzeiten Christians Anfeindungen ausgesetzt. Insbesondere kämpften die Töchter Kirsten Munks und deren Ehegatten für die Rehabilitation ihrer (Schwieger)Mutter, nicht zuletzt auch, um ihre eigenen Positionen bei Hofe zu verbessern. Schon 1644 hatte der Reichshofmeister Corfitz Ulfeldt der Rentekammer verboten, eine Pension an Wiebke Kruse zu zahlen, ohne ihn zu unterrichten – eine Maßnahme, die von Christian IV. sofort kassiert wurde. Hinzu kam, dass die Kirsten-Munk-Partei sich voll auf den Kronprinzen Christian stützte, der Wiebke Kruse ebenfalls nicht günstig gesonnen war; dessen Tod auf einer Badereise zu seinen Schwiegereltern, dem Herzogs- und Kurfürstenpaar von Sachsen 1647, zerstörte die schönsten Hoffnungen dieser Seite. So blieb nur die Hoffnung auf baldigen Tod der unseligen Rivalin.17) Dieser ließ jedoch auf sich warten. Die Kinder Wiebke Kruses, die nun im Erwachsenenalter standen, knüpften eine Allianz mit dem zweiten Prinzen, Friedrich, der überraschend zum Kronprinzen aufgerückt war. Christian Ulrich Gyldenløve hatte unter Friedrich im Ersten Schwedischen Krieg (Torstenson-Krieg 1643-1645) gekämpft und sich ausgezeichnet; Claus von Ahlefeldt als sein Schwager stand dem neuen Kronprinzen ebenfalls nahe. Es scheint, als habe der gealterte und erschöpfte Christian IV. in den Monaten nach dem Tod seines Lieblingssohnes Christian kaum noch das Durchsetzungsvermögen gehabt, mit einem Machtwort die Intrigen und Kulissenkämpfe zu Ungunsten seiner Lebensgefährtin zu beenden.

Kaum hatte der König am 28. Februar 1648 aufschloß Rosenborg bei Kopenhagen für immer die Augen geschlossen, da handelte die Kirsten-Munk-Partei rasch. Corfitz Ulfeldt gab sogleich die Anweisung, die kranke und bettlägerige Wiebke Kruse aus dem Schloß zu exmittieren. Er war es auch, der den Reichsrat bewegen wollte, der gehaßten Lebensgefährtin des toten Königs wegen „Lügen und Hinterziehungen“ den Prozeß zu machen. Der Reichsrat verweigerte sich diesem Ansinnen – und der Tod Wiebke Kruses verhinderte weitere Nachstellungen. Sie starb Ende April 1648 und wurde auf Geheiß Corfitz Ulfeldts bei Nacht ohne jedes Zeremoniell auf dem Friedhof vor der Norreport (Nordertor) der Kopenhagener Umwallung „rakkersvis“ (auf Henkersart) begraben. Die Tochter hatte sie in der Lieb-Frauen-Kirche in Kopenhagen bestatten lassen wollen. Noch aber war Friedrich III. nicht gekrönt und konnte seinen Schutz für die Familie von Wiebke Kruse nicht voll wahrnehmen.

So endete das Leben von Wiebke Kruse elend. Immerhin war sie Besitzerin des Gutes Bramstedt, das sie ihrer Tochter Elisabeth Sophie verh. von Ahlefeldt und derem Gatten vererbte, in deren Familienbesitz es bis 1698 verblieb. Das Haus in Glückstadt, das 1630/1631 erbaut und ihr am 8. Mai 1638 vom König geschenkt worden war, erbte der Sohn Christian Ulrich Gyldenløve, der es 1653 für 6.500 Mark an Johann Möller und Wilhelm Coppin, zwei Glückstädter Kaufleute, verkaufte.18) Mit zwei holsteinischen Orten bleibt also Wiebke Kruse trotz ihrer höchstwahrscheinlich dänischen, jedenfalls nicht bramstedtisch-förden-barlischen Abkunft eng verbunden. Ob allein diese Verbindung dazu ausreicht, sie kurzerhand in die Reihe der „verdienten Frauen“ Glückstadts aufzunehmen und sie mit einem Straßennamen erinnernd zu ehren, wage ich zu bezweifeln. Wiebke Kruse war keine kraft eigener Leistung besondere Frau, sondern nichts weiter als ein wahrscheinlich wohlgefälliger Spielball im höfischen Intrigenspiel am dänischen Königshof der Jahre 1628 bis 1632 und dann die Frau, die dem alternden dänischen den doch relativ bitteren Lebensabend versüßte.

1) J. Kähler, Das Stör-Bramautal, Stellau o.J., S. 113
2) J. Kähler, Das Stör-Bramautal, Stellau o.J., S. 117.
3) H. Riediger, Bauernhöfe und Geschlechter im altholsatischen Siedlungsgebiet des Kirchspiels Bramstedt, Band 1: Fuhlendorf-Föhrden-Barl-Wiemersdorf, Bad Bramstedt 1988.
4) Vgl. W. Prange, Entstehung und innerer Aufbau des Gutes Bramstedt, in: ZSHG, 91 (1966), S. 121-175, bes. S. 155-158.
5) D. Detlefsen, Geschichte der holsteinischen Elbmarschen, Bd. 2, Glückstadt 1892, S. 196, Fn. 3.
6) B. Scocozza, Christian 4., København 1987, S. 230: „baggrund er ukendt“
7) S. Heiberg, Christian 4. Monarkie. Mennesket og Myten, København 1988: „Vi ved intet om Vibeke Kruses baggrund, end ikke om hun er danske. En engelsk gesandt kaldte hende i 1632 ,et fruentimmer af meget lav herkomst‘.“ (S. 320)
8) Ebda., S. 319.
9) Es war im Adel bis in das 18. Jhdt. hinein üblich, dass sich die Ehefrau als Hinweis auf ihre Abkunft mit ihrem Vaters- oder Geschlechtsnamen nannte.
Auch in Holstein finden sich zahlreiche Belege für diese Übung, so bei Christine von Halle, der Gattin Heinrich Rantzaus (u.a. auf Breitenburg).
10) Der Begriff kommt vom lat. matrimonium ad morganaticum – Ehe auf bloße Morgengabe und wird für unebenbürtige Adelsheiraten verwendet; später: Mißheirat, frz. mesalliance.
11) C. Pentz spielte als zeitweiliger Gouverneur und Kommandant von Glückstadt, auch als Amtmann von Steinburg keine besonders glückliche Rolle und wurde 1649 von seinem Halbschwager Friedrich III. sogleich abgelöst und mit dem Amt Flensburg getröstet. Schon Christian IV. hatte ihn kurz vor seinem Tode abgesetzt und an seiner Stelle Claus von Ahlefeldt, den Schwiegersohn Wiebke Kruses, eingesetzt. Doch weigerte sich Pentz, seinen Posten zu verlassen, und ließ nach dem Tod des Königs die Glückstädter Garnison einen Eid auf den Reichsrat schwören, was wegen der Unzuständigkeit des Reichsrates für das Herzogtum Holstein unhaltbar war. Die Anordnung Christian IV. wurde von dessen Sohn und Nachfolger Friedrich III. umgesetzt. Vgl. S. Heiberg, Enhjornigen Corfitz Ulfeldt, København 1993, S. 97
12) Graf Otto Ludwig von Solm war Oberst eines geworbenen Reiterregiments im Dienst des Königs, wurde 1626 Hofmarschall und ging nach dem Ende seiner Affäre mit Kirsten Munk 1628 in schwedische Dienste. – Vgl. auch: Fru Kirstens Børn. To kongebørns begravelser i Roskilde domkirke, udg. af Nationalmuseet, København 1988.
13) Kirsten Munk hatte ihrem Gatten am 11. November 1628 den Zutritt zu ihrer Schlafkammer verweigert – das äußere Zeichen für den Bruch zwischen beiden.
14) S. Heiberg (wie Anm. 7), S. 318. Hexerei- und Zaubereivorwürfe gab es noch mehrfach. So wurde im August 1647 Karen Reinhardt, ein früheres Dienstmädchen von Wiebke Kruse, in Kopenhagen vernommen, weil sie im Gespräch gesagt hatte, der König und seine Geliebte wären verzaubert – B. Scocozza (wie Anm. 6), S. 251.
15) Vgl. K.-J. Lorenzen-Schmidt, Glückstadt im Spiegel der eigenhändigen Briefe Christian IV., in: Vorträge der Detlefsen-Gesellschaft Glückstadt, 2 (1999), S. 16-41, insbesondere Anhang 1, Nrn. 151,154 und 155; S. Heiberg (wie Anm. 11), S. 70.
16) B. Scocozza (wie Anm. 6), S. 230.
17) Am 13. Februar 1647 wünschte Corfitz Ulfeldt in einem Brief an Christen Thomassen Sehestedt, den Reichskanzler, dass Wiebke Kruse an ihrer Krankheit sterben möge – S. Heiberg (wie Anm. 11), S. 73.
18) Vgl. G. Köhn, Das kgl. Schloß Glücksburg und die Adelspalais der Residenzstadt Glückstadt, in: Jb. Steinburg, 29 (1985), Anhang, S. 1-33, hier: S. 10; H.R. Möller, Glückstadt. Ein Führer durch das Stadtdenkmal und seine Geschichte, Glückstadt 1994, S. 93.

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Schadendorf: Mosaiksteine zur Erforschung der Herkunft der Wiebeke Kruse

Jan-Uwe Schadendorf, Text aus dem Buch “Wiebeke Kruse, erschienen Okt. 2004 im Sommerland-Verlag (der Inhalt ist durch neuere Forschungen präzisiert/überholt worden, die viele hier formulierte Ansätze – Herunft Puls – bestätigen. Eine Zusammenfassung findet sich Wiebeke Kruse aus Puls.)


Mosaiksteine zur Erforschung
der Herkunft der Wiebeke Kruse

Wie aus den Beiträgen von Waltraud Bruhn und Dr. Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt bei allen Unterschieden hervorgeht, sind die Urkunden und Belege über die Herkunft und das Leben der Wiebeke Kruse äußerst dürftig oder/und scheinen noch keiner systematischen Untersuchung unterzogen worden zu sein.

Auch ich habe leider noch nicht die Zeit gefunden, die mir bekannten Bruchstücke zusammenzufügen, in der Hoffnung, daraus ein Bild zu gewinnen.

Gleichwohl möchte ich diese Veröffentlichung nutzen, das für spätere Arbeiten festzuhalten, was ich bislang an verschiedenen Stellen aufgefunden habe und was noch zusammengeführt werden muß.

War es Föhrden-Barl ?

Die vornehmste Quelle zur Beantwortung dieser Frage ist das Bramstedter Stellenverzeichnis 1) für Föhrden-Barl.
Dort ist tatsächlich (wie es Dr. Lorenzen-Schmidt auch feststellt) zur fraglichen Zeit keine Eintragung zu finden, die auf die bei Johanna Mestorf genannten Namen schließen lässt.

Prof. Hans Riediger, der als der profundeste Kenner dieses Quellenmaterials gilt 2) 3), schreibt dazu in seinem Buch „Bauernhöfe und Geschlechter“ Band I 4) unter der Barler Hufe Nr. 4:
„Die Abstammung der Wibke Kruse von dieser Hufe dürfte heimatgeschichtlich von Interesse und Bedeutung sein. Ihr um 1555 (errechnet) geborener Vater Hennike ist kurz vor dem 22.8.1653 im hohen Alter von 98 Jahren verstorben. Wibke selbst wird jedoch ebenso wie ihre Geschwister … nicht aufgeführt, da Taufeintragungen erst ab 1630 beginnen.“ Und weiter „Es ist auffällig und bemerkenswert, dass Wibke Kruse bei keinem der vier Kinder ihres Bruders Hinrich Kruse Gevatterin gestanden hat.“.
5)

Riediger nimmt also hier auf der einen Seite die Abstammung von dieser Hufe als gegeben hin (nur am Rande bemerkt: der zugeordnete Vater müßte bei der Geburt Wiebkes dann ca. 55 Jahre alt gewesen sein. Und die Mutter ?? ), auf der anderen Seite flackert ein kleiner Zweifel auf in den Worten „auffällig und bemerkenswert“ und er trifft genau die Feststellungen, die den Zweifel nähren.
Bei den damaligen Bräuchen wäre wirklich zu erwarten, dass Wiebeke bei einer/m ihrer vermeintlichen Nichten und Neffen als Taufpatin in Erscheinung treten würde. Doch das ist nicht der Fall, soweit dies aus den Veröffentlichungen zum Bramstedter Stellenverzeichnis ersichtlich ist. Da erhebt sich die Frage, ob sie überhaupt von dieser Hufe stammt und ihr Fehlen als Patin nur so zu deuten ist, als dass sie dort nicht zuzuordnen ist.

Festzuhalten ist, dass Wiebeke nach gegenwärtiger Erkenntnis (und man sagt, Hans Riediger kannte das Stellenverzeichnis fast auswendig) nirgends in den Kirchenbüchern erscheint.
Auch findet sich in der Bad Bramstedter Kirche selbst kein Hinweis in Form einer Stiftung oder Schenkung eines Inventars. So etwas war durchaus Usus zu der Zeit, doch nicht eine Spur scheint Wiebeke hier hinterlassen zu haben.

Nach den Unterlagen Riedigers war der Bruder angeblich Hinrich Hofinhaber in Föhrden. Tatsächlich nachweisbar (s.u.) ist für ihren Bruder jedoch, dass er etwa zeitgleich als Hausvogt im Amt Steinburg und in Segeberg in Diensten der Amtmänner Rantzau bzw. Buchwaldt war. Ein Amt, dass mit dem parallelen eigenständigen Betrieb einer Hofstelle kaum vereinbar erscheint.

Gleichwohl halten sich hartnäWiebekeKruse_Kettekl_240ckig Berichte und Geschichten, um ihren Nachlaß. So werden in in Föhrden-Barl und Hagen Schmuckstücke gut verwahrt (eine Kette und eine Brosche) die Wiebeke Kruse zugeschrieben werden und als Familienschmuck der Kruses gelten.
Die Gemeinde hat diesen Schmuck in ihr Wappen aufgenommen. Eine wissenschaftliche Untersuchung des Schmucks hat es m.W. bislang nicht gegeben.

 

 

Butendoor 18


Eine andere Legende wird in einem Zeitungsartikel in den Bramstedter Nachrichten vom 12.6.1917 erwähnt. Es wird von einem Haus im Butendoor (Nr. 16?) berichtet, das lange der Taterschen gehört haben soll, die Wiebeke einst die im Roman erwähnten Weissagungen aussprach.

Wohin führt der Weg über den Bruder Hinrich ?

Wiebeke hatte – wie oben angeführt – einen Bruder Hinrich (Heinrich) zu dem ich in der Literatur folgende Notizen zu fand:
1. Dr. Wolfgang Prange, Landesarchiv in Schleswig, schrieb 1966 in seiner Abhandlung über das Gut Bramstedt
6): „Es wurde in lockerer Bindung an das Amt Segeberg verwaltet. Zahllose Aufträge hat der König seinetwegen dem Amtmann gegeben. Dieser und Wiebkes Bruder Hinrich Kruse, Hausvogt in Krempe, dann in Segeberg, führten die Aufsicht über das Gut. Die Wirtschaft leitete e in Vogt.“
2. Bei Hans-Hinrich Harbeck
7) findet sich „….1637 …..Henricus Kruse, Wiebekes Vertreter, habe unparteiliche Männer aus dem Kirchspiel Hohfelde genannt; …“
Und auf Seite 271 “ … von Wiebeckes Bruder Henneke (Hinrich) getroffen worden sind, in dessen Hand anscheinend die Gutsverwaltung gelegen hat.“

Leider fand sich weder bei Prange noch bei Harbeck die direkte Quellenangabe für die behauptete Bruderschaft.

Doch zwischenzeitlich konnte ich die entsprechende Urkunde im Landesarchiv ausfindig machen.

Die Urkunde, die den Verwandschaftsnachweis erbringt, stammt aus 1647 (LAS 110.3 Nr. 122). Es ist ein Bauauftrag/-vertrag und es handeln dabei Hinrich Kruse und Johann Freymuht in Vollmacht für die Gutsherrin für Brückenreparatur, ohne dass allerdings die Gutsherrin mit Namen erwähnt wird. Hinrich Kruse war zu dem Zeitpunkt Hausvogt in Segeberg und in Johann Freymuht haben wir wohl den Verwalter auf dem Gut zu sehen (s.a. unten).

Der Text der Urkunde lautet (freundlicherweise wurde er mir von Herrn Lorenzen-Schmidt transskripiert):

Anno 1647 den 12 febr. ist ein beständiger contractus vollzogen und beschloßen worden zwischen den königl. haußvoigt herrn Henrich Krußen und herrn Johann Freymuht, verwaltern zur Brambstette eines, den andern theilß m[eister] Geberdt Tietken, königl. bauwmeistern in Glückstadt, nemblichen es verdingen wohlgemelte herren Henrich Kruse und Johann Freymuht im nahmen und habenden volmacht derer respective hertzlieben schwester und frawen an m. Geberdten, dass es gedachter m. Geberdt Tiedtken die zu Brambstette gantz undt gar ruinirte Brücke an dem hauße Brambstette und über die ahwe gehet von neuen wiederumb auff seinen costen, wan ihme holtz, eisenwerk und andere dazu gehörige materialien darzu herbey geschafft werden alß folgender maßen specificiret verfertigen undtvon newem erbauen soll.

1. soll m. Geberdt die brücke alß contrahiret waß dabey an zimmermanß arbeit geschehen muss, auch waß nahmens zimmer arbeidt geheißen und genent wirdt, an gedachter brucken verfertigen, alß
2. nemblich von 5 gebundt zu nebenst 4 flügeln inß landt und oben mit brust lehnungen zu machen, auch negst dem hauße uff solcher brücken eine zuckbrücke zu verfertigen.
3. Die brücke so lang dieselbe mit balcken zu belegen. Item dieselbe oben mit bohlen zu bekleiden, so woll auch die flügele derselben mit starcken bohlen auch mit gutem bohlen von grundt auff auszukleiden.

In summa alß obspecificiret wird erwehnt, von m. Geberdten dabey an zimmermansarbeit verferttiget werden kan und hierin nicht nahmhafftig gemacht worden, soll er alles bestendtich verfertigen. Vor sotahne arbeit mehrgedachten m. Geberdt Tietken eines für alles zur summa nach vorfertigter arbeit versprochen 140 rthlr ihme, m. Geberdten alß seine zahlung von dem königl. amptman hern Casper von Buchwaldten dargereicht und bezahl werden sollen. Uhrkundtlichen haben beyde Teihle diesen contract em?gehendiget unterschrieben. Actum Crempe ut supra.

Henrich Kruse Johannes Freymuht manu propria.

Damit ist die Verwandschaft belegt, aber nicht die Herkunft. Dazu finden sich weitere Angaben in der Literatur:

Kirchenstuhl in Hohenaspe

3. Bei Martin Echt 8) findet sich über die Kirche zu Hohenaspe der Satz „Kruse war unter Baltzer von Ahlefeldt und nachfolgend unter Detlev Rantzau Verwalter auf Drage. Unter seiner Aufsicht wurden die Schäden in der Kirche behoben. Er war ein Bruder jener Wiebke Kruse, die als Bauerntochter zur Geliebten des volkstümlichen Dänenkönigs Christian IV. wurde.“ Und weiter „Nach unserer Überlieferung hat Wiebke den Dänenkönig in Drage kennengelernt, als dieser Baltzer von Ahlefeldt auf seinem Hof besuchte.“

Martin Echt weist zuvor auf einen Kirchenstuhl in Hohenaspe hin, der mit „Hinrich Kruse Anno 1629“ bezeichnet ist.
Den Nachweis, dass der Hinrich Kruse zu Drage mit dem später auftretenden Hausvogt in Krempe (bzw. Amt Steinburg) und Segeberg identisch ist, bringt Martin Echt nicht bzw. erwähnt nicht die Quellen seiner Schlußfolgerung.

Schenefeld Altar4. Über eine weitere bemerkenswerte “Entdeckung” in Zusammenhang mit Wiebeke Kruse berichtete Kuno Schuldt 9) aus Seestermühe schon vor einigen Jahren.
Auf dem Altar in der Kirche zu Schenefeld befindet sich einen Inschrift, die als Stifter dieses Altars einen Heinrich Kruse nennt und zwar mit dem Text:

„Anno 1637 hatt der ehrnvester und manhafter Heinrich Krause, königlicher Haußvoigt zur Crempe dieß Altahr Gott zu Ehren undt der Kirchen zum Zierath stafihren lassen.“

Die Indentität mit dem später als Wiebkes Bruder tätigen Hinrich in Segeberg steht wohl außer Zweifel und wirft sofort die Frage auf, warum spendet er, der nach der Bramstedter Geschichtsschreibung aus Föhrden kommen soll, der Kirche zu Schenefeld einen solchen Altar?

Schenefeld Kanzel Tafel Neben der Kanzel – ebenfalls von 1637 – ist eine Stiftertafel für diese Kanzel angebracht, auf der „Clawes Kruße zur Polße“ als vierter Stifter genannt ist. Kuno Schuldt zeigt auf, dass eine Familie Kruse zu der Zeit in Puls lebte und schließt daraus (und aus Hebungsunterlagen des Amtes Rendsburg), dass Puls die Heimat dieser Familie Kruse einschließlich Wiebeke sei und nennt sogar ein Geburtsjahr mit 1603.

Für das Geburtsjahr und diese Folgerungen fehlt die Angabe der urkundlichen Quellen.
Das Brücheregister von Schenefeld von 1608 (LAS Abt. 104) weist einen Detloff Kruse zu Pulse aus (lt. Dr. Nils Hansen, Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde , Universität Kiel).

Zu Detlef von Rantzaus Zeiten auf Drage und als Schirmherr der Kirche in Hohenaspe wurde die Kirche im 30jährigen Krieg nach schweren Verwüstungen renoviert. Dabei hat nach Martin Echt 8) Hinrich Kruse mitgewirkt (Beleg, Quelle nennt er allerdings nicht).
Baltzer von Ahlefeldt und später sein zweiter Schwiegersohn Detlef Rantzau waren beide Amtmänner im Amt Steinburg, das zeitweilig seinen Sitz in Krempe hatte. Hier war ein Hinrich Kruse Hausvogt.
Es ist naheliegend in ihm ein und dieselbe Person zu vermuten.
Da Martin Echt es mit großer Bestimmtheit aussagt, gilt es, seine Quellen nach dem urkundlichen Nachweis zu durchforschen. Kuno Schuldt verweist auf eine erste Erwähnung Hinrich Kruses in 1630 in Drage.

Der Hinweis Schuldts auf Puls als möglichen Geburtsort ist interessant, aber ähnlich unbewiesen, wie Föhrden.
Es ist allerdings bemerkenswert – wie oben schon erwähnt -, dass Hinrich Kruse die Kirche zu Schenefeld für seine großzügige Spende auserwählt hat.
War es “seine” Kirche im Sinne seiner Taufkirche? Das ist es wohl, was Kuno Schuldt meint.

War es auf Drage ?

Wie konnten Wiebeke und Christian der IV. zusammenkommen, wenn es nicht oder nicht nur die Begegnung an der Brücke in Bramstedt war?

Martin Echt und Kuno Schuldt sehen das Gut Drage und seinen Besitzer, Balthasar von Ahlefeldt, als Angelpunkt der Betrachtungen. Ahlefeldt war Nachkomme der Krummendiecks und verheiratet mit einer Nachfahrin Heinrich Rantzaus und war ein sehr vermögender und einflußreicher Mann und war ab 1615 als Amtmann in Rendsburg tätig, dazu gehörte auch das Kirchspiel Schenefeld.

Baltzer von Ahlefeldt war verheiratet mit Margarethe Rantzau einer Schwester der Magdalena Rantzau. Beide Rantzau-Frauen sind Töchter des großartigen Mannes seiner Zeit und königlichen Statthalters in den Herzogtümern, Heinrich Rantzau.
Magdalenas Mann, Claus auf Gelting, kaufte 1580 Drage und verkaufte es kurz darauf an Baltzer (Balthasar) weiter. Claus und Magdalena sind ferner Großeltern des Feldherrn Claus von Ahlefeldt, der später in zweiter Ehe die Tochter Wiebeke Kruses und Christian IV. heiratet.

Da Christian IV. gelegentlich auch bei seinen Amtmännern und wichtigen Beamten logierte, ist die Vermutung, dass Christian IV. Wiebeke auf Drage kennengelernt habe, nicht abwegig.
Und dass Wiebekes Tochter in die Ahlefeldts einheiratet, lässt schließen, dass zumindest die Kinder Christians, egal welcher Mutter, als hoffähig galten.

Antje Erdmann-Degenhardt 12) versucht die Schilderungen Johanna Mestorfs und die Drager Version des Martin Echt dergestalt in Einklang zu bringen, dass sie schreibt “Wiebeke, auf die der König bereits beim Wäschewaschen in Bramstedt aufmerksam geworden war, traf hier zufällig, als sie ihren Bruder besuchte, wieder mit Christian IV. zusammen. Daraus soll sich dann die Beziehung entwickelt haben.”

Noch mehr Kruses ?

Die Drager Version scheint einige Plausibilität zu besitzen und doch gibt es auch weitere Mosaikstücke in Bad Bramstedt zu finden.
Leider ist Hans Riediger verstorben, bevor sein geplanter dritter Band über Bramstedt erscheinen konnte. Den Nachlaß habe ich leider noch nicht ausfindig machen oder sichten können.
So bleibt die Veröffentlichung aus 1955-56
3) als Quelle weiterer Feststellungen. Die Auswertung ist nicht unergiebig.
Unter dem Hof Bramstedt finden sich Notizen (hier ergänzt um einige handschriftliche Notizen aus Hans Hinrich Harbecks Nachlaß):

Jürgen Kruse, gest. 4 Wochen vor S. Michaely 1638, getr. mit Engell N.;“
und danach
„Witwe Engell Krusen, getr. 2) Martini 1641 mit ; Johan Freymoth, gest. 3.3.1649, begr. 10.3.1649;“
und als deren Kinder
Ulrich Christian , geb. 1642, get. 9.p.Trin.1642,
Gev.: Clawes Redegeltt, Peter Hellertt. Von Itzeho F. Anna Krusen;
Ingeborgh, geb. 1643, get. 19.p.Trin.1643,
Gev.: Die Edle Viel Ehr und Tugentreiche Jungfer Elisabet Sophia Güldenloew, Zyllige Hellrichs und Marx Frouwen etc.;
Engelborgh, geb. 1646, get. 10.6.1646,
Gev.: Die Frauw. Pastorsche Mergreta Galenbeken, Dorothea Nißen, Hinrich Wilde aus Hamburgh ;“

In Jürgen Kruse kann man wohl den Verwalter des Gutes vor 1638 sehen, obwohl dies in Konkurrenz zur Aussage Harbecks 7) steht, dass Hinrich es gewesen sei. Jedoch die oben abgedruckte Urkunde von 1647 zeigt, dass Hinrich sich zwar aus seiner Funktion als Hausvogt um das Gut seiner Schwester kümmerte, aber ein Verwalter (in der Urkunde Johann Freymuht) vor Ort eingesetzt ist. Prange schreibt es auch so.
Die Gleichheit des Nachnamens im Stellenverzeichnis mit Wiebeke wird kein Zufall sein, sondern wir werden in Jürgen einen (nahen?) Verwandten zu sehen haben.
Nach dem Tod Jürgens heiratet die Witwe offenbar einen „Fremden“, wohl aus königlichem Umfeld, und bringt mehrere Kinder zur Welt.
dass das erste Kind Ulrich Christian heißt, lässt ebenso die Nähe zum königlichen Hof erkennen, wie die Patenschaft der Tochter Wiebekes beim zweiten Kind der Freymoths.
Wir sehen deutlich, dass Verwandte als Paten auftreten; bei dem ersten Sohn Ulrich Christian (so heißt auch Wiebekes Sohn mit Christian, der 1630 geboren wurde) eine Anna Kruse.
Ob es sich dabei um die Mutter Jürgens, eine Schwester oder evtl. die Frau zu Hinrich handelt, sei derzeit dahingestellt.
Die Ortsangabe ‘von Itzehoe’, die zu ihr oder dem Paten Peter Hellert gehört weist jedenfalls in Richtung Steinburg. Andererseits tritt 1633 eine Anna Kruse in Barl als Patin auf.

Nach Johan Freymoths Tod übernimmt Christopher Roepstorff die Verwaltung des Bramstedter Gutes. Über Freymoth (Freymuht) habe ich leider bislang nichts Näheres herausbringen können. Roepstorff hingegen entstammt einer Adelsfamilie aus Mecklenburg. Seine Mutter ist Sophie von Ahlefeldt, eine Schwester zu Claus von Ahlefeldt10). – Doch damit sind wir zeitlich schon weit nach Wiebekes Tod.

Als bemerkenswert ist noch anzuführen, dass Riediger einen Jürgen Kruse in 1640 als Vater der Abell Kruse (“von Weddelbrook”) nennt, als diese Hans Fuhlendorf heiratet. Als ihre Brüder gibt Riediger einen Hans und einen Marx an.3)
Vier Jahre später geht Jürgen Fuhlendorf (der Fleckensbefreier Jürgen Fuhlendorf) als Kind aus dieser Ehe hervor und trägt den Vornamen des Großvaters, wie es Tradition ist.
Ist hier gar eine Verwandschaft zwischen den beiden historischen Figuren Bramstedts zu vermuten? – Dies zu klären, ist eine reizvolle Aufgabe für weitere Forschungen.
Leider hilft Riedigers Arbeit aus 1955-56 hier nicht ausreichend. Das Stellenverzeichnis Weddelbrook wurde bislang nicht veröffentlicht und ein Teil der Eintragungen findet sich in den Kirchenbüchern in Kaltenkirchen.

Doch so einfach ist es nicht! 
(Text gestrichen aufgrund der neueren Forschungen; 2010)

So schön und plausibel sich die Teile in Holstein zusammenreimen lassen, so sehr hat auch das Argument Gewicht, dass Wiebeke zum Hofstaat von Ellen Marsvin (verheiratete Munk, Mutter der Kirsten Munk) gehörte.
Ob sie aus diesem Dienst heraus oder zuvor Christian kennengelernt hat, ist ungeklärt, aber auf jeden Fall muss eine Prüfung der Herkunft Wiebekes auch in diese Richtung gehen.
Da heißt es natürlich in Dänemark nachzugucken.

Ich hatte dazu zwar keine Gelegenheit im Sinne von wirklichem Quellenmaterial einzusehen, doch gibt es sehr informative Seiten im Internet zu den dänischen Adelsfamilien.

Dort 13) findet sich dann, dass Ellen Marsvin eine drei Jahre jüngere Schwester Else Jörgensdatter Marsvin hatte (geb. 5.6.1575 + 25.10.1632), die am 15.2.1596 in Koldinghus den Enevold Tygesen Kruse (* 28.10.1554 – + 8.3.1621) heiratete. Der Ehemann war von 1608 – 1618 Statthalter in Norwegen und Reichsrat. 14)

Enevolds Eltern sind Tyge Kruse und Birgitte Munk und Else bzw. Ellens Eltern sind Jörgen Marsvin und Karen Gyldenstierne. Hier findet sich also interessanterweise der Name Jörgen/Jürgen in der Familie.

Else und Enevold hatten mindestens zwei Kinder: einen Sohn Tyge ( * 2.4.1604 Stenalt + 2.2.1629) verheiratet am 12.6.1628 mit Karen Sehestedt 15) und einen Jörgen (* ca. 1595, + ca. 1668) verheiratet am 17.9.1626 in Kopenhagen mit Beata Joakimsen Bülow. 16).

Das beweist noch nichts zur Herkunft der Wiebeke, aber wir finden hier Kruses, die große Nähe zu Ellen Marsvin haben, bei der die ersten Nachweise für Wiebeke Kruses Existenz zu finden sind.

Wird es ein Bild ?

Aus diesen Bruchstücken ein Bild zu zeichnen, fällt nicht leicht. Eher beschreibt es Aufgaben, die es zu erledigen gilt, um Vermutungen beweisen oder widerlegen zu können.

Wiebeke Kruse Medaillon 1748Ein erster Ansatz muss sein, die Indentität zwischen dem Hinrich Kruse auf Drage und dem Hausvogt auf Krempe und Segeberg zu belegen bzw. auszuschließen.
Sodann sollte versucht werden, möglichst viele Daten über diese Familie und über den Lebensweg des Hinrich Kruse zu sammeln.
Die zur der Zeit in Puls ansässigen Kruses mögen der familiäre Bezug sein, sofern man Kuno Schuldt folgen will. Auf jeden Fall ist der Hinweis in diese Richtung weiterer Nachforschungen wert.
Ob und wann seine Schwester Wiebeke evtl. auch auf Drage (in Diensten?) war, und wie sich dies wiederum mit den Diensten bei Ellen Marsvin gedanklich vereinbaren lässt, bleibt eine offene wie spannende Frage für diese Forschungen.

Jedenfalls muss man die Drager Lesart (Echt/ Schuldt) ebenso hinterfragen, wie die Föhrden – Bad Bramstedter. Wobei zu der letzteren noch angemerkt sei, dass Christian IV. das Gut Bramstedt (in Nähe zu Föhrden) keineswegs gezielt ausgewählt haben soll, sondern eher allgemein den Auftrag erteilte, ein passendes Gut als Versorgung für Wiebeke zu finden (so Bramstedts Stadtarchivar Manfred Jacobsen). Es hätte somit auch ein anderes sein können, lagen doch zu der Zeit viele Güter im Nachgang des Einfalls Tillis und Wallensteins im Lande wirtschaftlich darnieder und waren zu kaufen.

Auch die Spuren aus dem Bramstedter Stellenverzeichnis gilt es zu verdichten. Es ist ja nicht auszuschließen, dass sich in dieser ganzen Geschichte zwei Linien Kruses kreuzen und die Weddelbrooker aus dem Umfeld der Wiebeke kommen und zugezogen sind, während die Föhrdener eine eigene sind.
Viele Hufen (Höfe) waren zu jener Zeit wüst (heißt ohne Bewirtschaftung), so auch welche in Weddelbrook.
So mag es sein – gewagte These, mehr nicht, ich gebe es zu – , dass Wiebke nach dem Erwerb des Gutes evtl. ihren Verwandten Jürgen auf eine dieser Hufen eingesetzt hat.
Jedenfalls findet sich der Vorname Jürgen zu der Zeit bei den Kruses in Föhrden (noch) nicht.
3)

Nicht unberücksichtigt sollte man bei den Forschungen lassen, dass die Bande der Familien auf Drage (Ahlefeldt/Rantzau) und Gelting (Ahlefeldt) eng gewesen sein müssen,.
Oben genannter Claus von Ahlefeldt (geb. 1614 in Gelting) war vor der Ehe mit Wiebekes Tochter mit einer Catharine Qualen verheiratet, die 1639 eine Tochter gebar und kurz darauf verstarb (in Lübeck?). Im Internet – www.reventlow.dk – ist als Geburtsort dieser Tochter ,Eleonora Christine‘ Bramstedt in Südtondern angegeben. – Das würde ich gern noch einmal verifizieren wollen, könnte es doch ganz neue Aspekte geben, wenn es unser Bramstedt wäre.

Und zur Vollständigkeit bleibt natürlich die dänische Line der Kruses zu überprüfen. Die Nähe zum Könighaus ist hier unübersehbar und würde sowohl für eine Maitresse wie für einen Hausvogt eine ausreichende Erklärung geben.

Mut zum Hinterfragen!

Doch damit genug der Aufzählung der Fundstücke und der Aufgaben.
Möge sich bald jemand über diese Ansätze hermachen und Richtiges erkennen und Falsches beiseite legen, so dass daraus ein Stück der „wahren Geschichte der Wiebeke Kruse – oder doch Vibeke Kruse?“ entsteht.
Und wenn dabei herauskommen sollte, dass es nicht mehr Föhrden ist, auf das sich Wiebekes Geschichte beziehen lässt, so müßten wir es mit Gleichmut nehmen. Johanna Mestorfs Roman bliebe auch dann eine schöne Erzählung und sie wird es mit Bedacht Roman und nicht Biographie genannt haben.
Das schöne Bild der Wäscherin an der Aue müßten die Bramstedter sich auch nicht nehmen lassen; die Stadt Bremen mit ihren Stadtmusikanten beruft sich ja z.B. auch nicht auf reale Ereignisse.
Ja, – und wenn nicht bald jemand an die Geschichte herangeht, ist das in gut zehn Jahren eine herausfordernde Aufgabe für mein Rentenalter.

Jan-Uwe Schadendorf

1) aus dem Kirchenarchiv in Bad Bramstedt
2) Hans Riediger, Die Bevölkerung des urholsatischen Kirchspiels Bramstedt, Dissertation Hamburg 1937
3)
Dr. Hans Riediger, Bramstedter Stellenverzeichnis, Manuskript in der Universitätsbibliothek Kiel, 1955
4) Dr. Hans Riediger, Bauernhöfe und Geschlechter, Roland-Verlag, Bad Bramstedt 1988
5) ebenda, S. 298
6)
Dr. Wolfgang Prange, Entstehung und innerer Aufbau des Gutes Bramstedt, ZSHG 1966, S. 121 ff
7) Hans-Hinrich Harbeck, Chronik von Bramstedt, Broscheck Verlag, Hamburg 1959, S. 268
8) Martin Echt, Die Krummendieks von der Bekau, Karl Wachholtz Verlag, Neumünster 1993
9) Kuno Schuldt, Zur Herkunft von Wiebke Kruse, in Scheswig-Holstein, 2/1987
10)
http://www.skislekt.no/adel/Anetavle/aner0001.htm
11) http://www.familysearch.org
12) Antje Erdmann-Degenhardt, Vortragsmanuskript 23.6.1997, “Wiebeke Kruse, die „Amasia“ Christians IV., eine Frauengestalt des 17. Jahrhunderts” und im “Bauernblatt” 13.2.1996
13) http://www.jensg-family.dk/family/d_1911.html (Seite ist umgezogen:
http://www.jensg-family.dk/DefaultNew.asp)
14)
http://www.roskildehistorie.dk/stamtavler/adel/ Kruse/Kruse.htm
15) http://www.familysearch.org
16) http://www.lysator.liu.se/runeberg/dbl/9/
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Bendixen: Schwierige Jahre, Erzählungen aus dem Bad Bramstedt 1939 – 1946

Peter Bendixen, aufgewachsen in Bad Bramstedt und später Professor in Hamburg und anderen Städten, schireb 1983 seine Jugenderinnerungen an das Bad Bramstedt in der “brauen Zeit” und den Kriegsjahren nieder. Ein subjektiver Bericht aus den Augen des Kindes, wie er selbst sagt. Dennoch sehr aufschlussreich und ein Stück erlebter Zeitgeschichte. Peter Bendixen gestattete mir, dieses Buch hier abzudrucken.
Dafür danke ich und hoffe, es löst manch weitere Erinnerung aus, die man mir gern mitteilen darf.

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Für Kathrin  -meine Tochter

Peter Bendixen

Schwierige Jahre
– Erzählungen –

Die Jahre, die man die unseligen nennt

   Wie man mit Obrigkeiten umzugehen hat, lernt man schon als Kind. Es sind die Erwachsenen, die es lehren, wenn sie – schlechte Schauspieler, die sie meistens sind – angesichts einer Amtsperson oder sonstwie uniformierter Würde ein paar Schritte auf Distanz gehen, bedeutend leiser sprechen und ihre Gesichter sich maskieren.
Gerade eben noch haben sie über die Stützen der Obrigkeit gespottet oder gelästert, vielleicht sogar gedroht oder verächtlich die Nase gerümpft. Schon stehen sie da und kuschen oder schmeicheln oder wissen ihre Furcht vor denen, die durchgreifen könnten, nur hinter steifer Haltung zu verbergen. Ob sie wohl glauben, daß Kinder dafür keinen Spürsinn haben, daß ein – sagen wir – Sechsjähriger nicht merkt, was sich an Vater oder Mutter oder Nachbar Schmidt plötzlich verändert, nur weil eine Uniform, eine grüne oder braune, vor ihnen steht?
Ich kann mich nicht erinnern, daß die Erwachsenen meiner Umgebung damals in den Jahren, die man später die unseligen nennen würde, bei irgendeiner Gelegenheit einmal laut und aus dem sicheren Instinkt für Unrecht einer Amtsperson, einem jener Parteihelden mit dem stählernen Blick oder einem jener, in Sachen Volk und Rasse so vorlauten Lehrer widersprochen hätte. Es muß wohl auch in einer Stadt wie Bad Bramstedt zu der Zeit lebensgefährlich gewesen sein, als Volksgenosse „aus der Rolle“ zu fallen.
Ob mehr die Angst oder überzeugte Zustimmung zu den nationalsozialistischen Ideen dahinterstand: Widerspruch oder gar Widerstand gegen offene uniformierte Willkür, feige Denunziation oder Gewalt gegen Wehrlose habe ich nicht erlebt. Was nicht sagen will, daß es das nicht gab, anderswo in der Stadt oder im Land. daß unser Nachbar sich einen Sozialdemokraten zu nennen traute, empfand meine Mutter als unvorsichtig, mein Vater als dreist und als unnötige Gefährdung der persönlichen Sicherheit.
Jene Jahre, die so schnell der Dämmerung des Vergessens verfielen, auch wenn sich die Historiker immer wieder um ihre Aufhellung bemühten, ohne allerdings ihre oft viel zu hohe Warte zu verlassen, jene Jahre also sind mir bis heute in mancher Hinsicht rätselhaft geblieben, schwer zu greifen in ihrer alltäglichen Wirklichkeit. Wie haben wir gelebt, wie haben wir die Stimmungen, die Launen und Merkwürdigkeiten, das oft unerklärliche und im Hintergrund immer mitschwingende bedrohliche Geschehen im täglichen Kleinkram erlebt? Was haben wir als Kinder davongetragen an unverarbeiteten Erfahrungen und unbeantwortet gebliebenen Fragen?
Ich schreibe nicht Geschichte, wie sie der Historiker abfassen würde, sondern erzähle Geschichten von unten her, aus dem Blickwinkel des Kindes im Alter von sechs bis zwölf oder vierzehn Jahren hinauf in die Gesichter der Erwachsenen und von dort hinauf in das, was es dahinter vermutete, die Stockwerke des braunen Machtgebäudes, dessen Erdgeschoß auch in Bad Bramstedt fußte und an dessen ferner Spitze die Vorsehung hockte, die in Gestalt des Führers Adolf Hitler das Glück des deutschen Volks schmieden ließ.
Aufmärsche der SA, die Trommeln und Fanfaren, das Horst-Wessel-Lied, Antreten auf dem Schulhof und bei zum Hitler-Gruß erhobener Hand längst vergessene Lehrerworte entgegennehmen, Geländespiele, Lagerfeuer, Heldenlieder und Umzüge durch die Stadt bei den Pimpfen, das alles sind Ereignisse, die keine Geschichte machten, jedenfalls keine große. Aber sie waren Geschichte. In ihnen wurde alltäglich, was sich in den Geschichtsbüchern von heute hinter so starken Begriffen wie Rassismus und völkisches Pathos, politische und kulturelle Unterdrückung und bedingungslose Ausrichtung der Jugend auf den Mythos „Staat“ verbirgt.

   Der Zufall wollte, daß Hitlers Machtergreifung und meine Geburt in daßelbe Jahr fielen, zwei Ereignisse von wahrlich unterschiedlicher Bedeutung. Was die ersten Jahre angeht, hat mein Gedächtnis die Gestalt eines Puzzles, dem etliche Bausteine fehlen. Es sind Lücken vorhanden und manche Erinnerungen passen nicht recht zueinander. Aber die Wirklichkeit selbst war und ist wohl auch so widersprüchlich.

   Anderes, woran ich mich deutlich erinnern kann, hat die Schärfe eines Fotos aus gegenwärtigen Tagen, unvergilbt und farbig. Es sind Erlebnisse, die sich – obwohl sie dreißig oder vierzig Jahre zurückliegen – wie innere Dokumentarfilme abspulen lassen. Die Eindrücke der Zeit, die zuerst nur von Ferne her als obrigkeitlicher Hintergrund, später aber lärmend und halsbrecherisch die ersten zwölf Jahre meines Lebens bestimmten, waren stark und blieben bis heute lebendig.

In den Jahren von 1933 bis 1945 war ich Kind, Schüler und Pimpf. Das ist ein Alter drängender kindlicher Wißbegierde. Aber die Erwachsenen konnten oder mochten sie nicht befriedigen. Sie ließen viele Fragen unbeantwortet, schwiegen lieber oder fanden Ausreden, manchmal tuschelten sie oder verschlossen sich, indem sie den Zeigefinger über die zugekniffenen Lippen legten, mit den Augen zwinkerten oder sich einfach wortlos umdrehten und weggingen.
Vielleicht ist überhaupt dies die stärkste Prägung gewesen: die niemals ausgeräumten Gegensätze, die niemals überbrückte Kluft zwischen immer bohrender werdenden Fragen und dem nervösen Schweigen oder den durchschaubaren Ausflüchten. Das für Erwachsene gewiß löchernde „Wie kommt es, daß …?“ wurde in unzähligen Varianten mit einem „Es ist, wie es ist!“ gedämpft. Zurück blieb das ahnungsschwere Gefühl: irgendetwas muß doch dahinter sein.

   Die örtliche Obrigkeit in Gestalt eines diensteifrigen Polizisten war die früheste Begegnung mit der neuen Ordnung, und eine leibhaftige zugleich. Die Sache, in die ich meine Mutter als Sechsjähriger hineinzog, klingt harmlos, fast heiter. Damit beginne ich zu erzählen.
Auch andere Geschichten haben ihre komischen Seiten gehabt, bei aller Dramatik im Hintergrund. Das Tragische und Verbrecherische dahinter zu erkennen, setzt die Erkenntnisfähigkeit des Erwachsenen voraus, der ich damals nicht war. Selbst die Frage, was sich wirklich im KZ Neuengamme ereignet hat, eine Frage, zu der ich kurz nach dem Krieg einen bestimmten Anlaß hatte, kam mir in ihrer ganzen Tragweite erst später ins Bewußtsein. Diese Begebenheit führt mit ihren Nachwirkungen weit über das Jahr 1945 hinaus. Von ihr erzähle ich zuletzt.

Amtlich als nicht geschehen zu betrachten

Liethberg_19020629   Vor zwei oder drei Jahren, auf der Suche nach fehlenden Bausteinen meines Gedächtnisses, begann ich das Puzzlespiel der Rekonstruktion meiner Kindheit vor meinem Geburtshaus in Bad Bramstedt, einer mittel­holsteinischen Kleinstadt. Da stand ich eines Tages vor der Kulisse meiner frühesten Kindertage. Bis 1940 bewohnten wir den zweiten Stock des Hauses vor mir.
Ich ging nicht hinein. Mir genügte die weißgraue Fassade hinter dem gepflegten Gitter, mir bei geschlossenen Augen vorzustellen, wie es damals dahinter war.
Von der Küche her sehe ich in den Garten hinunter, fühle die Wärme des Herdes rechts neben mir, höre meine Mutter hantieren, halte mir die Ohren zu, weil sie schreit, als ihr ein Plattfisch aus der Bratpfanne springt, sehe meinen Vater herbeistürzen und laut, tief und genüßlich lachen.
Ich kann meinen Blick wandern lassen von der Küche durch den kurzen dunklen Flur ins Wohnzimmer. Im Gegenlicht schweben Rauchschwaden von Zigarren, die ich zu greifen versuche, es mißlingt, aber es riecht nach Vater. Zigarrenrauch blieb es bis an sein Lebensende, was ich immer zuerst wahrnahm, wenn Vater in der Nähe war.
Ich stöbere auf dem Fußboden in Klötzen und hölzernen Figuren, an den Wänden meines Zimmers ragen riesige bunte Stiefmütterchen auf Tapeten hoch hinauf, durch das offene Fenster dringt das Rufen der Meisen vom Garten her herein.

   Damals brach dichtes Gebüsch den Blick von der Straße her auf das Haus und den Garten. Ich konnte hineinkriechen, mich verschlucken lassen, wenn ich nicht gesehen werden wollte. Ich schlüpfte aus der Haustür, lief weit in den Garten hinein, schlug mich nach rechts oder links in die Hecke und arbeitete mich seitlich am Haus vorbei an die Straßenfront allen ungebetenen Blicken entzogen.
Wie oft habe ich mich als Kind auf diesem Weg davongespielt! Wie oft habe ich aufgeregt in dieser grünen Höhle- gehockt, den Atem anhaltend, bewegungslos, wenn meine Mutter nach mir rief, vom Balkon herab mit vorgehaltenen Händen. Dann habe ich auf ihr „Ach, dieser Junge!“ gewartet, auf ihre trappelnden Schritte treppab, darauf, wie sie den Kiesweg entlang auf die Straße knirschte. Entfernte sich ihr Rufen weit genug, schlich ich ins Haus und freute mich auf mein „Hier bin ich doch!“, wenn sie keuchend zurückkehrte.
Viel hatte sich nicht geändert in all den Jahren seitdem. Der Vorgarten erschien mir jetzt gepflegter, die Fassade belebter, nur alles viel kleiner als in meiner Erinnerung. Die heutigen Bewohner kannte ich nicht.
Die Bilder in meinem Gedächtnis aus diesen frühen Tagen sind eine Schmelze aus wirklichen Erlebnissen und lebhaften Erzählungen meiner Mutter, da verschwimmen erlebte Szenen, Figuren und Empfindungen mit den verklärenden Vorstellungen, die sich nach und nach mit jedem wiederholten Weiß-du-noch festigen. Aber täuschen wir uns nicht! Nicht die Wirklichkeit, sondern die Bilder von ihr, die wir uns machen können oder die uns manchmal aufgezwungen werden, sind es, die den Weg des Lebens bestimmen.
Meine Mutter gab sich große Mühe, so oft ich von ihr die Geschichten meiner kindlichen Helden- und Untaten abforderte, keine Einzelheiten zu übersehen oder in anderen Worten und Wendungen als gewohnt zu schildern. Ich achtete scharf darauf und monierte jeden Fehler.
Das Vergnügen an diesen Geschichten lag für mich nicht in überraschenden Wendungen, wie sie der Erwachsene liebt, der Entspannung in einer unvermuteten Pointe sucht. Ich war gierig nach dem Gefühl, ganz bestimmt derselbe zu sein, der darin auf eine immer wiederkehrende, mütterlich bestätigte Weise vorkam. Mich im Mittelpunkt eines dramatischen Geschehens wiederzuerkennen, das muß wohl mein Bedürfnis gewesen sein.
An viele Begebenheiten, ernste und heitere, kann ich mich so erinnern. Eine davon, deren Komik mir erst viel später aufging und an die ich dachte, als ich vor dem Haus stand, ließ mich schmunzeln. Damals allerdings hätte mich Lächeln oder auch nur die Andeutung einer erheiterten Miene zutiefst verletzt. Meine Mutter ahnte das wohl. Sie brachte das erzählerische Kunststück fertig, das Komische der Geschichte von mir auf andere beteiligte Personen abzulenken.
Es ging um meinen sechsten Geburtstag, der sich noch hier in diesem Haus abspielte. Wenige Monate später zogen wir innerhalb der Stadt um. Es war ein Kindergeburtstag mit kriegerischem Hintergrund.

   Am dritten September 1939 endete mein sechstes Lebensjahr und begann der Zweite Weltkrieg, etwas genauer: der Kriegseintritt Englands und Frankreichs.
Der Zufall stellt manchmal merkwürdige Daten zusammen. Natürlich war für mich mein Geburtstag wichtiger als der Kriegsausbruch. Was konnte ich schon wahrnehmen von den drohenden Veränderungen. Oder? Hatten sich vielleicht die stille Angst und Niedergeschlagenheit meiner Mutter auf mich übertragen? Der ferne Donner der Weltgeschichte grollte, für mich unhörbar, und schwappte mit einem einschneidenden Ereignis in unser Familienleben hinein, für mich unfaßbar: man holte Vater zu den Soldaten.
Gerade war er im Sommer des Jahres aus dem Sudetenfeldzug zurückgekehrt, hatte für ein paar Wochen seine gewohnte Arbeit wieder aufgenommen, da brach er erneut mit seiner Kriegsverkleidung den familiären Frieden.
Sein Abschied am Nachmittag vor meinem Geburtstag nahm mir die kindliche Freude auf. die Stunden, in denen er mit mir spielen sollte, was ich wollte. Er hatte es versprochen.
Ich muß den Vorfall über Nacht wieder vergessen haben, denn der Schrecken und die Enttäuschung setzten erst am frühen Morgen des dritten September ein. Stürmisch rannte ich ins Wohnzimmer auf den kleinen Tisch mit dem hölzernen Ring zu, auf dem sechs Kerzen brannten. Erst nach einigen Sekunden bemerkte ich, daß Vater fehlte.
Meine Mutter erkannte wohl, wie fassungslos ich war, denn ich rührte die ausgebreiteten Geschenke nicht an . Sie kam zu mir herunter, ergriff meine Hände und sprach ganz ruhig auf mich ein. Sie erinnerte mich an Vaters Uniform, an seinen kriegerischen Auftritt am Tag zuvor, als wäre das eine alltägliche Sache oder so etwas wie Theaterspielen.

   Wie hätte sie mir begreiflich machen können, daß es ja gar nicht in Vaters Belieben stand, hinzugehen oder zu Hause zu bleiben. Ich muß es wohl anders gesehen haben, muß wohl daran gedacht haben, daß er gerade erst weggewesen war, gab mich nicht zufrieden mit ihren Erklärungen.
„Aber er war doch schon im Krieg“, hielt ich ihr vor.
„Ja, aber er muß noch mal kurz wieder hin. Der Krieg ist noch nicht zu Ende. Es wird bestimmt nicht lange dauern.“
Sie konnte nicht ahnen, daß ich zwölf sein würde, bis er heimkehrte, und welche Schwierigkeiten ich haben würde, ihn dann noch als Vater anzunehmen.
„Er hätte ja noch ein bißchen warten können“, sagte ich. Nur langsam ebbte mein Aufbegehren gegen Vater willkürliches und rücksichtsloses Weggehen an meinem Geburtstag ab.

   Den Vormittag hindurch vergaß ich den Krieg, die Uniform mit Vater darin, eignete mir die neuen hölzernen Figuren an, überwand im Spielen die Stunden bis zum Mittagessen, ohne an die entstandene Lücke in der vertrauten Runde zu denken. Erst bei Tisch wurde ich angesichts des leeren Stuhls still, verweigerte das Essen und trotzte meiner Mutter. Ihre Hände zitterten, als sie mir den Kopf streichelte, ihre Stimme klang wellig, als sie auf mich einredete, braune Haarsträhnen waren ihr über die Augen gerutscht. Sie strich sie zurück und nahm ein bißchen von der Nässe in ihren Augen mit. Ich fühlte: dieser Krieg, genau an meinem Geburtstag, mußte irgendetwas Wichtiges, etwas, was die Erwachsenen aufregte, sein. Es beschäftigte mich: was ist das, ein Krieg?
Nach dem Mittagessen stahl ich mich durch die Haustür in den Garten, krabbelte die Hecke entlang und durchbrach das Gebüsch zum Bürgersteig vor dem Haus.
Nachbarn beobachteten, wie ich mit marschähnlichen Schritten und Vaters Spazierstock, schräg über die Schulter gelegt, die Straße entlangzog, wie ich es wohl von den braunen Aufmärschen her kannte. Mag sein, daß ich dabei gesungen oder gepfiffen habe.
Zuerst folgten mir einige Kinder. Doch als ich meinen Weg am Ende der Straße hinter der alten Kornmühle unbeirrt fortsetzte, blieben sie zurück. Jetzt begriffen sie, ich machte Ernst aus meiner Ankündigung, ich wolle in den Krieg ziehen, um‘ meinem Vater zuzusehen. An der Mühle blieben sie stehen, staunten und schauten meinem Verschwinden zu. Beim Umblicken von Zeit zu Zeit sah ich sie immer kleiner werden.
Ich wußte natürlich nicht, wo der Krieg zu sehen sein würde, folgte einfach der Hauptstraße nach Hamburg. Über die Stunden danach sind mir nur bildhafte Bruchstücke in Erinnerung geblieben.
Kolonnen von Fahrzeugen rumpelten an mir vorüber. Soldaten winkten, lärmten und sangen. Nach einiger Zeit fiel mir plötzlich auf, wie weit ich die letzten Häuser der Stadt schon hinter mir gelassen hatte. Ich bekam Angst.
Irgendwann zwang mich die Müdigkeit buchstäblich in die Knie. Eine Zeitlang hockte ich unter Gebüsch verborgen am Straßengraben und machte mir ein Spiel daraus, die Hände vor die Augen zu halten, den anschwellenden Geräuschen herannahender Militärfahrzeuge zu lauschen und sie durch einen schmalen Spalt zwischen den Fingern vorbeihuschen zu sehen.
Plötzlich tauchten vor meinem Visier zwei große, schwarze Stiefel auf. Ich nahm meine Hände von den Augen und sah, wie aus den Stiefeln eine Amtsperson herausragte.
„Mitkommen!“ kam es von oben herab.
Als ich aufblickte, erkannte ich hinter dem Schnurrbart, den beiden großen Nasenlöchern und der Art, wie der Helm über die buschigen Augenbrauen hinausragte, Wachtmeister Kress [Glass], die wichtigste Person der Stadt.
Er kannte mich gut, denn er wohnte uns schräg gegenüber. Dennoch fragte er mich nach Namen und Adresse und wollte präzise wissen, weshalb ich unterwegs sei. Über alles machte er Notizen. Dann knallte er mit mahnender Miene die beiden Hälften seines Notizbuches aufeinander, ergriff sein Fahrrad, setzte mich auf den Sattel und schob mit mir ab.

   Meine Mutter hatte unterdessen mein Verschwinden bemerkt, wenn auch erst nach mehr als zwei Stunden. In ihrer Angst und Verzweiflung vor dem drohenden Unheil des ausgebrochenen Krieges hatte sie sich in die Stille des Wohnzimmers zurückgezogen. Dann war ihre Schwester erschienen, deren Mann das gleiche Schicksal getroffen hatte. Die beiden verloren sich eine Zeitlang in gegenseitigem Trost, bis meine Mutter an meinen Geburtstag dachte und sich aufraffte, mich hereinzuholen.
Da sie mich nicht fand, verließ sie das Haus, um das längst durchschaute Spiel mit mir zum x-ten Mal zu wiederholen. Sie rechnete damit, ich würde heimlich ins Haus schleichen, um sie dort mit kindlichem Stolz über die gelungene Überlistung zu empfangen. Aber diesmal spielte ich nicht mit, und ihr wurde ernst zumute. Sie überlegte gerade, wohin ich mich getrieben haben könnte, da klingelte es.
Als sie öffnete, erschrak sie. Vor ihr stand aufrecht und unbewegt wie ein Denkmal Wachtmeister Kress. In seiner linken Hand umklammerte er meinen rechten Unterarm wie eine Handschelle. Die andere benötigte er, um den damals gebräuchlichen Gruß mit ausgestrecktem Arm und geöffneter Faust so exakt wie möglich auszuführen.
„Ist das Ihr Sohn?“ fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen und drohendem Unterton.
„Ja, ja, aber das wissen Sie doch.“ Sie war etwas eigenartig berührt von diesem amtlichen Auftritt unseres Nachbarn.
„Ich habe ihn an der Hamburger Straße etwa dreieinhalb Kilometer außerhalb der Ortsgrenze aufgegriffen, nachdem er von vorbeifahrenden Militärfahrzeugen gesichtet und der Polizei gemeldet worden war. Er behauptete, in den Krieg ziehen zu wollen.“
Wachtmeister Kress zitierte diese Sätze aus einem Papier, das unzweifelhaft ein polizeiliches Protokoll war. Um die Situation zu entkrampfen, ließ meine Mutter mit einem verschmitzten Lächeln die Worte fallen:
„Sozusagen der erste Kriegsgefangene dieses Feldzugs.“
Der Wachtmeister kniff die Augen zusammen und erklärte trocken, das sei eine nicht amtliche Bemerkung, die er nicht gehört haben wolle.
Dann forderte er meine Mutter auf, das Protokoll zu unterschreiben. Er habe pflichtgemäß den Vorfall amtlich machen müssen, das sei nun mal Vorschrift. Dabei wies er auf mich und erklärte:
„Er da als Minderjähriger ist zur Unterschrift nicht befugt. Das geht nicht, das müssen Sie schon machen.“
Meine Mutter weigerte sich. Schließlich war sie weder Zeugin noch Mittäterin gewesen. Kress wurde erst unsicher, dann obrigkeitlich.
„Protokolle ohne Unterschrift sind dienstlich nicht verwertbar“, erklärte er. Es folgten Andeutungen über verletzte Aufsichtspflichten, ernste Konsequenzen und über die Unvermeidlichkeit einer Anzeige.
Da blickte meine Mutter ihm langanhaltend unter den Helm, drehte ihren Kopf bedeutungsvoll in Richtung auf das Haus schräg gegenüber und sprach, ohne das Wort Nachbarschaft zu gebrauchen:
„Es ist eine sehr kluge Dienstvorschrift, einen Vorfall, über den es keine Unterschrift gibt, amtlich als nicht geschehen zu betrachten.“

  Diese listige Bemerkung entwaffnete ihn, und so fand meine eigenmächtige Beteiligung am Zweiten Weltkrieg ein rasches Ende.

Damit wollen wir nichts zu tun haben

   Das Haus, das wir 1940 bezogen, lag am Südhang eines mit alten Bäumen bestandenen Höhenzuges.
Es ist längst verschwunden, an seiner Stelle steht heute ein vielstöckiges Hochhaus, als ob die einzigartige Lage sich durch vervielfachten Mietzins ausbeuten ließe.
Die meisten der alten Bäume leben noch, indessen um das Doppelte überragt vom nüchternen Zeugen einer kalkulierenden Zeit.

   Das alte Haus war, mit den Augen eines Erwachsenen gesehen, potthäßlich, so als ob der Architekt mitten im Entwurf die Lust verlor und nur noch zu Ende brachte, was bis dahin aufs Papier geraten war.
Ein zweistöckiger, grauer Klotz mit einem flachen, geteerten Satteldach. Das untere Stockwerk besaß in der Mitte einen balkonartigen, hölzernen Vorbau, dessen Stützpfeiler weit hinunterreichten, denn an der Frontseite des in den Hang hineingeschobenen Hauses ragten die Kellerräume aus dem Boden.
Der Putz war altgrau und rissig, der Vorbau brüchig und hoch hinauf mit Wein berankt, der in manchen Jahren süße Trauben hervorbrachte. Zu beiden Seiten dieser Konstruktion starrten zwei große Fenster.
„Von weitem sieht das Haus aus wie Vater.“ Ich erinnere nicht mehr, welche Träumerei mir Pate stand, als ich siebenjährig solche Belebungsversuche an einem toten Gegenstand machte. Sicher war es nicht Bosheit, wahrscheinlich suchte ich eine Gedächtnisbrücke zu dem, der mir fehlte.
Ich war erschrocken über die heftige Reaktion meiner Mutter. Sie war stehengeblieben, starrte für einen Moment auf das in der Ferne aus einem Schopf von Baumkronen hervorlugende Haus und eilte plötzlich mit energisch trappelnden Schritten weiter, mich hinter sich herzerrend.
„Was fällt dir ein! Sowas darfst du nicht sagen!“
Der Vergleich behagte ihr nicht, aber im Tonfall ihrer Stimme konnte ich Verwunderung mithören, aus ihrer plötzlichen Eile auf Betroffenheit schließen. Sie schien zu hoffen, daß mit rascher Annäherung an die Visage des Hauses jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen von selbst verlöschen würde.
Der Vergleich war verwegen, aber war er so abwegig? Thronte nicht Vaters hochgeschorenes, glatt mit einem Mittelscheitel zurückgekämmtes, schwarzes Haar über seiner hohen Stirn wie ein geteertes Satteldach? Hatte er nicht selber einmal seine große Nase scherzhaft seinen Balkon genannt? Und seine buschigen Augenbrauen, waren sie nicht wie Weinlaub, das über die Fenster hinausrankte?
Für mich blieb es dabei: das Haus besaß irgendwie Vatereigenschaften, es blickte so von oben herab, gelassen und unverrückbar.

   Vom Hang her und überragt vom wolkigen Geflecht der Baumkronen beherrschte das Haus (oder wie ich es insgeheim wohl immer noch empfand: Vaters Gesicht) eine ausgedehnte Gartenanlage. Weit dem Lärm der Straße entrückt, hätte es beinahe gutsherrlich wirken können, hätte es nicht so klotzig und kantig, so zerknirscht und faltig dreingeblickt.
Das Wichtigste in diesen verspielten Jahren war für uns Kinder: es belebte, regte an, weckte Neugierde und bot Geborgenheit. Die unzähligen Winkel im Garten und unter den hohen Bäumen am Hang, unter Gebüschen und Sträuchern waren Zufluchtsorte und Schlupfwinkel, im Spiel wie im Ernstfall.
Sie tarnten gegen Indianer oder räuberische Suchtrupps, man konnte sie sekundenschnell aufsuchen, wenn plötzlich von irgendwoher Tiefflieger auftauchten, man konnte von dort aus die letzten Bomber beobachten, wenn sie die Stadt überflogen hatten. Oft drang aus einem dieser Verstecke nachgeahmtes Motorengeheul aus kindlichen Kehlen, zum Mißvergnügen der Erwachsenen, die verschreckt reagierten, weil es echt klang.
Verstecken blieb lange Zeit hindurch das tägliche Spiel mit den Nachbarskindern. Wir haben uns darin die Ängste vertrieben, die der bedrohliche Kriegsalltag hervorrief. Wer sich geschickt genug verbergen oder tarnen konnte, blieb nicht nur Sieger im Spiel, sondern übte sich unbewußt in einer Überlebenstechnik, die Tag für Tag zum höllischen Ernst werden konnte.
Rennen, solange gezählt wurde, ins Versteck hineinschlüpfen, wo man nicht gesehen wurde, selbst aber hinausäugen konnte, den Atem anhalten und wie tot erstarren, daß man sein Herz klopfen hören konnte, wenn ein Jäger auf das Versteck zuging. Das war gespielter Ernstfall oder der Wirklichkeit entliehenes Spiel.
Oft mußte ein Spiel abrupt abgebrochen werden wegen Alarms oder gegen Ende des Krieges auch wegen unangekündigter Angriffe von Tieffliegern, die auf alles Bewegliche schossen. Der Übergang vom Spiel zum Ernst gelang geübt. Aber alles, was wir taten, wurde zu etwas Vorläufigem, zu etwas jederzeit Aufzugebendem. Vieles wurde im Spielen begonnen und nie zuende gebracht.
Ich erinnere mich genau, wie sehr ich mich in jenen Jahren in Tagträumen aus der Wirklichkeit stehlen konnte , aber dennoch ständig zu plötzlicher Flucht, zu blitzschnellem Aufsuchen des nächsten Versteckes bereit war.

   Wie nötig es damals war, aus dem Stand heraus umzuschalten und Schutz zu suchen, brachten mir zwei Erlebnisse nahe.
Eines Morgens hatte sich unsere Nachbarin mit einer Gruppe von Menschen aus der Stadt zu Fuß auf den Weg zum nächsten Ort gemacht, weil der öffentliche Nahverkehr nicht mehr funktionierte. Sie wollten „organisieren“, wie das damals hieß. Erst zwei Tage später kehrte sie zurück, mit einem dicken Verband um einen Oberschenkel und einem Geschoß in der Hand, um es uns als Beweisstück zu zeigen. Tiefflieger hatten die Gruppe angegriffen. Sie waren noch in den Straßengraben gesprungen, aber zu spät. Es gab einen Toten und mehrere Verletzte.
Ein anderes Mal marschierte ich mit einem Trupp Pimpfe über einen langen, hohen Bahndamm, um den Weg in ein Moorgebiet abzukürzen. Wir waren zur Mithilfe beim Holzsammeln und Torfstechen eingesetzt. Plötzlich dröhnten hinter uns Flugzeugmotoren. Kaum hundert Meter über den Gleisen rasten zwei Tiefflieger heran. Mit ihren Bordkanonen beschossen sie die ganze Dammstrecke. Blitzschnell ließen wir uns zu beiden Seiten des Bahndamms niederrollen. Niemand von uns wurde getroffen. Aber auf dem Rückweg am Abend mieden wir so ungeschütztes Gelände wie Bahndämme oder freie Feldwege. Erst spät in der Nacht kam ich nach Hause, von meiner zu Tode verängstigten Mutter heftig beschimpft und beinahe versohlt.

   Tägliche Anlaufstelle und Ausgangspunkt unserer Versteckspiele war eine verwilderte Grünanlage, die sich zwischen unserem Grundstück und der Straße als ungefähr fünfzehn Meter breiter Streifen einschob. Sie galt als neutrales Territorium. Wer aus seinem Versteck unbemerkt hierher flüchten konnte, hatte sich selbst aus der Gefahr befreit, gefangen genommen zu werden. Jahre hindurch haben wir diesen Platz für uns besetzt.
Unsere Spiele ließen auf diesem Gelände tiefe Spuren zurück, Trampelsteige und ausgetretene Flächen, die die ursprüngliche Ordnung verhöhnten. Aber ohne uns hätte die Anlage für unbelebt, für aufgegeben angesehen werden müssen. Die schmalen Steige zwischen verunkrauteten Beeten waren mit Gras zugewachsen, seit Jahren hatte sich hier niemand mehr ordnend und pflegend zu schaffen gemacht.
In der Mitte erhob sich auf einem gemauerten Sockel ein tonnenschwerer Feldstein. Keine Inschrift war eingemeißelt, keine Tafel mit einem Namen und einer Jahreszahl angebracht. Nichts, einfach ein mächtiger Granit, unbehauen und von einer grünlich schimmernden Flechtenschicht überzogen.
Welchen Sinn dieser Stein hatte, wußte von uns Kindern niemand, jedenfalls sprachen wir nicht über ihn. Er war eben da, diente uns als Mal und das genügte uns. Was sollten wir danach fragen? Und von selbst sprachen die Erwachsenen nicht über Sachen, die zu wissen nicht lebensnotwendig waren oder sogar lebensgefährlich werden konnten.
Ich hörte einmal meinen Vater sagen, als er für ein paar Tage auf Urlaub war:
„daß der Alte nebenan immer so laut ausposaunt ‚ich bin Sozialdemokrat und werde es immer bleiben‘ kann ihn noch mal teuer zu stehen kommen.“
Er sah meine Mutter dabei sehr ernst an, seine Stimme klang mahnend wie die meines Lehrers, er saß, beide Arme auf die Lehnen gelegt, in seinem Sessel wie auf einem Thron. Nach einer Weile fuhr er fort:
„Es ist besser, du weißt nichts davon, laß ihn reden, das ist seine Sache. Und überhaupt, geh ihm lieber aus dem Weg, jedenfalls in der Öffentlichkeit.“
Der Alte, damit war unser Nachbar, Herr Schack, [Gustav Schatz] gemeint. Er paßte auf wie ein Luchs, daß keine Kinder in seinen Garten rannten oder seine Obstanlagen gar zu Verstecken herabwürdigten. Dann schimpfte er minutenlang hinter uns her. Aber es kam ebenso oft vor, daß er einem von uns wortlos einen Korb Erdbeeren oder eine Schüssel reifer Pflaumen über den Zaun reichte.
Da er gern über sich und die „alten Zeiten“ sprach, wartete er oft an einer kahlen Stelle der Fliederhecke, die unsere Grundstücke trennten, bis meine Mutter oder jemand anderes sich blicken ließ.
Die „alten Zeiten“: in ihnen lebte für ihn das Hamburg der Weimarer Republik weiter. Er schwärmte davon nicht nur in Worten, sondern schwelgte darin in weit ausholenden Armbewegungen und theatralischer Körperhaltung, wie wenn er eine Ansprache an eine unsichtbare Versammlung hielt. Meine Mutter ließ es über sich ergehen, wenn sie von ihm erwischt worden war, aber ich sah, sie quälte sich. Für mich waren diese Geschichten nicht spannend, ich verstand sie gar nicht und zog es deshalb vor, in Deckung zu bleiben oder wegzurobben, wenn ich seinen weißen Haarschopf mit der Schirmmütze hinter der Fliederhecke entdeckte.
Einmal gelang es ihm doch, mich ranzuwinken. Er erzählte mir, wie gern auch er als Kind achtzehn -hundertirgendwann Verstecken gespielt habe und wie sehr er sich immer freue, wenn es so lustig bei uns zuginge. Nur seinen Garten müßten wir verschonen, das würden wir doch sicher verstehen können.
„Weißt du, ich lebe von den Ernten hier, was anderes hab ich nicht. In Hamburg besaß ich einen Gemüseladen und nebenbei einen Kartoffelgroßhandel, das hat man mir alles weggenommen. Übrigens, …, da unten, wo ihr immer spielt, wißt ihr eigentlich, was das für eine Anlage ist? Na, ist ja nicht so wichtig.“
Ich hörte ihm etwas ungeduldig zu, Stimmen, die zum Spielen riefen, lockten mich.
„Tschüß, ich muß jetzt weg.“ Der alte Schack lächelte, sagte aber nichts. Was er erzählt hatte, behielt ich nicht in Einzelheiten im Gedächtnis, aber was er gemeint hatte, vergaß ich nicht. Ich mochte ihn und kam nicht damit zurecht, wie Vater über ihn geredet hatte. Und was die Anlage unten an der Straße anbetraf, so fragte ich eines Tages Mutter beiläufig während des Mittagessens.
„Was ist das eigentlich für ein Stein da?“ Sie tat ahnungslos, sagte: „Welcher Stein?“ und aß weiter.
„Der da unten an der Straße, wo wir spielen, du weißt doch!“
„Ach, der! Das weiß ich nicht. Vielleicht soll er an was erinnern, ein Denkmal oder sowas. Ich weiß es nicht, es kümmert sich niemand darum.“
Sie hatte aufgehört zu essen, hantierte mit ihrer Gabel auf dem Teller meiner Schwester herum, schien nachdenklich oder verlegen. Sie versuchte, mich abzulenken.
„Iß, sonst wird es kalt! Hast du viele Hausaufgaben heute?“
„Was für ein Denkmal?“
„Nun vergiß dein Essen nicht, es wird ja alles kalt -. Das weiß ich nicht.“
„Erst will ich wissen, was das für ein Denkmal ist.“
„Es soll die Leute an was erinnern, das sie nicht vergessen sollen.“
„Was sollen sie denn nicht vergessen?“
„Mein Gott, Junge, du stellst Fragen. Woher soll ich das wissen!“
So endeten manche Gespräche zwischen Mutter und mir. Sie wußte etwas eben nicht, und damit fertig. Oder sie wußte es, wollte es aber nicht sagen. Sie hörte ganz auf Vater. Den hätte ich fragen können, der aber war weg, blieb mit seinem Wissen für mich unerreichbar. Kam er einmal auf Urlaub, hatte ich die Fragen längst vergessen. Inzwischen war das Leben, oder besser das Gegenteil davon: der Krieg weitergegangen, eine andere Lage war entstanden, die neue Fragen aufwarf. Zurück blieb mir ein Gefühl, ein unbewußtes Ahnen von vorenthaltenen Antworten und von Wissen, an das ich nicht randurfte, das hinter verschlossenen Türen blieb.
Es spann sich etwas Geheimnisvolles um diesen Stein. Er war aus meinem Blickwinkel riesig, niemand konnte ihn bewegen. War etwas in dem Stein drinnen? Oder unter ihm in dem gemauerten Sockel? Die Leute sollten es nicht vergessen, aber was ? Ich hätte es gern untersucht.
Da Antworten ausblieben, achtete ich eine Zeitlang kaum noch auf den Stein. Der blieb, wo er war, vermooste, und beim Spielen konnten wir auch nicht viel mit ihm anfangen, außer in wilder Jagd um den Sockel zu rennen. So rückte er mehr und mehr in den Rang einer bloßen Staffage, vor der unser Spiel-Alltag sich mit unerschöpflicher Ausdauer wiederholte. Nur manchmal blickte ich den Stein oder das Denkmal, wie er nun hieß, verstohlen an, überlegte, was mit ihm sein könnte. Aber dabei blieb es – vorerst.

   Eines Tages hockte ich verträumt auf dem Sockel und wartete auf Spielgefährten. Da hielt plötzlich unser Nachbar, der alte Schack, mit seinem Fahrrad vor mir an, stieg ab und sah mit forschendem Blick auf mich nieder.
„Na? Weiß du inzwischen, wofür dieser Stein hier steht?“
„Nein.“
„Aber deine Mutter weiß es sicher.“
„Nein, auch nicht.“
Das überraschte ihn, er zögerte, dachte nach, doch dann hob er belehrend seinen Zeigefinger, als ob er ein großes Geheimnis preisgeben und mich in sein Vertrauen ziehen wollte.
„Also, paß auf, ich werde es dir jetzt erklären, behalte es gut in deinem Gedächtnis. Dieser Stein,“ dabei machte er eine Bewegung mit der Hand, als ob er ihn segnen wollte, „dieser Stein hier erinnert an Friedrich Ebert, unseren früheren Reichspräsidenten. Als er an diesem Platz aufgerichtet werden sollte, ich glaube, es war 1933 oder 34, sollte er eine eiserne Tafel mit seinem Namen erhalten. Dazu ist es nicht gekommen, weil die jetzige Regierung es nicht haben wollte. Es wird aber nicht mehr lange dauern, dann ist das Schild dran.“
Den Namen und diese eigenartige Bezeichnung hatte ich noch nie gehört, aber immerhin, da war also doch irgendetwas Wichtiges mit dem Denkmal. „Was ist das, ein Reichspräsident?“ „Das laß dir man von deiner Mutter erklären!“
Mit einem zufriedenen Lächeln schwang sich der alte Schack auf sein Fahrrad und radelte davon. Ich blieb mit dem komischen Wort „Reichspräsident“ allein zurück.
Wer ist Ebert? fragte ich mich. Warum brauchte man so ein Denkmal für den ? Warum sollen die Leute ihn nicht vergessen? Was hat der alte Schack gemeint: das Schild ist bald dran?
Mit einiger Mühe behielt ich den Namen und das Wort „Reichspräsident“ über den Nachmittag im Gedächtnis. Meine Mutter war gerade vom Einkaufen zurückgekehrt und räumte in der Küche umher. Ich stellte mich in den Türrahmen und legte ihr die Frage vor.
„Kennst du Friedrich Ebert, der mal Reichspräsident oder sowas war?“
Sie stutzte, kramte weiter, sah mich zwischendurch zweifelnd an und erst nach einer Weile sagte sie:
„Wie kommst du auf solche Sachen?“
„Herr Schack hat es gesagt.“
„Was hat er gesagt?“
„Das mit dem Reichspräsidenten und dem Ebert. Für den steht der Stein da, hat er gesagt.“
„So!“
„Ja! Nun sag schon, was ist das, Reichspräsident?“
„So hieß ganz früher der höchste Mann in Deutschland. Lange vor dem Führer hat Ebert in Deutschland regiert.“
„Und warum sollen die Leute ihn nicht vergessen?“
Meine Mutter zuckte mit den Achseln und gab keine Antwort, jedenfalls keine gesprochene. Wieder hatte ich das Gefühl, sie wußte es, wollte es aber nicht sagen. Ich ärgerte mich, fühlte mich zurückgewiesen, nicht ernst genommen, wurde trotzig und trumpfte auf.
„Außerdem kommt das Schild sowieso bald wieder dran!“
„Du hältst deinen Mund, ich will davon nichts gehört haben, mach das mit dem alten Schack aus. Geh zu dem! Laß mich jetzt zufrieden, ich hab anderes zu tun.“
Sie hatte immer anderes zu tun, wenn sie schweigen wollte. Ich gab es auf, Fragen zu stellen. Irgendwann würde ich schon dahinter kommen, wer das war, dieser Ebert.
Ich kam dahinter, wenn auch erst viel später, zu einer Zeit nach 1945, als wieder offen geredet werden konnte. Aber merkwürdigerweise blieb auch dann noch eine unsichtbare Wand mit einer für mich verschlossenen Tür zwischen dem, worüber zu Hause wirklich geredet wurde, und dem, worüber man lieber schweigen wollte. Warum? Ich wußte es nicht, es war mir nicht einmal richtig aufgegangen, daß es so war. Wie es weitergehen würde, jetzt nach dem Krieg, war eine sehr gegenwartsnahe und deshalb täglich aufgetischte Frage. Aber wie das alles gekommen war, dafür gab es ja inzwischen erste zeitungsähnliche Papiere und vor allem den Rundfunk. Dies schien zu genügen, was mußte viel darüber geredet werden, wie Vater und Mutter es erlebt hatten und nun darüber dachten.
Wer Friedrich Ebert war und welche Bewandtnis es mit dem Denkmal auf unserem Spielgelände hatte, das wir noch immer beanspruchten, das ergab sich aus einem besonderen Ereignis. Es kündigte sich im Frühjahr 1946 an.
Die Ahornbäume, die die lange Straße an unserem Haus vorbei im Sommer zu einem fast lückenlosen Regendach machten, ließen gerade ihre Blattknospen aufbrechen. Eines Morgens beobachtete ich den alten Schack mit einem Hammer am Denkmal hantieren. Ich lief hinunter in die Anlage. Laut hallte jeder Schlag gegen einen Stahlstift, mit dem er Löcher in den Stein trieb. Als er mich erblickte, unterbrach er seine Arbeit und wies auf ein poliertes Metallschild hin, ein Relief mit einem Kopf darauf.
„Das ist Friedrich Ebert, verstehst du? Ich habe es all die Jahre hindurch bei mir im Schreibtisch aufgehoben“, sagte er, „jetzt habe ich es blankgeputzt, es soll endlich dahin, wohin es gehört. Meine Güte, nach all dem Hitler-Plunder können wir wieder frei atmen und reden. Das ist doch was, oder nicht? Niemand braucht mehr Angst zu haben, daß er für ein falsches Wort in den Bunker muß oder verschleppt wird. Wir Politischen können wieder zeigen, wer oder was wir sind.“
Dann setzte er seine Arbeit fort. Ich sagte nichts, sah ihm zu und dachte, er ist froh, daß der Krieg vorbei ist. Das geht allen Leuten so, und daß er von Hitler-Plunder spricht, ist eben seine Art zu sagen, was Mutter ein Unglück für Deutschland nennt.
Sie sagte es schon wenige Tage nach der Kapitulation. Ich mußte damals lernen, daß neuerdings alle Leute so über Hitler redeten. Ein neues Wort machte die Runde. „Nazis“ wurden mit einem Mal die genannt, die dafür gewesen waren.
Unser Zahnarzt [Karl Schloika] war einer gewesen, hörte ich die Leute sagen. Er trug gern eine braune Uniform in seiner Praxis, so eine wie Körner, [Heinrich Köpke] unser Volksschullehrer. In seinem Wartezimmer hing ein großes, weißes Plakat mit einer dicken, gestochen scharfen schwarzen Schrift:
Sei stolz, daß du ein Deutscher bist.
Darunter folgten in kleineren Buchstaben noch einige Worte mehr, die ich vergessen habe. Schon gleich nach dem Krieg war das Plakat weg, er selbst trug einen weißen Kittel.
Körner dagegen, der mir noch 1944 die Oberschulreife bescheinigt hatte, wurde später von den Engländern verhaftet, ich weiß nicht, warum. Erst einige Jahre danach wurde er wieder in den Schuldienst aufgenommen. Als das Schuljahr 1944 zu Ende war, verabschiedete Körner auf dem Schulhof diejenigen, die danach zur Oberschule gehen sollten. Da stand er, in SA-Uniform, vor sich selbst stramm und brüllte „stillgestanden“. Dann folgte eine Ansprache, von der ich nur behalten habe:
„Und bildet euch ja nicht ein, ihr seid etwas Besseres. Nicht Intelligenz, sondern Kraft und Mut werden siegen.“
Sein forsches „Jungs, ihr müßt euch im Leben durchprügeln, werdet hart wie Krupp-Stahl!“ klang mir noch lange nach, weit über das Ende des Reichs hinaus. Von diesem Mann ist mir bis heute eine fast traumatische Angst vor specknackigen, hochgeschorenen, stahlig blickenden, unheimlich durch einen hindurch in Ungewisse Ferne sehenden Männern geblieben. Körner war so.
In den folgenden Tagen, nachdem endlich die Gedenktafel am Stein war, erschienen Männer und Frauen mit Spaten, Hacken und Harken auf dem Gelände des Ebert-Denkmals. Sie begannen, die Anlage von Unkraut zu reinigen, scheuerten den Stein, daß er hell glänzte, pflanzten Blumen und harkten die Steige.
An einem Sonntagmorgen war es dann soweit. Es ist möglich, daß es der erste Mai war. Von allen Seiten strömten Leute herbei. Reden wurden gehalten und Lieder gesungen. In der Nähe unserer Gartenauffahrt verteilte jemand rote Fähnchen mit den weißen Buchstaben der SPD.
Wir Kinder sammelten so viele davon ein, wie wir ergattern konnten. Jemand kam auf die Idee, unsere Fahrräder damit zu schmücken. Ich stahl meiner Mutter Nähgarn, um die dünnen Holzstangen, an denen die Fähnchen befestigt waren, an die Lenkstange zu binden.
Kaum waren wir damit fertig, ging die wilde Jagd los. Das Flattern und Knattern der Fahnen im Fahrtwind stachelte uns zu immer rascheren Rennen auf. Begeistert schrien wir uns gegenseitig zu:
„Schneller, schneller!“
So rasten wir durch die Stadt und wieder zurück, auf anderen Wegen und Straßen noch einmal, dann zum Bahnhof, am Schulhaus vorbei zum Marktplatz. Leute blieben stehen und staunten. Es gab sogar welche, die Beifall klatschten. Galt das den Fahnen oder unserem sportlichen Ehrgeiz ? Es kümmerte uns nicht.
Als wir endlich wieder am Ebert-Denkmal eintrafen, war die Versammlung längst aufgelöst. An der Auffahrt stand meine Mutter, winkte mich heran und forderte mich auf, ins Haus zu gehen. Es war Nachmittag, die anderen Kinder begannen noch irgend ein neues Spiel.
„Warum denn, es ist doch noch früh?“
„Komm jetzt,ich hab mit dir zu reden!“
„Was gibt es denn zu reden? Ich habe keine Lust. Wir fangen gerade an, noch was zu spielen.“
„Hör zu! Das kannst du nicht wissen, aber ich möchte nicht, daß du mit diesen Fahnen herumfährst. Das ist nichts für dich.“
„Warum nicht? Die anderen haben doch auch alle solche Fahnen genommen. Der Mann hat sie uns geschenkt , der alte Herr Schack war ja auch dabei, und du hast immer gesagt, er ist ein guter Nachbar.“
„Was die hier gemacht haben, ist eine politische Sache. Das sind Sozialdemokraten, damit wollen wir nichts zu tun haben, hörst du? Wir haben genug gelitten unter Hitler und dem Krieg, jetzt halten wir uns aus allem heraus.“
Ich wußte, sie würde auf weitere Fragen nicht mehr antworten. Ich hätte fragen wollen: Was sind Sozialdemokraten? Ebert war einer gewesen, das hatte ich begriffen. Aber was haben sie da am Denkmal gemacht? Warum haben sie Reden gehalten und Lieder gesungen? Ich stellte diese Fragen nicht mehr, denn die Antworten wären wie Schweigen gewesen.
Für diesen Nachmittag verlor ich die Lust zu spielen, verkroch mich in einer Höhle, fühlte mich gekränkt und aus etwas rausgehalten, was ich verstehen wollte. Da lagen die Jahre des Krieges hinter mir, in denen alle schwiegen, nur Leute wie Körner nicht, der uns stets anbrüllte und uns mit seinen nationalsozialistischen Sprüchen traktierte. Dann kam die Wende, nach der über das Geschehene nicht mehr geschwiegen werden mußte, aber alle Leute so taten, als wüßten sie nichts davon. „Wir halten uns raus,“ hatte Mutter verkündet. Was war denn anders an Sozialdemokraten wie dem alten Schack und den anderen Leuten in der Versammlung, von denen ich einige vom Anblick her oder sogar mit Namen kannte ?
Lange habe ich darüber gebrütet, wie ich meine Wut an Vater und Mutter auslassen, wie ich mich rächen könnte. Ich war bald dreizehn und noch immer begriffen sie nicht, daß die Kriegsereignisse, die Erziehung im Jungvolk und unter Körner, aber auch die seltsame Verantwortungsrolle, die ich mir selbst während Vaters Abwesenheit zugedacht hatte, manches abverlangt hatten, was eher zum Lebensernst eines Erwachsenen als zu kindlicher Unbefangenheit gehörte.
Die Ohnmacht, die ich fühlte, machte mich zornig. Ich tröstete mich mit dem Gedanken: Mutter, sie ist ängstlich und weiß nichts. Und Vater? Ein Kapitel für sich.
Der Ebert-Gedenkstein mußte von seinem Sockel an einen anderen Standort weichen, als die Stelle unseres früheren Hauses für den Wohnklotz hergerichtet wurde. Ich fand ihn wieder nahe dem Stadtzentrum, zwar erst durch Nachfragen und verborgen in einem fast zugewachsenen Winkel, aber gepflegt.

Vergiß es, denk einfach nicht dran

   Spiel und Wirklichkeit lagen oft sehr nahe beieinander. Der Alltag zwischen Haus und Bunker, zwischen selbstvergessenem Spielen und ängstlichem Zusammenrücken drängte sich unserem Treiben auf.
Es war, als hätten sich die Bilder des Krieges in unsere Köpfe geschlichen und lenkten uns, als wäre der Krieg unvollständig, setzte er seine grausame Schau nicht auch im Spielen der Kinder fort.
Ich sah, wie die Scheinwerfer über dem nächtlichen Himmel Hamburgs tasteten wie riesige Finger, wie sie sich bündelten und in ihrem Kreuzungspunkt Sternschnuppen entstanden. Leuchtende Tannenbäume schwebten minutenlang über dem Horizont, Feuerschein waberte von unten hinauf und ließ Wolken glühen.
Ich hörte das vibrierende Summen sich nähernder Bomberschwärme, spürte das sanfte Zittern, das sich auf den Boden übertrug. Ich verkrampfte mich auf meinem Stuhl, wenn nahe Bombeneinschläge von Notabwürfen den Bunker beben ließen.
Tag für Tag lauschte ich begierig den Nachrichten im Radio, um mich daran zu beruhigen, wieviele Angreifer abgeschossen wurden, welche gewaltigen Verluste dem Feind zugefügt wurden. Ich hoffte, die Tommies müßten doch nun bald genug haben. Woher nahmen sie bloß immer wieder so viele Flugzeuge?
In den Wochen nach den tagelangen Luftangriffen auf Hamburg, im Juli 1943, flogen wir fast täglich Fliegerangriffe gegen England.
Wir, das waren Harald, Hans-Dieter, Wolfgang und ich, die Stammflieger sozusagen. Oft schlössen sich andere Kinder an, und so bildeten wir ganze Geschwader, die in festen Formationen starteten, aber in lockerem Durcheinander, wenn überhaupt zusammen, heimkehrten.
Manchmal fiel uns unterwegs etwas anderes ein, verwandelten wir uns bei einer Zwischenlandung in Helgoland plötzlich in Panzer, die sich schwerfällig durch ein Rübenfeld nach Hause wälzten, robbten und schoben.
Ebensogut konnten wir im Handumdrehen als Jagdflieger hochpreschen und mehr mit Gebrüll als Motorengeheul den heimatlichen Garten als hinterhältiges Versteck mordlüsterner Feinde angreifen.
England lag immer woanders, das war das eigentlich Kreative an diesen Spielen. Wir bestimmten es gern auf einem freien Stück im Garten. Mit Sand und Steinen, mit Brettern und Reisig errichteten wir irgendwelche baulichen Anlagen, die für die Engländer kriegswichtig waren und deshalb von uns zerstört werden mußten. Die Drohungen vom Balkon herunter, wir müßten das hinterher alles wieder beseitigen, da die Sachen nicht in den Garten gehörten, hinderten uns nicht im geringsten daran, erst einmal Objekte unserer Zerstörungslust genüßlich aufzubauen.
„Die können was erleben, wenn wir sie angreifen.“
England konnte aber auch weit weg liegen, wenn wir Lust auf lange Flugstrecken hatten und uns ein bestimmter Ort in der Feldmark die Idee zu einem anderen Spiel als Fortsetzung des Luftangriffs eingegeben hatte.
Es gab kleine Tümpel, auf denen selbstgebastelte Flöße schippern konnten. Dort ereignete sich dann und wann die Skagerrak-Schlacht. Wir wußten nicht, daß wir damit um mehr als fünfundzwanzig Jahre zu spät lagen, aber jemand hatte davon gehört oder gelesen, und der Name Skagerrak klang so aufreizend kriegerisch, so fremdartig herausfordernd.
„Der Skagerrak muß versenkt werden“, war unser Schlachtruf. Wir mußten wohl eine ziemlich merkwürdige Vorstellung von diesem Kriegsziel und Schauplatz gehabt haben. Immerhin, der Skagerrak befand sich in einem Tümpel und hatte etwas mit Wasser zu tun.
Ein Luftangriff gegen England bedurfte gewisser, keineswegs geräuschloser Vorbereitungen. Von einem Besuch auf dem Militärflugplatz Jagel bei Schleswig, wo mein Vetter zum Jagdflieger ausgebildet wurde, wußte ich, daß Flugzeugmotoren sich vor dem Start warmlaufen mußten, damit sie heulend auf Touren kamen.
Der Motorenlärm, aber auch andere bedrohliche Geräusche wie Alarmsirenen, das Tuckern von Bordkanonen aus Jagdflugzeugen und das unheimliche Vibrieren herannahender Bomberpulks hatten wir lange genug geübt und beherrschten es ausreichend, um manche Erwachsene zu täuschen. Sie reagierten oft äußerst nervös und ungehalten.
Eine Zeitlang lebte in unserem Haus eine ältere Dame, die Frau Bodrich [Diedrich]. Sie war aus Hamburg evakuiert worden, nachdem ihr Haus in Trümmer gefallen war und sie erst nach Tagen aus dem verschütteten Keller befreit werden konnte. Bei der geringsten Andeutung von Motorengedröhn oder schon beim ersten Heulen von Alarmsirenen rannte sie ängstlich und verschreckt, eine Handtasche unter die Achseln geklemmt und eine graue Wolldecke hinter sich herschleppend, in den Luftschutzbunker.
Ihretwegen mußten wir unseren Startplatz für Angriffsflüge gegen England auf die andere Hausseite verlegen . Meine Mutter hatte nicht das geringste Verständnis dafür, daß unsere Kriegsspiele jedesmal Frau Bodrichs unabsichtliche „Einlage“ zur Folge hatten, denn die alte Frau ließ sich von unseren Angriffsgeräuschen und dem Startlärm täuschen. Wir erblickten darin zwar auch nicht gerade Frau Bodrichs Lust zum Mitspielen, wohl aber hielten wir es für einen Beleg für die wirklichkeitsgetreue Darstellung des Luftkrieges zwischen Deutschland und England.
Die Beladung der Bomber geschah durch Einklemmen von je zwei etwa eiergroßen Steinen in die Fäuste. Beim Starten wurden die Arme waagerecht ausgebreitet und im Laufen flogen wir davon, geordnet in Pulks, versteht sich.
Über Feindesland angekommen, ließen wir aus geeigneter Stellung die Steine fallen. Die angerichteten Zerstörungen waren verheerend, die Treffermeldungen, die wir zurückbrachten, zeugten von großer Zielgenauigkeit und Wirksamkeit. Stets gelang es, den feindlichen Jagdflugzeugen und Flaks zu entkommen.

   An einem Nachmittag in dieser Zeit hatten wir uns eine ziemlich weite Flugstrecke ausgedacht, mit Zwischenlandung in Helgoland, vorsichtshalber, denn wir wußten nicht, ob der Atem oder Sprit für einen Dauerflug reichen würde.
„Wir nehmen den Weg da oben rauf nach Fuhlendorf, wo die drei Bäume stehen,“ schlug Wolfgang vor, „da können wir die Bomben ganz gut von der Böschung fallen lassen.“
„Ja, los! Fangen wir an! Steine her!“
Die Flugstrecke benutzte ein Stück Straße nach Norden und bog dann in einen Feldweg ein. Wir hatten das Zielgebiet noch nicht einmal in Sicht, als wir an einem Gatter zwei Männer erblickten, die sich offensichtlich stritten.
Ohne besonderes Kommando brachen wir unsere Kampfhandlungen ab, ließen unsere Bomben wie bei Notabwürfen fallen. Was sie anrichteten, kümmerte uns nicht mehr.
„Komm, wir schleichen uns ran, mal sehen, was da los ist“, sagte jemand. Behutsam krochen wir durch das Weggehölz auf die dahinter liegende Koppel und schlichen in der Deckung des Gebüschs in unmittelbare Nähe der beiden Männer.
„Der eine da, guck mal, das ist doch der Kasimir, der Gefangene, der bei Bauer Kuhlmann arbeitet. Das muß er sein,“ flüsterte Wolfgang und machte eine Handbewegung, wir sollten uns möglichst niedrig am Boden halten.
„Ja, das stimmt, den kenne ich genau“, stimmte ich zu, „der andere ist Bauer Wagner [Max Sievers], den kenne ich auch. Seid mal still, mal hören, was sie sagen!“
Gefangene Polen und Russen waren in unserer Gegend nichts Ungewöhnliches. Es war uns aber strikt verboten worden, mit ihnen zu reden.
„Die sind dreckig und verlaust, hat mein Vater gesagt, außerdem können sie sowieso kein Deutsch, sie sollen arbeiten und damit basta.“ Das waren Haralds Worte, aber der machte sich nichts aus derartigen Mahnungen und Sprüchen. Sein Vater gab immer solche klaren Richtlinien aus und verlangte absoluten Gehorsam. Harald fügte sich nur, solange sein Vater anwesend war. Er sagt jaja, und tat, was er wollte.
Ich selbst kannte einige Gefangene von verschiedenen Höfen her, von denen ich gelegentlich Milch und andere Kleinigkeiten holte oder bei denen ich in den Herbstferien in der Kartoffelernte aushalf. Kartoffelferien nannte man sie deshalb auch. Da blieb es gar nicht aus, daß ich mit Polen und Russen in Berührung kam.
Die meisten von ihnen waren ängstlich oder vorsichtig, gingen mir aus dem Weg oder redeten ganz leise und mit gesenktem Kopf, damit niemand sah, daß sich ihre Lippen bewegten.
„Schon drei Jahre hier“, flüsterte mal ein Pole, „leben gut in Deutschland, will nach Heimat, bald möglich, glaube ich.“
Was er wirklich gemeint haben wird, nämlich die Befreiung Polens von deutscher Besetzung, habe ich damals sicher nicht verstanden, ich glaubte ja noch an die endgültige Niederwerfung aller Gegner Deutschlands.

   Unbemerkt konnten wir auf wenige Meter an das Gatter heranschleichen, hinter dem die beiden Männer gestikulierten und so laut sprachen, daß ich jedes Wort verstehen konnte Bauer Wagner hatte gerade eine Ledertasche verschlossen und ins Gras gelegt. Jetzt stand er da, in langschäftige Stiefel getaucht, die wegen seiner leicht gekrümmten Beine ein schwarzes V bildeten, unter die linke Achsel hatte er eine zweite Ledertasche geklemmt. Aus seinem Gesicht, das unter einem kurzkrempigen, grünen Jägerhut hervorlugte, sprach Ärger.
Kasimir hielt Bauer Wagner einen geöffneten Rucksack entgegen und zeigte erregt hinein.
„Sehen Sie doch, Herr Wagner, nix mehr, ganz bestimmt, ich nicht lügen, alles leer.“
„Du Hund, du verdammter Polacke, das müssen doch mehr als drei Flaschen gewesen sein, die anderen habt ihr selber ausgesoffen, gib’s zu, ich sag dir …“
Wagner war um einen Schritt an Kasimir herangetreten, hielt ihm die Faust unter die Nase und drohte mit grimmiger Miene, das Weiß seiner Augen stach weit hervor. Kasimir wich zurück, blickte sich nervös um, als suchte er einen Fluchtweg.
„Halt’s Maul, du schäbiger Lump, euch werde ich schon kriegen!“ schrie Wagner.
Der Bauer packte den Polen an seinen Hosenträgern und zerrte heftig an ihm herum. Dann brüllte er, indem er Kasimir hin- und herschüttelte:
„Ich weiß ganz genau, woher ihr das Zeug habt, ich kann euch reinlegen, wenn ich will. Also, Geschäft ist Geschäft, ihr schafft mir noch mindestens fünf Flaschen ran, sonst liefer ich dich und deine Leute ans Messer, verstanden? Du weißt, was das bedeutet!“
„Ja, ja, bitte, Herr Wagner, habe verstanden, und was ist mit Ihnen, Sie haben die Flaschen genommen, Sie mich nicht reinlegen.“
Wagner ließ ihn los, hob die Ledertasche wieder auf, die ihm unter der Achsel weggerutscht war, und stand für einen Moment unentschlossen vor Kasimir. Er keuchte laut, es mußte ihn mächtig angestrengt haben.
Kasimir starrte ihn an, als erwarte er noch weitere Attacken des Bauern, blickte sich immer wieder um und, als nichts weiter geschah, machte er sich an seinem auf dem Boden liegenden Rucksack zu schaffen.
Als Wagner sich ausgekeucht hatte, sprach er mit etwas ruhigerer Stimme und erhobenem Zeigefinger auf Kasimir ein.
„Also, verstanden, ihr schafft noch weitere fünf Flaschen an, ich brauche sie, sagen wir in einer Woche.“
„Das geht nicht, zu schnell, Herr Wagner.“
„Wie lange denn?“
„Zwei Wochen.“
„Na gut! Ich verlaß mich drauf. Du weißt, was dir blüht, wenn du mich hintergehst.“
Grußlos drehte sich Bauer Wagner um und ließ Kasimir stehen. Der nahm seinen Rucksack und verließ den Platz in entgegengesetzter Richtung mit fluchtartigen Schritten.
Als beide außer Sicht waren, brachen auch wir auf. England blieb an diesem Nachmittag verschont, das Geschehene und Gehörte war zu aufregend gewesen. Wir konnten uns keinen rechten Vers auf die Sache machen.
Daß Kasimir von irgendwoher Wein oder Schnaps besorgt hatte, mit anderen Leuten in Verbindung stand und Wagner dabei eine wichtige Rolle spielte, war augenscheinlich. Ob das Zeug gestohlen oder heimlich hergestellt worden war, ob die Hintermänner Deutsche oder andere Gefangene waren und ob Kasimir nur Überbringer oder selbst Mitbetreiber dieses Handels war, das wußten wir nicht. Wir malten uns zwar allerlei finstere Machenschaften aus, aber je weiter wir uns vom Ort des Geschehens entfernten, umso mehr lenkten uns andere Dinge ab.
So vergaß ich die Begebenheit in den folgenden Tagen wieder, bis eines Nachmittags, ungefähr eine Woche später, Wolfgang atemlos und aufgeregt gestikulierend angerannt kam.
„Los, kommt mal mit, da hängt einer im Baum!“
„Wo, wer hängt da im Baum?“
„Weiß nicht, dahinten, wo neulich England war bei den drei Bäumen auf dem Weg nach Fuhlendorf, mach schnell, wo sind die anderen, das muß ich sehen.“
Ich sprang auf, ließ alles fallen und liegen, womit ich gerade beschäftigt war und rannte hinter Wolfgang her, die Straße hoch und in den Feldweg hinein. Bald sah ich bei den drei Bäumen, wohin wir England verlegt hatten , Polizeibeamte und einen Leiterwagen der Feuerwehr.!n einem der dicken Äste baumelte schlaff ein bekleideter menschlicher Körper mit seitlich abgeknicktem Kopf. Der Anblick ließ mich erschauern. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Ich zögerte, weiterzugehen.
„Ich bleibe hier“, erklärte ich Wolfgang. Vor einem einzigen Toten fürchtete ich mich mehr als vor allen erlebten Schrecken des Krieges. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das ist, mit einem Strick auf einen Baum zu klettern, den Kopf durch die Schlinge zu stecken, das andere Ende an einen Ast zu binden und … grausig. Vielleicht haben das andere gemacht, ihn da aufgehängt, vielleicht hat er sich gewehrt, hat gestrampelt und geschrien. Dann haben sie ihm den Mund zugestopft.
Ich mochte nicht näher rangehen. Einige Minuten blieben wir unentschlossen stehen und staunten die Szenerie an. Feuerwehrleute hatten eine Leiter hochgeschoben und begannen, den Strick zu lösen. Dann überholten uns Leute, die sich mit tastenden Schritten der Stelle näherten. In ihren Gesichtern spiegelte sich neugieriges Erschrecken. Es mußte sich in der Stadt herumgesprochen haben, was hier geschehen war. Wolfgang hatte sich der schleichenden Bewegung angeschlossen, ich aber traute mich nicht.
Der Strom der Leute wurde alsbald von der Polizei zurückgedrängt. Die Menge kam schwerfällig wie eine dunkle Mauer auf mich zu. Einige gingen rückwärts, um auch im Rückzug nichts zu versäumen. Ich hatte Angstphantasien, glaubte, sie schleppten den Toten mit sich, würden irgendetwas mit der Leiche machen wollen.
Die Feuerwehr hatte die Leiter schon wieder eingezogen, aber ich konnte nicht erkennen, was hinter den Leuten passierte, Wie ein Beerdigungszug kamen sie feierlich und schleppend näher. Unwillkürlich machte ich ebenfalls Rückwärtsbewegungen, um von der Menge nicht eingefangen zu werden.
Dann aber löste sich Wolfgang heraus und kam auf mich zugelaufen.
„Es soll der Kasimir von Kuhlmann sein. “ Er sagte es flüsternd, als dürfe es niemand wissen, Ich spürte, wie mir die Knie schlotterten, drehte mich um und strebte weg von diesem Geschehen. Quer über die Felder zogen Wolfgang und ich nach Hause, ich glaube, wir haben geschwiegen. Ich konnte die Bilder und die Vorstellung vom hängenden Kasimir nicht loswerden.
Ob es wirklich der Kasimir war oder nicht, ob er sich selbst aufgehängt hat, wie die Leute hinterher sagten, oder ob etwas anderes dahintersteckte, habe ich nie erfahren,
Mit meiner Mutter sprach ich erst einen Tag später über das Ereignis, erzählte ihr über den belauschten Streit zwischen Bauer Wagner und Kasimir und dem schrecklichen Anblick bei den drei Bäumen. Sie zog mich an sich und streichelte mir den Kopf.
„Entsetzlich, das muß ja furchtbar ausgesehen haben.“
„Bauer Wagner war ganz wütend.“
„Wieso, war der dabei ?“
„Nein, als sie sich gestritten haben.“
„Hör mal zu, am besten, du sprichst mit niemand darüber, erzähl vor allem keinem Menschen von dem Streit, den ihr belauscht habt. Sonst müßtest du nämlich zur Polizei gehen und Aussagen machen. Vergiß es, denk einfach nicht dran.“
„Aber wenn das der Kasimir war?“
„Ob es Kasimir war oder nicht, ob er sich selbst erhängt hat oder nicht, es ist immer ganz furchtbar, wenn ein Mensch so umkommt. Aber du weißt ja nicht, ob Bauer Wagner etwas damit zu tun hat. Der Streit kann auch was anderes gewesen sein. Deshalb ist es besser, du kümmerst dich nicht darum, sonst bringst du den auch noch in Schwierigkeiten. Es ist besser, sich da rauszuhalten.“
Ich nahm es so hin, aber in meinem Kopf ging der Fall noch lange um.

Ich trage einen Geßler-Hut

   So ernst ich die kriegerischen Spiele in den Sommermonaten 1943 betrieb, so spielerisch nahm ich am Anfang die Übungen, die Kommandos und die Uniformen beim Jungvolk, dem ich im Spätherbst des Jahres beitrat.
Das war keine Frage des muß, ich empfand es nicht als Pflicht dabeizusein. Wer konnte sich schon dem Sog entziehen, der von abenteuerlichen Geländespielen ausging, von nächtlichen Lagerfeuern, Zelten und Heldenliedern? Ich hatte das in den Jahren davor oft aus der Ferne gesehen, hätte gern mitgemacht, fühlte mich zurückgesetzt, als Wolfgang, der um fast ein Jahr älter war als ich, eines Tages Uniform trug.
Und dann waren da die Auftritte von Körner, unserem Lehrer, der von rauhen Burschen, vom Feld der Ehre, Vaterlandsliebe und Treue zum Führer schwärmte und dabei ganz starre, ins Weite gerichtete Augen bekam.
„Ich erwarte, daß sich keiner von euch drückt. Ihr geht alle zum Jungvolk. Oder macht einer nicht mit? Der soll sich melden. Gibt es Ärger deswegen zu Hause? Ebenfalls melden! Na? Wie ist es? Meldet sich keiner?“
Natürlich meldete sich niemand. Mich sah er etwas länger forschend an, nicht daß er mich verdächtigte, mich drücken zu wollen. Er prüfte nur, ob ich gerade träumte oder nicht, ob ich überhaupt hingehört hatte, wovon er gesprochen hatte. Das kam vor. Dann posaunte er plötzlich, daß ich erschrak:
„Peter, steh auf!“
Ich erhob mich, wenn auch schlaksig.
„Setzen! Wollte nur sehen, ob du schläfst.“
Ich konnte mir bei Tage in Wachträumen aufregende Geschehnisse einbilden und ausmalen, ein Stichwort im Unterricht genügte oft, um das auszulösen.
Körner erzählte uns einmal von den Wikingern und ihren kühnen Seefahrten. Schon war ich in Gedanken in Haddeby bei Schleswig, wo ich mich in den Ferien oft mit Vetter Ulli rumtrieb, dessen älterer Bruder in Jagel bei den Jagdfliegern eingesetzt war.
Das alte Haithabu, die geheimnisvolle Wikinger-Siedlung, war mir vertraut genug, meine Phantasie anzustacheln. Ich sah mich in kriegerischer Verkleidung am Bug eines langen, moorig braunen Ruderbootes warschauen, lag hinter dem Festungswall auf Lauer, zur Attacke bereit, irgendeinen kriegerischen Stamm speerbewaffneter Feinde zurückzuschlagen, spannte mit Kraft den Bogen, daß der Pfeil heulend davonsauste, einen Gegner zu Boden streckend.
Körner war derweil bei Hünengräbern, hochgewachsenen, breitschultrigen, blonden Männern angelangt.
„So ungefähr müßt ihr euch die Wikinger vorstellen. Also wer kann das nacherzählen, das Wichtigste davon? Peter! … Der ist schon wieder weggetreten.“
So war es wohl.

   In meinen Tagträumen arbeitete ich auch Ereignisse nach, die mich, allzu gegenwärtig, wie sie waren, nicht losließen, die Fragen offenhielten, deren Antworten ausblieben oder wie Schweigen waren, weil ich sie als Ausflüchte entlarvt hatte.
An einem Nachmittag im Spätsommer 1944 schlenderte ich die Ahorn-Allee entlang. Die Abendsonne warf bizarre Muster auf die Straßenfläche, denen ich gedankenverloren folgte. Die Szene am Bahnhof, wo ich kurz zuvor meinen Vater verabschiedet hatte, war ein Bild, das ich im Gedächtnis behalten wollte.
Sein großes Gesicht kam auf mich herunter, redete auf mich ein, gab Verhaltensregeln von sich, die ich übertrieben fand. Die zackigen Grüße von Soldaten um uns herum, die ihm als Offizier galten, schien er zu übersehen. Vielleicht absichtlich.
Dann stieg er ein, kehrte mir seinen breiten Rücken, seinen etwas faltigen Nacken mit der kapitellartig aufsitzenden Offiziersmütze zu und stammte unter Stöhnen seinen Koffer vorweg. Ächzend bestieg er die Trittbretter, als hätte er Blei in seinen Stiefeln gehabt. Die Uniform war ihm in Dänemark zu eng geworden, zwängte ihn, ich hörte ihn keuchen. Als er sich noch einmal umdrehte, lachte er über seine Schwerfälligkeit.
Hinter staubverschleierten Abteilscheiben schimmerte Sekunden später das Graugrün seiner Uniform, ich ahnte nur, daß er es war. Als der Zug mit einem Ruck in Bewegung geriet, ließ er zum Abschied noch einmal seine flache Hand pendeln, ich erkannte unscharf seine Gesichtszüge, er wird gelächelt haben.
Er war auf dem Weg nach Berlin zu irgendeinem Reichsministerium. Er hatte mit Mutter darüber gesprochen, Goebbels erwähnt, sagte beinahe verächtlich
„Der kleine Goebbels“
und hatte sich über Pressezensur in Dänemark ausgelassen, womit er etwas zu tun gehabt hatte. Dorthin, zur Reichshauptstadt, war er befohlen worden. Es war eine Zeit heftiger Fliegerangriffe auf Berlin. Wenn er nun …, ich hatte Angst, aber ich gestand sie mir nicht zu.
Neben ihm war ich durch die Stadt geschritten, marschiert, hatte mich als sein Adjutant gefühlt, mich mit einbezogen, wenn Vorübergehende ihr durchdringendes „Heil Hitler“ anboten. Ich hörte ihn, fast flüsternd, aus dem Mundwinkel sagen:
„Ich trage einen Geßler-Hut. Verstehst du? So einen wie im Wilhelm Tell.“
Ich verstand nicht. Offiziers-Mütze auf seinem Kopf, Geßler-Hut? Wilhelm Tell, die Geschichte kannte ich wohl, in der Schule wurde von dem Freiheitshelden gesprochen, aber Geßlers Hut, so wie der da?
Erst nach einigen Schritten, als brauchte er die Zeit, seine Worte vorsichtig auszuwählen, als lag ihm daran, seine Sätze auf Schrittmaß zu bringen, sagte er:
„Nicht mich grüßen sie, mein Junge, es ist meine Uniform.“
Ich schwieg, begriff den Zusammenhang noch immer nicht. Fühlte er sich etwa als Geßler, als der, gegen den sich die Eidgenossen einst wehren mußten? Dann müßten ja die Leute, die ihn grüßten, etwas gegen ihn gehabt haben, ihn gefürchtet haben. Das verstand ich nicht.
Ich blickte den großen, schweren Mann verstohlen von der Seite an, stellte mir vor, wie er Anordnungen traf , wie Reihen von Soldaten vor ihm stramm standen, wie er lässig im Fond eines offenen Kübelwagens durch Kopenhagen oder Berlin gefahren wurde.
daß er Zweifel an sich als Offizier und Träger einer Uniform haben könnte, kam mir nicht in den Sinn. Ich kannte ihn nicht anders als in dieser Schale, war gerade sechs geworden, als er eingezogen wurde, sah ihn auf Photos oder leibhaftig immer nur in Uniform. Seitdem waren das rauchige Grün, der Zigarrengeruch, seine massige Gestalt, sein sich väterlich von oben senkendes Gesicht, seine feste Stimme, alles zusammengenommen die Bedeutung des Wortes Vater. Das war mein Bild von ihm.
Mit Bruchstücken solcher Bilder im Gedächtnis ging ich vom Bahnhof zurück. Er war unterwegs nach Berlin, wo der Führer Reden hielt. Für meine Erinnerung hielt ich die letzte Szene am Bahnhof fest, indem ich sie auf dem Heimweg in Gedanken nachspielte.
Jemand kam mir entgegen, blieb stehen, schüttelte den Kopf über meine Art, in braunem Hemd und schwarzer Hose mit Koppelschloß, dazu ein schwarzes, von braunem Lederknoten gehaltenes Halstuch, die Straße entlangzuschlaksen.
„Pimpfe gehen aufrecht wie Soldaten, wie sieht das aus“, dröhnte es an mein Ohr.
Der Ordnungsruf wirkte wie ein Nadelstich, ich hatte den „Dienst“ geschwänzt. So nannte man im Jungvolk die Ehre, dem Führer mit soldatischen Tugenden nachzueifern.
Lange bevor ich 1943 zehn wurde, hatte ich ungeduldig darauf gewartet, endlich dabei sein und die Uniform mit dem schwarzen Halstuch als Zeichen dieser Ehre öffentlich tragen zu dürfen.
Auch jetzt, obwohl ich mich auf dem Heimweg allein fühlte, mahnte mich der Fremde an diesen Ehrendienst. So nahm ich wieder Haltung an, marschierte, statt zu schlendern.
In diesem Augenblick sprang ein Trupp Pimpfe hinter einer Gartenhecke hervor und umstellte mich. Werner Lüdke, einer von denen, die es besonders ernst nahmen und deshalb mehr gefürchtet als angesehen waren, trat mit drohend versteinertem Blick, breitbeinig und die Fäuste in die Hüften gestützt dicht an mich heran. Er schrie:
„Du warst nicht im Dienst heute! Raus damit, wo warst du?“
„Bin mit meinem Vater zum Bahnhof gegangen, der mußte wieder weg, nach Berlin.“
„Ach nee, zum Bahnhof, mit deinem Vater, guck mal an, als ob der nicht allein gehen kann! Das ist doch ’ne faule Ausrede, das zieht hier bei uns nicht!“
„Stimmt aber!“
„Halt’s Maul“, und ohne den Tonfall zu verändern, an die übrigen des Trupps gerichtet:
„Los! Nehmt ihn fest und führt ihn ab!“
Sie rissen mir das schwarze Ehrentuch samt Lederknoten vom Hals, fesselten mir damit die Hände auf dem Rücken. Dann gab mir Lüdke mit dem Knie einen Tritt und mit Schieben, Stoßen und Anbrüllen trieben sie mich wie ein Stück Schlachtvieh die Ahorn-Allee wieder zurück, am Bahnhof vorbei zum Schulhaus, vor dessen Front sich regelmäßig der Dienst abspielte.
Begegneten uns unterwegs Leute, zwang Lüdke mich, laut und deutlich „Heil Hitler“ zu schreien, notfalls zwei- oder dreimal.
Vor kaum einer Stunde war ich denselben Weg mit Vater geschritten in dem Bewußtsein, der kleinere Soldat neben ihm zu sein. Jetzt wurde ich hier gehetzt und fühlte mich entehrt.
Im Stillen schwor ich mir, dem Werner Lüdke, dem feigen Hund, werde ich eins auswischen, sobald ich die Gelegenheit dazu kriege. Es wird sich aufklären, dann lassen sie mich laufen, die müssen mich laufen lassen und zwar mit Knoten und Halstuch.

   Ich spürte die Wut in mir aufsteigen und kämpfte sie nieder, denn gefesselt und gegen den ganzen Trupp hätte ich nicht viel ausrichten können.
Wir bogen in den Schulhof ein. Die übliche Szene. In einer Ecke, nahe der Turnhalle, übte der Fanfarenzug wie an jedem Dienstag und Freitag von drei bis sechs oder sieben. Die Jungs beneidete ich, bei denen hätte ich am liebsten mitgemacht, aber blasen konnte ich nicht, und Trommler hatten sie genug.
Vor dem Haupteingang exerzierten zwei Züge in marschähnlicher Aufstellung, meiner war dabei. Rolf Hansen, der Zugführer, brüllte über den Platz, sie trainierten Formationen, Schwenks und Stillstand. Im Laufschritt und mit schwerem Gepäck keuchte der Strafzug an der Grenze zum Nachbargrundstück auf und ab.
Vor den höheren Stufen der Eingangstreppe herab beherrschte mit kühler Miene und die Ferne durchdringenden Augen Wolfgang Sievert [Wolfgang Haack], der Fähnleinführer, das Geschehen. Ihm wurde ich vorgeführt, oder eigentlich unter ihm vorbeigeführt mit kurzem Zwischenaufenthalt.

   Als das Schlurfen des Trupps auf dem körnigen Grund des Schulhofs aufhörte, straffte sich Werner Lüdke, die Arme eng angelegt, reglos wie ein Denkmal, und schnarrte seine Meldung herunter.
„Fähnleinführer, wir haben ihn in der Ahorn-Allee abgefangen. Wir übergeben ihn dir zur gerechten Bestrafung wegen unerlaubten Fernbleibens vom Dienst.“
Nun erwartete ich, befragt zu werden, aber Wolfgang Sievert grinste über mich hinweg und verkündete bündig und ohne Widerrede sein Urteil:
„Zwei Wochen Strafzug.“
Ich protestierte.
„Aber ich habe doch nur …“
„Klappe halten“, kam es herunter.
So eine Sauerei, dachte ich, der gibt mir nicht mal die Chance, die Gründe zu erklären. Klar, wenn ich wirklich Mist gemacht hätte. Sühne für ein Vergehen, dagegen gibt es nichts zu sagen.
Es hatte sogar etwas Abenteuerliches, Selbstbewußtes an sich, wenn man mal ’ne Strafe für aufsässiges Verhalten bekam oder irgendein Ding drehte. Bei vielen galten Gewitztheit und Verschlagenheit gegen übertriebene Forderungen der Führer als eine Art Mutprobe.

   Ich war also durchaus bereit, irgendeine Strafe anzunehmen, wenn ich wirklich gegen Regeln verstoßen oder böswillig Pflichten verletzt hätte. Dann hätte ich es hinnehmen müssen, eine Zeitlang das Ehrentuch mit dem braunen Knoten nicht tragen zu dürfen. Aber ich war mir keiner Schuld bewußt. Vom Dienst wegzubleiben, wenn Vater oder Bruder auf Urlaub waren, galt immer als Entschuldigung.
Aber hinter dieser Sache steckte bestimmt der Wichtigtuer Werner Lüdke, überlegte ich. Der hat bemerkt, daß ich fehlte, ist zum Sievert gegangen, hat seine Gefolgschaft zusammengetrommelt und auf Fang geschickt. Zuerst haben sie vor unserem Haus gelauert, dann sahen sie mich die Ahorn-Allee entlangschlendern.
Zwei Wochen Strafzug. Ich wußte von anderen, was mir blühte.
„Besondere Übungen, um den Verstand wieder herzurichten“, so ähnlich hieß das. Und das konnte bedeuten:
nächtliche Märsche mit schwer beladenem Rucksack, fast bis zum Umfallen, Tümpel durchwaten in voller Montur, Ausrüstungen schleppen, Gräben ziehen und Brennholz für Lagerfeuer sammeln, wenn irgendwo gezeltet werden sollte, es gab auch Kniebeugen und Hitlers Lebenslauf auswendig lernen oder x-mal abschreiben.
Das war oft eine üble Schinderei, aber sie blieb, wie wir es selbst auffaßten, noch im Rahmen des Sportlich -Abenteuerlichen, ich kann jedenfalls nicht sagen, darunter übermäßig gelitten zu haben.
Das eigentlich Kränkende, wirklich Strafende, empfanden wir damals im Verbot, die Ehrenzeichen der Uniform zu tragen.
An vier Nachmittagen, immer von drei bis sechs, erfuhr ich, was Schleifen im Strafzug bedeutete: Ab, marsch, marsch, stillgestanden, hinlegen, auf, nieder, auf, nieder, auf, marsch, marsch, antreten …
Aber ich erlebte auch die freundschaftliche Nähe anderer Strafversetzter, vor allem von Heiner, den ich vorher nur flüchtig kannte und der das alles viel leichter nehmen konnte, der grinsen konnte, wenn ihn einer anbrüllte, der absichtlich ganz langsam zum Stillstand kam, wenn eigentlich ein ruckartiger Bewegungsablauf erwartet wurde, der ein loses Mundwerk besaß, für das er einmal eine Verlängerung von einer Woche erhielt, als er einem allzu forschen „Schnauze!“ seines Zugführers ein ebenso forsches „nein!“ entgegensetzte.
Wurden wir im Strafzug Feldwege entlanggehetzt, keuchten Heiner und ich nebeneinander. Hieß es, Brennholz sammeln, halfen wir uns gegenseitig, die Lasten auf die Schultern zu heben.
Dann waren da die vielen Stunden, in denen wir Wäscheklammern schnitzen mußten. Es war ganz einfach: Daumendicke Haselsträucher schneiden, in ungefähr fünfzehn Zentimeter lange Stücke zerteilen und diese von einer Längsseite her bis zur Mitte konisch einkerben.
Heiner und ich hielten uns bei dieser Arbeit im Garten hinter dem Haus auf, im dem er wohnte. Es war uns eine bestimmte Stückzahl auferlegt worden, aber wir durften uns die Arbeit aufteilen, wie wir wollten. Auf dem Hofplatz vor dem Haus hatten wir einen Vorrat von Haselsträuchern angelegt und daraus mit einem Fuchsschwanz eine größere Menge Rohlinge gesägt. Wenn wir beim Kerben waren, hatten wir Zeit zum Erzählen.
„Heiner, was hast du eigentlich zu verbüßen?“
„Ach, ich hab mich mit dem Werner Lüdke angelegt.“
„Was, du auch? Ich kann dir sagen, das ist ein blöder Hund.“
„Ja, ja, dem hab ich eine geschmiert. Du, der ist gar nicht so stark, wie er immer tut. Er versteckt sich hinter seiner Gefolgschaft und macht den lieben Diener bei Wolfgang Sievert. Wenn du ihn mal richtig vorknöpfst, dann kippt er aus den Latschen.“
„Und warum hast du ihm eine geknallt?“
„Das war eigentlich ’ne ganz komische Sache,, ich hab gegrinst, als rauskam, er kann nicht schwimmen, weißt du, neulich, als wir im Waldbad waren. Da fing er an, ich sollte den Nichtschwimmern die Bewegungen im Wasser vormachen. Ich sage: Mach du doch. Er auf mich los, will mich ins Wasser schubsen. Da hat’s dann geknallt, ’ne richtig schöne, satte Ohrfeige, das gab ein Gelächter und Gegröle, sag ich dir. Beim nächsten Dienst hat mich dieser Sack dann beim Fähnleinführer verpfiffen. Drei Wochen hab ich dafür gekriegt, zwei sind rum. So war das, und du, was singst du hier ab?“
Absingen, dachte ich, typisch Heiner, das so zu nennen. Der hatte immer solche Ausdrücke.
Im Hintergrund schepperte Heiners Mutter mit Küchengeschirr, sie summte leise vor sich hin. Absingen! Als ob man etwas Lästiges mit Singen vertreiben kann, vielleicht gar nicht so falsch.
Wir hockten auf einem Stapel alter Balken, Überresten eines brüchig gewordenen Holzschuppens, der abgerissen worden war, den Heiners Vater mit den übrig gebliebenen, brauchbaren Balken wieder aufbauen wollte, aber nicht mehr dazu kam, weil er einberufen wurde. So war alles liegen geblieben. Stellenweise hatte sich Gras und Unkraut durchgeschoben, einmal rannte plötzlich eine Ratte unter dem Stapel hervor. Der Platz eignete sich vorzüglich für unsere Arbeit, denn niemand hätte von uns verlangt, die Schnitzabfälle zu beseitigen. Die fielen kaum auf.
Heiner hörte aufmerksam zu, kerbte unverdrossen weiter, während ich meine Geschichte ausbreitete. Als ich fertig war, blickte er mich fragend von der Seite an.
„Ich weiß gar nicht, was du willst. Ob du nun den verschärften Dienst und diese Schnitzerei hier machst ohne Halstuch und Knoten oder ob du dahinten“, er machte eine Bewegung mit der Messerspitze hinter sich in Richtung auf das Schulhaus, „in der Truppe stehst, mit Halstuch und Knoten und ewig dieses ’stillgestanden, halt, die Augen geraadeeaus!‘ machst, ist doch ziemlich egal. Mach dir nichts draus!“
„Weiß nicht, ich finde, das war ’ne Sauerei, wie sie mich behandelt haben.“
„Sie haben dich für was bestraft, was sie sich ausgedacht haben, sie müssen eben zeigen, wer das Sagen hat. Oder Lüdke wollte dir eins auswischen, weil er dich nicht ausstehen kann, was weiß ich.
Was dich am meisten ärgert: Sie haben dir Tuch und Knoten abgenommen, du hast jetzt nur noch ’ne halbe Uniform. So ist das doch, oder? Sie haben nämlich eigentlich nicht dich bestraft, sondern deine Uniform. Laß sie doch, was macht das schon?“
„Verstehe ich nicht.“
„Mann, bist du begriffsstutzig! Wenn sie dir nun Knoten und Halstuch gelassen hätten und nur das mit dir gemacht hätten, was wir jetzt tun müssen, und das Holzsammeln neulich, was dann ? Was hättsde dann gesagt? Kein Unterschied zum Dienst. Holzsammeln mußten die anderen auch schon, ohne daß sie gegen irgendetwas verstoßen hätten, wofür sie bestraft werden mußten, und zum Wäscheklammern haben sie auch aufgerufen: ‚Freiwillige vor, jeder bringt fuffzig Stück‘, weißde noch? Siehsde!“
„Vielleicht hast du recht, Heiner.“
„Glaub mir, das ist so.“

Mir fiel mein Vater ein, sein Spruch mit dem Geßler-Hut, mir begann zu dämmern, was er gemeint haben könnte. Fühlte er sich vielleicht nicht angesprochen, wenn ihn die Leute so zackig grüßten oder ein stahliges „Heil Hitler“ boten? Ich hätte ihn in diesem Augenblick gern gefragt, hätte gern gewußt, wie er darüber denkt, warum er nicht sagt, was in ihm vorgeht, oder nur so kümmerliche, immer in der Schwebe bleibende Andeutungen macht.
Aber er war weit weg und hat mir ungewollt vielleicht erspart, seine Antworten als Ausflüchte erfahren zu müssen, miterleben zu müssen, wie er sich schon im Ansetzen meiner Frage abschloß:
„Solche Fragen kann man nicht beantworten, darüber habe ich noch nicht nachgedacht, was willst du mit dieser Frage sagen.“ So oder ähnlich machte er die Tür zu seinem Inneren zu.

Mit Heiner freundete ich mich an, er schloß sich oft den weit in die Feldmark führenden abenteuerlichen Spielen von unserem Garten aus an, kam manchmal direkt von der Schule zu uns und aß mit uns zu Mittag.
Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Nach dem Krieg zog er mit seiner Familie weg, sein Vater kehrte schon kurz nach Kriegsende zurück und bekam in irgendeiner größeren Stadt, vielleicht Berlin, eine Anstellung. Aber ich habe nicht vergessen, wie wir einen Tages Werner Lüdke stellten und ihm, wie Heiner immer sagte, eine „Briefmarke“ verpaßten.

Das sind Leute wie wir

   Das vibrierende Dröhnen der Motoren kam näher und näher. Zuerst war es ein fernes Summen aus westlicher Richtung, dann ein bohrendes, drohendes Brummen in breiter Front vor mir, nun füllte es schon den Luftraum über mir allseitig aus und preßte sich in meine Ohren.
Noch hielten sich Neugierde und Angst, Standhaftigkeit und Schauder die Waage. In kurzer Fluchtdistanz zum Luftschutzbunker, einem grob ausgebauten Erdloch, blickte ich beklommen in den wolkenlosen Himmel. Da waren sie wieder: viele, kleine, silbern leuchtende Punkte, weiße Streifen hinter sich herschleppend. Zu Pulks geordnet, zogen sie nach Osten, nach Berlin, Dresden oder, wer wußte das, mit einem unerwarteten Schwenk nach Hamburg.
„Komm sofort in den Bunker, auf der Stelle!“ befahl meine Mutter aus dem finsteren Hintergrund des Bunkers.
„Ja, gleich.“
„Nein, sofort! Es ist viel zu gefährlich, Junge, sich da draußen sehen zu lassen. Da kann jeden Moment etwas runterkommen.“
„Ich komme ja schon.“
Hastig schlüpfte ich durch die eiserne Tür, schloß sie hinter mir fest zu. Es war stockfinster und roch nach feuchtem Sand und frischem Holz, aber ich fühlte mich im Schoß der Erde geborgen.
Eine Kerze flackerte auf einer Kiste. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich die Gesichter meiner Mutter und meiner zwei Jahre jüngeren Schwester Inge. Sie hielten sich mit beiden Händen die Ohren zu, als wollten sie den Krieg nicht wahrhaben oder könnten ihn so von sich fernhalten.
Ich blieb, wie ich mir einredete, tapfer und lauschte dem unheimlichen Dröhnen. Einer mußte doch aufmerksam bleiben für das, was draußen geschah. Wenn ich im Herbst zum Jungvolk wollte, mußte ich stark sein, durfte nicht meine Rolle als Beschützer der Familie vernachlässigen.
Ich war immer der Letzte, der den Bunker aufsuchte, der mutig den anfliegenden Bombern entgegensah, auch wenn mein Herz immer schneller klopfte. Erst im letzten Augenblick schloß ich die Bunkertür sorgfältig wie einen Tresor und ließ mich in ihrer Nähe nieder wie eine aufmerksame Wache. Von dort her interpretierte ich das Geschehen draußen wie der Sprecher im Radio.
Ich war auch immer der erste, der Mut faßte, einen Blick durch einen Spalt der zaghaft geöffneten Tür in den Himmel zu wagen und „Entwarnung“ zu rufen, wenn ich die Lage für entspannt hielt.
Meine Mutter nahm das nie ernst, erkannte in meinem Verhalten nicht die kindlichen Ängste und deren Überspielen, auch nicht die Phantasien, Ersatz für den fehlenden Vater zu sein. Vielleicht wollte sie es auch nicht annehmen. Sie hielt mich für verspielt, verträumt und leichtsinnig, riß mich oft gewaltsam aus meiner Versonnenheit.
„Ich mein es ja nur gut mit dir, Junge, du mußt mehr auf dich achten, wenn du dauernd träumst, kann dir leicht etwas passieren.“
Manchmal, wenn wir im Bunker kauerten, verlangte sie, meine Schwester an die Hand zu nehmen und mich brav und still zu verhalten. Sie ahnte wohl nicht, daß sich meine Ängste dadurch eher noch steigerten.
„Wenn ihr nicht direkt getroffen werdet, seid ihr hier in diesem Bunker sicher“, hatte uns mein Vater bei seinem letzten Urlaub zu beruhigen versucht. Er hat sich damit auch selbst beruhigt.
Der Bunker bestand aus einem in den Hang hinter unserem Haus getriebenen Erdloch, nicht besonders groß, vielleicht drei mal drei Meter in der Fläche und ungefähr zwei Meter hoch. Erwachsene konnten jedenfalls aufrecht stehen. Die Seitenwände bildeten dicke, tief in den Boden gegrabene Baumstämme, eng aneinandergereiht und durch querliegende Balken oben abgestützt, die zugleich als untere Schicht der Dachaufbauten dienten. Darüber lag eine dicke Schicht Reisig, deren Hohlräume mit Sand aufgefüllt waren. Gras und Unkräuter hatten alles überwuchert. Ein Traum von einer Höhle für Kinder, wenn nicht die harte Wirklichkeit gewesen wäre, der dieses Erdloch gewidmet war.
Was konnte uns also schon passieren, außer bei einem Volltreffer. Ich übte mich in Gelassenheit und überspielte meine Angst, indem ich mir vorstellte, wie die deutsche Flak und deutsche Jagdflieger einen Bomber nach dem anderen herunterholten.
Da kauerte ich nun, formte mir aus den Geräuschen, den einzigen Nachrichten, die von außen in den Bunker drangen, Bilder des Geschehens. In das Dröhnen mischte sich von Zeit zu Zeit das Heulen von Jagdflugzeugen und das Rattern von Bordkanonen. Ich hatte einmal beobachtet, wie drei Maschinen ständig im Kreis flogen, während Angreifer sie umschwärmten wie Mücken eine Lampe.
Auch jetzt schossen sie wieder. Aus weiter Ferne drangen Erschütterungen von Bombeneinschlägen herein, der Boden zitterte ganz sanft, kleine Rinnsale von Sand brachen zwischen den Baumstämmen durch. Meist waren es Notabwürfe von angeschossenen Bombern. Sie waren besonders gefährlich. Ich hockte auf dem Boden des Bunkers, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und versuchte, um meine Angst zu bekämpfen, ein harmloses Gespräch zu inszenieren.
„Wie sehen eigentlich Engländer aus?“
„Wie sollen die schon aussehen?“
Mutters Gegenfrage bedeutete, ich sollte still bleiben. Im Kerzenschein sah ich sie reglos wie eine Statue auf ihrer Bank sitzen, den Kopf in beide Hände gestützt, die Ellbogen auf die Beine gestemmt.

Sie schien mit den Gedanken ganz woanders oder tief in sich selbst drinnen zu sein.
„Wie sollen die schon aussehen ?“ Damit antwortete sie nicht, sondern sie stellte meine Frage infrage. Sie mochte nie reden, wenn sie Angst hatte. Dann waren ihre Sätze kurz, fast tonlos gesprochen und brachen hart ab, so daß man wußte, nichts kam mehr hinterher, nicht einmal, wie sonst, ein „verstehst du?“ oder „mein Junge“ oder „mein Kleiner“, obwohl ich das nun gar nicht mochte. Ich gab noch nicht auf zu fragen. „Hast du schon mal einen gesehen “ „Nein, sei still, das sind Leute wie wir.“ Danach schwieg sie oder horchte, sprach vielleicht mit sich selbst, redete sich gut zu, dachte an Vater oder fühlte sich leer. Wer konnte das wissen ? Unvermutet stand sie auf, setzte sich zu meiner Schwester und zog sie ganz fest an sich.

   Engländer konnte ich mir nicht recht vorstellen. Irgendwie war dieses Wort vor Jahren im Gerede meiner Umgebung aufgetaucht, bei Vater und Mutter, im Radio, auf der Straße. Ganz zu Anfang des Krieges konnte ich mit dem Wort „England“ oder „Engländer“ nicht viel anfangen. Ich erinnere, daß mir die klangliche Nähe zum Wort „Engel“ eine Zeitlang zu schaffen machte, hatte undeutliche Vorstellungen vom „Land der Engel“.
daß von dorther Feinde kamen, war seltsam. Aber der dichter werdende Gebrauch des Wortes in erlebbarer Verbindung zu wirklichen Ereignissen wie Alarmsirenen („die Engländer kommen“) oder Bombenabwürfen („wir werden’s ihnen heimzahlen, diesen Engländern“), den Siegesmeldungen über die Engländer und Überschriften auf Landser-Heften („Englands erste Schlappe“) ließen meine Phantasien bald in eine bestimmte Richtung sprießen.
So verband ich schließlich mit Engländern irgendwie finstere Gestalten, solche, wie sie als Räuber und Bösewichte in Kinderbüchern vorkamen, Hunnen vielleicht wie in der Nibelungensage, gefährliche Angreifer, die Bomben, Silberstreifen und bedrucktes Papier abwarfen, das wir nicht anfassen sollten, deren Lügengeschichten im Radio nicht abgehört werden durften, wie auf einem Papierstreifen an unserem Gerät zu lesen war, die uns alle gefangen nehmen würden, wenn sie Deutschland eroberten und die der Führer mit aller Macht zurücktreiben würde. Das ist doch ganz klar, dachte ich mir in meinem neunjährigen Kopf. Das sind keine Leute wie wir, bestimmt nicht. Was weiß denn Mutter schon davon. Ich fühlte mich ihr überlegen.

   „Sie sind weg“, befand ich, als der Motorenlärm abebbte. Ich öffnete behutsam die Bunkertür. Durch den schmalen Spalt sprang helles Sonnenlicht und ein übler Brandgeruch drang ein. Noch war ein fernes Brummen zu hören, aber ich traute mich schon hinaus, wollte in den Garten schleichen, aus ganz bestimmten Gründen. Es war die Zeit der Erdbeerreife, Juni 1943.
Gerade hatte ich ein paar Schritte am Haus vorbei in den Garten getan, als plötzlich ein durchdringender, von knallenden Geräuschen hart unterbrochener Motorenlärm rasch näher kam. Ich blickte erschrocken auf und sah ein qualmendes, wackelndes Flugzeug herunterkommen, nur wenige hundert Meter an unserem Haus vorbei. Es schwebte mehr, als daß es flog.
Der stürzt ab oder macht ’ne Notlandung, dachte ich und rannte den Hang hinterm Haus hinauf, weiter in die Feldmark hinein. Nichts zu sehen. Oder doch? Dahinten, ein abgebrochener Ast baumelte an einer großen Eiche. Das Flugzeug mußte sie gerammt haben, dort mußte es runtergekommen sein.
Ich lief, was die Lunge hergab, ließ das entsetzte Schreien meiner Mutter hinter mir. Sie rief, drohte, befahl, aber die Neugierde war zu mächtig.
In wenigen Minuten kam ich der Stelle näher. Noch immer war nichts zu erkennen, kein Rauch, keine Flugzeugteile, nicht einmal irgendwelche Geräusche. Da kam plötzlich ein Mann in einer merkwürdigen Uniform über ein Gatter gesprungen und mir entgegengerannt. Er blutete an den Händen und im Gesicht.
„Go back“, schrie er und machte mit beiden Händen heftige Bewegungen, die mich zur Umkehr aufforderten. „Go back, danger!“ wiederholte er keuchend. Als er mich erreicht hatte, ergriff er meinen Arm und zerrte mich mit sich fort. So flüchtete ich mit ihm zweihundert oder dreihundert Meter unter der Deckung des Weggehölzes , ständig auf eine Explosion gefaßt, vornübergebeugt, um mich blitzschnell in den Sand zu werfen. Aber nichts geschah. Ich blieb atemlos stehen, noch immer im Griff des Fliegers. Da sah ich vor mir am Ende des Feldweges Soldaten stehen, Pistolen in der Faust.
Der Flieger ließ mich los, hob beide Arme und fiel in einen langsameren Gang zurück, während ich weiterlief. Jetzt erst kam mir ins Bewußtsein, daß ich an einen Engländer geraten war. Es war alles so schnell gegangen. Erst die Soldaten machten mir deutlich, worauf ich mich wohl doch etwas leichtsinnig eingelassen hatte.
„Wo kommst du denn her?“ herrschte mich ein Offizier an.
„Von zu Hause.“
„Hau ab, du bist wohl verrückt! Das Ding kann jeden Augenblick hochgehen, die Maschine hat noch Sprit und womöglich scharfe Munition an Bord. Na, mach schon!“
Ich verzog mich langsam heimwärts, nicht ohne immer wieder Blicke zurückzuwerfen. Der Engländer wurde in eines der Fahrzeuge geschoben. Mehr konnte ich nicht erkennen.
Zu Hause angekommen, hockte ich eine Zeitlang am Rande des Erdbeerbeetes unter einem Busch.
Dann und wann kroch ich vorsichtig hervor und langte zu. Schade, ich hätte so gern ein abgestürztes Flugzeug gesehen. Dann dachte ich an den Mann, der es geflogen hatte. Ein Engländer! Er war gar nicht zum Fürchten, kein Räuber und auch kein Hunne. Nur blutend, bestimmt froh, dem Tod gerade noch entronnen zu sein.
Als meine Mutter zornig zeternd in den Garten gelaufen kam, fühlte ich mich beim Erdbeerraub erwischt und zerdrückte vor Schreck den kleinen Vorrat in der Hand. Ihre Schelte aber galt meinem leichtsinnigen Ausflug zum notgelandeten Flugzeug.
„Mach das nicht noch mal, so einfach abzuhauen. Wenn ich dich ausdrücklich zurückrufe, dann gehorchst du gefälligst, verstanden? Was soll ich bloß mit dir machen? Du tust, was du willst. Begreifst du denn nicht, daß das nicht geht ? Wohin soll das führen, wenn du so weitermachst, was soll ich Vater sagen, wenn er fragt, wie du dich benimmst.“

   Ich ließ sie reden. Das kannte ich schon, manchmal dauerte es Minuten, bis sie fertig war. Als sie sich endlich umdrehte, um wieder ins Haus zu gehen, rief ich ihr laut nach:
„Ich hab einen Engländer gesehen.“
Sie reagierte nicht. Entweder wollte sie es nicht hören, erinnerte sich der Situation vorhin im Bunker und mied ein Gespräch jetzt, wo sie verärgert war, oder sie hatte schon längst wieder etwas anderes im Kopf. Aber dann war die Schelte nicht so wichtig für sie.
Ich überlegte, warum sagt sie nichts? Sie hätte doch fragen können: Nun, wie sah er denn aus ? Dann hätte ich geantwortet: Er hat geblutet und ist mit mir gerannt. Zuerst hab ich gar nicht gemerkt, daß er ein Engländer ist. Sie haben ihn verhaftet und eingesperrt. Sie hätte dann sagen können: Siehst du, es sind eben Leute wie wir, das hab ich doch gleich gesagt, oder nicht?
Aber wir redeten nicht miteinander über den Engländer, auch nicht darüber, was die Soldaten mit dem Gefangenen wohl machen würden, ob er ins Gefängnis käme oder zu einem Bauern, um dort zu arbeiten. Wir redeten überhaupt nicht.
In solchen Augenblicken führte ich oft Selbstgespräche, fragte etwas und gab mir selbst die Antworten, indem ich mir vorstellte, wie Mutter oder Vater zu sprechen. Ich legte ihnen Äußerungen in den Mund, auf die ich aufsässig antworten konnte. Ich sagte einmal, der Mölders holt sie alle runter, alle, keiner kommt davon. Mutter in mir antwortete: Ich kenne Mölders nicht. Ich: Du bist dumm, du weißt nichts, vom Krieg verstehst du überhaupt nichts, aber du schreist hier immer rum. Sie verstummte, ich sah, wie ihr Tränen aus den Augen liefen, während ihr Gesicht lächelte.
Die Sache mit dem Engländer beschäftigte mich ziemlich lange. Ich lernte an solchen Erlebnissen unterscheiden zwischen dem, was ich vom Hörensagen wußte und dem, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte. Was ich nicht durchschaute, damals noch nicht, war, daß die Leute unterschieden zwischen dem, was sie wußten und dem, was sie sagen mußten, um ungeschoren davonzukommen.

   Ungefähr zwei Jahre später, im Mai 1945, hatte ich unter völlig anderen Umständen ein ähnliches Erlebnis mit einem Engländer.
Die Waffen schwiegen gerade erst einige Wochen. Die Leute hatten aber noch Mühe, das Zucken im rechten Arm zu unterdrücken, wenn sie ein schlichtes „Guten Tag“ boten. Diesen Nachhall der Gewohnheit beobachtete ich nicht nur bei anderen, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Ich selbst rief einmal einem Engländer versehentlich ein lautes „Heil Hitler“ zu und erntete Gelächter.
Die durchziehenden Militärverbände der Engländer waren irgendwo im Lande zum Stehen gekommen, hatten sich verteilt und als Besatzungsmacht niedergelassen, organisierten ihre Versorgung und begannen, das, was von der deutschen Wehrmacht an Truppen und Material übriggeblieben war, aufzulösen.
Der 31. Mai 1945 war ein schwüler, sonniger Tag. Auf dem Marktplatz in der Mitte der Stadt waren Militärlastwagen und Panzerfahrzeuge der Engländer aufgefahren. Ich hatte mich dahingetrollt, stand neugierig und immer ein bißchen auf Abstand herum. Über dem Blech der graugrünen Fahrzeuge flimmerte die Hitze. Soldaten lehnten im Schatten gegen die geöffneten Ladeklappen, aßen etwas, rauchten und redeten in einem für mich unverständlichen Englisch. Ich verstand kein Wort, obwohl ich doch schon einige Monate Unterricht in Englisch gehabt hatte.
Die Soldaten hatten anscheinend keine andere Aufgabe, als eben anwesend zu sein und zu warten. Nur selten drang ein Kommando durch diese gelassene Reglosigkeit, wirkte dann fast wie etwas Fremdes in der Stille des Nachmittags. Eine leichte Brise strich durch die hohen Linden am Rande des Platzes, ließ das Sonnenlicht glitzern und die Blätter leise rauschen.
Plötzlich durchbrach eine ohrenbetäubende Detonation die Ruhe, gefolgt von einer heftigen Druckwelle. Staub wirbelte hoch, Fensterglas zersplitterte an den Häusern ringsumher, die Scheiben wurden weit auf den Platz geschleudert. Dachpfannen lösten sich, rutschten ab wie Lawinen, segelten auf das Pflaster und zerschellten. In wenigen Sekunden stürmten viele Leute aus den Häusern, aufgeregt schreiend und ängstlich fragend, was da passiert war.
Schutzsuchend hatte ich mich unter einen Baum geflüchtet, mitten unter die Soldaten. Als ich mich umsah, erschrak ich: Beinahe in Richtung unseres Hauses quoll ein gewaltiger Rauchpilz in die Höhe. Funken sprühten aus ihm heraus, begleitet von kleinen Explosionen, dunkle Gegenstände wirbelten durch die Luft. Ich konnte nicht erkennen, was es war, ahnte auch nicht, was dort geschehen sein konnte. Mein Entschluß, nach Hause zu rennen, war mehr instinktiv als überlegt.
Ich bemerkte weder die Aufregung unter den englischen Soldaten noch das warnende Rufen der Leute, die mich laufen sahen.
„Geh nicht weiter! Bleib hier, da kommt bestimmt noch mehr“, keuchte jemand, der ein kurzes Stück neben mir herlief.
„Ich muß nach Hause“, sprach ich mehr zu mir selbst, denn der andere war schon zurückgeblieben, während ich weiterhastete.
Als ich etwa die Hälfte des Heimwegs zurückgelegt hatte, gab es eine zweite gewaltige Detonation. Ich warf mich zu Boden, hörte es über mir pfeifen und heulen, um mich herum dumpf prasseln und hart auf das Pflaster der Straße klatschen. Als das Krachen nachließ, hob ich langsam meinen Kopf. Der Weg und die Straßen waren übersät mit angesengelten Holzfetzen, zerbrochenen Geschoßkartuschen und Granatköpfen. Jetzt erfaßte mich entsetzliche Angst. Ich rannte, was Beine und Lunge hergaben, heimwärts, den Schutz von Häusern und Bäumen suchend.
Das Haus steht ja noch, Gott sei Dank, dachte ich, als ich näher kam. Unten am Garten angelangt, warf mich eine dritte heftige Explosion zu Boden, hörte ich abermals das Schwirren und Zischen in der Luft, das Niederprasseln von Gegenständen um mich herum in den Boden oder ins Gebüsch.
Ich robbte wie zu Zeiten des Jungvolks den schmalen Heckenweg entlang, der neben unserem Grundstück den Hang hinauf in die Feldmark führte. Durch das obere Gartentor erblickte ich unter der großen Eiche den Kinderwagen meiner jüngeren, erst halbjährigen Schwester Birgit und wurde schneller.
Gerade wollte ich zum letzten Spurt ansetzen, als mir ein Engländer den Hang herunter entgegentaumelte. Seine Uniform war völlig zerrissen, sein Gesicht über und über von Blut überlaufen, ein Arm baumelte schlaff in seiner Uniformjacke. Er gestikulierte und schrie:
„Go back, go back, more, more!“
Mit dem unverletzten Arm machte er heftige Bewegungen, die schnelle Flucht, sofortige Umkehr bedeuten sollten. Dann wollte er mich packen, aber ich riß mich los und rannte auf den Kinderwagen zu. Er war leer. Nur ein angekohltes, zerfetztes Brett lag darin, die Matratze war mit Ruß und Staub gepudert. Sie werden im Bunker sein, überlegte ich.
Die Tür zum ehemaligen Luftschutzbunker war verschlossen oder klemmte. Ich trommelte mit der Faust dagegen. Als endlich jemand öffnete, schlüpfte ich hastig in das finstere Erdloch. Ich setzte mich auf den Sandboden und keuchte mich aus. Erst nach und nach bemerkte ich, daß außer meiner Mutter und meinen beiden Schwestern auch unsere Nachbarin, Frau Tietjen, mit ihren zwei Kindern hier Deckung gesucht hatten.
Die Nacht hindurch bis zum frühen Morgen dauerte das Prasseln und Knistern. Stunde um Stunde folgten unentwegt kleinere und schwerere Explosionen, flogen Bruchstücke von Granaten, angekohltes Holz und andere Gegenstände durch die Luft.
Nur für wenige Minuten konnte hin und wieder die Luke geöffnet werden. Ein beißender Geruch und ein Nebel aus schwebendem Feinstaub hatten sich ausgebreitet. Irgendwoanders waren Häuser in Brand geraten. Ich hörte die Sirenen und das schrille Klingeln der Feuerwehrwagen.
Noch am frühen Abend war die leere Kartusche einer Artilleriegranate gegen unsere Küchentür geprallt, hatte deren Füllung durchschlagen und den Geschirrschrank samt Inhalt zerrissen. Sonst war nichts an unserem Haus zerstört, soweit man es in der Nacht erkennen konnte.
Im engen Bunker unter dem bedrohlichen Krachen, dessen Ursache allen unerklärlich blieb und von dem man nicht wußte, wie lange es dauern würde, breitete sich Untergangsstimmung aus.
„Das Überleben wir hier nicht, das wird immer schlimmer. Sowas hatten wir ja nicht mal im Krieg“, jammerte Frau Tietjen.
Sehen konnte ich sie nicht. Kerzen und Streichhölzer, die hier während des Krieges stets bereitlagen, hatten wir Kinder beschlagnahmt, nachdem der Bunker nicht mehr gebraucht wurde und wir ihn zum Spielen besetzen durften. So blieb es völlig dunkel in diesem Erdloch. Ich konnte nur vermuten, daß die alte Sitzordnung wieder galt: Die Nachbarin saß zwischen ihren beiden Kindern, die sie fest mit ihren kräftigen Armen an sich zog, auf der Bank an der hinteren Wand. Mutter, mit Schwester Birgit auf dem Schoß und der zitternden Inge neben sich, kauerte auf einem alten Bettgestell seitlich davon. Als die Luke einmal kurz geöffnet wurde, erkannte ich, daß es so war. Ich hatte das Gefühl, der Krieg sei zurückgekehrt.
Meine Mutter sprach kaum, ihre Sätze waren kurz und abgehackt, sie hatte Angst. Frau Tietjens Jammern schien sie zu stören, sie sagte:
„Es bleibt uns nichts als abzuwarten, was passiert. Es hat überhaupt keinen Sinn, sich verrückt zu machen.“
Mir fiel der Engländer wieder ein, der mir blutüberströmt am Nachmittag entgegengekommen war, und ich erinnerte mich der Notlandung des englischen Flugzeugs zwei Jahre zuvor. Eine seltsame Wiederholung jener Begegnung. Der wichtige Unterschied zu damals war, daß dieser Engländer nicht gefangengenommen wurde. Auch waren Engländer längst ein gewohnter Anblick geworden, ich brauchte keine abwegigen Vorstellungen mehr zu berichtigen.

   Ich wollte die Geschichte erzählen, aber die Stimmung im Bunker drückte mich zurück. Gerade hatte ich angesetzt:
„Als ich hierher gerannt kam, lief ein halbtoter Engländer …“, unterbrach mich meine Mutter:
„Sei still, später!“
Niemand wollte etwas von solchen Sachen hören. Sie waren vor Angst in sich hineingekrochen, hatten hier im Bunker noch einen unsichtbaren Bunker um sich errichtet und sich fest darin eingeschlossen. Jeder schwieg allein vor sich hin.
Ich wollte Fragen stellen, wollte ein Gespräch beginnen, um meine eigene Angst zu überlisten. Ich versuchte es nach einer Weile noch einmal. Ob denn keiner eine Ahnung habe, was da in die Luft geflogen sein könnte, wollte ich wissen. Keine Antwort. Vielleicht haben sie, was ich im Dunkeln nicht sehen konnte, mit dem Kopf geschüttelt und wenigstens so reagiert.
Ich fühlte mich allein gelassen unter dem Krachen, abgeschoben mitten unter vertrauten Menschen. Die erzwungene Stille steigerte meine Aufmerksamkeit für jedes fremde Geräusch, das von draußen hereindrang. Jedes Knistern war ein Feuer, das auf unser Haus übergriff, jede Explosion ein Volltreffer auf eines der umliegenden Häuser, jedes Bersten ein gestürzter Baum. Ich hatte das Gefühl, die Hölle bricht über uns herein. Ich wußte wohl, es waren Einbildungen, aber ich konnte sie nicht vertreiben.
Erst am folgenden Abend, als endlich Nachrichten aus dem Bürgermeisteramt oder der englischen Kommandantur bis zu uns vorgedrungen waren, kam es an den Tag: Die Engländer hatten in den letzten Wochen auf einem Feld oberhalb der Stadt, nur einige hundert Meter hinter unserem Haus, ein Sammellager für erbeutete deutsche Munition errichtet. Sie waren seit Tagen damit beschäftigt gewesen, Landminen zu entschärfen. Unvorsichtige Hantierungen sollen einen Brand und eine Kettenreaktion von Explosionen ausgelöst haben, die niemand mehr unter Kontrolle bringen konnte. Es hatte viele Tote und Verwundete unter den Engländern gegeben.
An diesem Abend blieb ich lange wach. Bilder von zerfetzten Uniformen und blutenden Körpern bedrängten mich. Ich sah sie alle „go back, go back!“ schreien, bevor sie starben. Sie sind doch Leute wie wir. Inzwischen wußte ich es besser, konnte mir vorstellen, daß zu Hause in England Familien und Freunde auf sie warteten, die glaubten, der Krieg und das Sterben für ihn sei zu Ende. Aber Kriege haben eben lange Schatten.

   Noch Jahre nach diesem Unglück kamen beim Umgraben im Garten oder beim Pflügen auf den naheliegenden Äckern kleine und schwere Granaten zum Vorschein. Manche waren unversehrt geblieben, nur etwas angerostet, andere gerissen oder steckten leicht trennbar in ihren Kartuschen samt Treibsatz. Kein Wunder, daß wir gefährliche Spiele damit trieben, daß einem Mitschüler durch eine explodierende Handgranate der Bauch aufgerissen und mancher grobe Unfug angestellt wurde. Dies fiel in die Zeit gegen Ende der vierziger Jahre, als der Krieg immer noch nachhallte, eine Zeit von der ich hier nicht erzähle.

Die doppelte Heimkehr

   Überall in der Stadt gab es Familien, die der Krieg härter traf als uns. Unser Haus blieb unzerstört, die Familie vollzählig, wenn auch nicht beisammen. Woanders hatten Kinder ihre Väter oder Brüder verloren, waren Mütter oder Schwestern irgendwo in Hamburg im Bombenhagel umgekommen. Täglich strömten jetzt, Anfang des Jahres 1945, Flüchtlinge aus den östlichen Reichsgebieten in die Stadt. Ich sah Mütter weinen, die ihre Kinder auf der Flucht verloren hatten, die berichteten, wie sie ihre alten Eltern in einem brennenden Haus zurücklassen mußten, weil es keine Rettung mehr gab.
Auch in unserer Stadt, mitten im Holsteinischen, schlug der Krieg gelegentlich rauh zu, manchmal kam es zu Notabwürfen angeschossener Bomber, einmal zerriß eine Luftmine, die im Zentrum niederging, etliche Häuser und löschte ganze Familien aus.
Welches wirkliche Leiden und Grauen dieser Krieg hervorbrachte, zeigte sich mir an diesen Ereignissen mehr als an meinen eigenen, ganz persönlichen Erlebnissen. Am Ende war diese Tragödie unübersehbar geworden, ich selbst war elf und inzwischen wach und hellhörig geworden, mir aus vielem selbst einen Reim zu machen, wenn auch einen, der auf meine kindliche Einsichtsfähigkeit beschränkt blieb. Es war, als ob ein Vorhang rissig wurde und, noch bevor am 8. Mai das endgültige Aus verkündet wurde, in großen Fetzen herunterhing, so daß der Blick frei wurde auf die wahren Kulissen des Geschehens.
Niemand hatte mich darauf vorbereitet oder das Geschehene mit Erklärungen begleitet. Viele redeten fast bis zum Schluß von irgendwelchen Geheimwaffen, die Hitler noch bringen würde, wollten nicht wahrhaben, was augenscheinlich war, oder schwiegen.
Ich hörte von Erschießungen an Leuten, die allzu voreilig vom Ende sprachen, die von Fanatischen erwischt wurden, als sie ihre braunen Uniformen heimlich in einen Fluß warfen. Dort, wo die Altonaer Straße die Hudau innerhalb des Ortes überquert, hat mancher hastig seine verräterische Bürde von der alten Brücke geworfen. Noch nach Jahren fanden wir vom Wasser wieder freigespülte verrostete Pistolen, Munition und Parteiabzeichen.
Die letzten Wochen des „Großdeutschen Reichs“ verbrachte ich viel mit Heiner. Er wußte manches, was ich vergeblich erfragt hatte. Ich vermutete, seine Mutter sprach viel freimütiger als meine Eltern über Dinge, über die üblicherweise geschwiegen wurde, über die mit Augenzwinkern hinweggegangen oder Ausflüchte gebreitet wurden. Heiner verstand es, allem beim Jungvolk zwischen offener Aufsässigkeit und blinder Gefolgschaft hindurchzuschlüpfen, ohne den Bogen zu überspannen. Er war vorsichtig, aber nicht feige, und das gefiel mir.

   Gegen Ende des Krieges wurde der Luftraum durch Tiefflieger immer unsicherer. Anscheinend kaum noch von irgendeiner wirksamen Abwehr bedrängt, tauchten sie unerwartet aus heiterem Himmel über uns auf und schossen auf alles Bewegliche, was ihnen vor die Kanone kam. Ich fühlte mich ständig bedroht, besonders als Heiner und ich in den letzten Wochen vor dem Ende zur Errichtung von Panzersperren auszogen.
Ich bin nicht ganz sicher, ob seinerzeit alle Pimpfe von den Jungvolkführern abkommandiert wurden oder ob wir uns drängen ließen zur freiwilligen Hilfsarbeit, weil wir uns damit vom „Dienst“ befreien konnten. Aber es war ja kaum ein Unterschied.
Der Bau solcher Straßensperren erschien Heiner als vollkommen sinnlos.
„Ich weiß nicht, was der Quatsch noch soll. Glaubst du, daß diese Dinger wirklich einen Panzer aufhalten? Der bricht doch glatt seitlich durch die Häuser durch und schon ist er drinnen.“
„Kann sein, aber wahrscheinlich wollen sich unsere Soldaten mit Panzerfäusten hierhinter verschanzen, um sie abzuknallen. Meinst du nicht?“
„Wenn sowas kommt, haue ich vorher ab, dann gibt’s nämlich ’ne böse Knallerei.“
„Wo willst du denn hin?“
„Weiß nicht, wird mir schon was einfallen.“
Die Panzersperren waren ziemlich schlichte Bauwerke. Quer über wichtige örtliche Durchgangsstraßen hieß man uns zusammen mit Leuten vom Volkssturm dicke Baumstämme wie Spuntwände eingraben und zwar in doppelter Reihe mit einem Zwischenraum von vielleicht zwei Metern. Nur in der Mitte der Straße blieb ein schmaler Spalt frei, gerade eben ausreichend für einen kleinen Pkw. Ein Bauer fluchte, weil er mit seinem beladenen Fuhrwerk nicht durchkam.
Der Zwischenraum wurde mit Steinen und Sand aufgefüllt. Zu dieser Arbeit waren Heiner und ich eingeteilt. Wir wuchteten Feldsteine, die ein Lastwagen auf die Straße geschüttet hatte, über die ungefähr zwei Meter hohe Wand in den Zwischenraum, während andere Leute Sand nachschippten.
Die Sperre befand sich an der Ausfallstraße nach Norden, in der Nähe eines Bäckerladens. Ich sah die staunenden Augen des alten Meisters aus einem mehlweißen Gesicht starren, glaubte, einen Anflug von Verständnislosigkeit in seiner Miene zu erkennen. Lange stand er im Türrahmen, ohne ein Wort zu sagen oder gar mit Hand anzulegen. Seine Gleichgültigkeit beeindruckte mich, vielleicht dachte er auch:
„Ihr Idioten, was das wohl noch helfen soll?“
In jenen Tagen breitete sich eine merkwürdige Stimmung aus, die zwar jeder in Haltung und Ausdruck von sich gab, über die aber niemand offen sprach. Ich empfand sie als ein Pendeln zwischen der Erleichterung, alles würde bald ein Ende haben, und der bangen Frage, ob noch örtliche Kampfhandlungen kommen würden und wie man sich denen am besten entziehen könnte.
Das Endsieggeschrei war unter den Hitlerjungen der Stadt auch im März 1945 noch nicht verstummt, manche von ihnen fühlten sich dem Aufgebot der Wehrwölfe verpflichtet und bereiteten sich darauf vor, der Vorhut des Feindes aus dem Hinterhalt in den Rücken zu fallen. Aber es kam nicht dazu, die Kapitulation kam diesen Eiferern zuvor.
In den ersten Tagen nach dem 8. Mai herrschte eine unheimliche Stille in der Stadt. Kaum jemand traute sich aus dem Haus. Es war ein gespanntes Warten auf das Auftauchen der ersten englischen Einheiten.
Meine Mutter hatte mir strikt verboten, das Grundstück zu verlassen und mich vor dem Haus im Garten sehen zu lassen. Ich war auf einen Baum am Hang hinterm Haus geklettert, von wo aus ich bis tief in die Stadt hineinsehen konnte.
Der Einzug der Engländer geschah dann fast geräuschlos. Um die Mittagsstunde des dritten oder vierten Tages nach der Kapitulation waren mehrere Jeeps und Panzerspähwagen auf den Marktplatz gefahren. Damit galt die Stadt als besetzt. Ich habe sie nicht einmal kommen gesehen, sondern von Nachbarn gehört, sie wären da. Das war alles.

   Die einzige Spannung, die jetzt noch auf uns lag, war das Warten auf eine Nachricht von Vater, den wir irgendwo in Dänemark vermuteten. Zuletzt war er Kommandant in der Stadt Silkeborg gewesen, aber die Verbindungen dahin waren seit einigen Wochen unterbrochen.
Wir mußten auf die Vervollständigung unserer Familie bis kurz vor Jahresende 1945 warten. Unerwartet stand er eines Tages vor der Tür, etwas zerlumpt und schwach auf den Beinen, sonst aber munter. Wir fielen uns allesamt in die Arme, freuten uns und überließen uns diesem Augenblick des Wiedersehens.
Es war der Punkt hinter einer Reihe von dramatischen Jahren. Eigentlich ein Doppelpunkt, denn die Wundschmerzen des Krieges würden sich noch ausbreiten. Doch in diesem Moment ahnte niemand von uns, daß die Schatten des Krieges Vater und uns noch einmal einholen würden.
„Da bin ich, Glück gehabt, die letzten Wochen in Dänemark waren schlimm, der Untergrund war ständig hinter uns her, als wir begannen abzuziehen. Aber es ist noch mal gut gegangen. Später mehr davon. Jetzt muß ich mich erst mal ausruhen.“
Mutter schärfte uns ein, meiner Schwester Inge und mir, auf Vater Rücksicht zu nehmen, ihm die Heimkehr in das familiäre Leben und einen zivilen Neuanfang zu erleichtern.
„Ihr müßt das verstehen, er war so lange weg von uns, er muß sich erst wieder daran gewöhnen, zu Hause zu sein.“
Beim dem Wort „ziviles Leben“ fiel mir eigentlich zum ersten Mal auf, daß ich gar nicht genau wußte, welch einen Beruf Vater erlernt und früher ausgeübt hatte. Was wußte ich überhaupt von ihm, außer einigen Bildern aus seinen mehr anekdotischen Berichten über die verschiedenen Phasen seiner Mitwirkung im Krieg, dem Sudetenfeldzug, dem Polenfeldzug, dann Dänemark, wo er zuerst bei der Pressezensur in Kopenhagen eingesetzt war, später zum Stadtkommandanten von Silkeborg ernannt wurde.
Aber sein früherer Beruf? Er hatte gelegentlich alte Photos gezeigt. Eine prächtige Uniform trug er, war beim Leibregiment des bayerischen Königs in München gewesen, 1912/13, von wo aus er in den ersten Weltkrieg gezogen wurde, wie er erzählte. Ortsnamen wie Hartmannweiler Kopf und Verdun blieben mir im Gedächtnis, und von einem Regiment List war die Rede, das dort nahezu aufgerieben worden war. Es war spannend, weil er davon betroffen war, aufregend, wie er entkommen war. Aber seine persönliche Geschichte zwischen den beiden Kriegen blieb für mich leer.
Ich wußte nicht viel, nur daß er Kaufmann in Stockholm gewesen war vor dem ersten Weltkrieg, dorthin aber nicht zurück durfte, und daß er über zehn Jahre in Berlin gelebt hatte, bevor er Mutter 1932 heiratete. Über seine erste Ehe, die wohl zehn Jahre gehalten hatte in seiner Berliner Zeit, hat er sich völlig ausgeschwiegen.

   Nehmt Rücksicht auf Vater, hatte es geheißen. Für mich war nicht mein Vater zurückgekehrt, sondern jemand anderes. Seine Ankunft zu Hause war so anders, ohne Uniform, ohne den gewohnten Geruch von blankgeputztem Leder, Auspuffgasen und Benzin, von Schweiß und Tabakqualm, ohne die Stimmung von intensivem Zusammensein für ein paar kriegvergessende Tage, bis er wieder weg mußte.
Jetzt war ein ganz anderer Mann da, ein Unbekannter, der bleiben würde, in Zivilkleidung, die schlapp an ihm herabhing, denn er war reichlich abgemagert, einer, der oft umherlief, als ob er mit sich nichts anfangen konnte , der immer nur erzählte, was gewesen war, aber kaum darüber sprach, was nun werden sollte, was er zu tun gedachte.
Ich habe in dieser Zeit nicht viel über ihn nachgedacht, sondern seine Anwesenheit auf mich wirken lassen. Soweit ich mich zurückbesinnen kann, war Vater für mich immer nur von Ferne her gegenwärtig gewesen, sozusagen unsichtbar anwesend. War er zu Hause gewesen, blieb etwas Wahrnehmbares von ihm zurück, so etwas wie Witterung oder Fährte, Duftmarken, irgendwelche zurückgelassenen Zeitungen, dänische Lebensmittel, Mutters veränderte Stimmung. Es war, als hätte er das ganze Haus in seinem Sinne ausgerichtet, es wieder mit Vatereigenschaften ausgestattet, die halten sollten, bis er wiederkommen würde.
Aber sein Leben spielte sich woanders ab, irgendwo im Krieg. Er nahm nicht an den Geschehnissen des Alltags teil, die ich erlebte und die ich hätte mitteilen, nachfragen, verarbeiten wollen. Die wenigen Augenblicke , in denen er für mich sinnlich faßbar war, sah ich in ihm den Besucher, den Nichtalltäglichen, den, der viele Sachen mitbrachte, die es bei uns nicht gab, der Geschichten erzählte und oft Gäste empfing.
Waren Gäste im Haus, fühlte ich mich besonders klein neben ihm, nicht viel größer als bis zu seiner Rocktasche, die er zerknautscht nach oben schob, wenn er lässig die Hand in die Hosentasche tauchte, wo er sie auch dann ließ, wenn er mit der anderen gestikulierte und deswegen seine Zigarre im Mund behielt.
Manchmal sprach er, indem er kräftig am Zigarrenstummel oder an seiner Pfeife sog, aus beiden Mundwinkeln den Rauch ausstieß und Wörter hinterhersandte, als sollten sie auf den Rauchschwaden mitschweben, um im Raum verteilt zu werden.
Das war nicht der Vater fürs tägliche Miteinander. Dessen Unerschütterlichkeit paßte gar nicht in die Rastlosigkeit und Brüchigkeit unserer Tagesläufe. Er nahm „unseren“ Krieg nicht ernst, ging erst in den Luftschutzbunker, wenn es wirklich mal ernsthaft knallte, tat einfach so, als ob das, war wir zu ertragen hatten, gar kein richtiger Krieg wäre.

   Er war mehr eine Figur, die über allem thronte und mich, selbst aus der Ferne noch, mit seiner Güte und Strenge bedachte, der geliebt und vor allem geachtet wurde, manchmal bestaunt und mit Stolz betrachtet, der nahezu alles wußte, jedenfalls viel mehr als alle anderen Väter, die ich kannte, und dessen Wille in Mutter eine Verlängerung besaß. So konnte sie ihn leicht als Erziehungsmittel gegen mich nutzen, auch wenn er weit weg war. Sie berief sich dann auf ihn oder drohte mit ihm, wenn ich allzu aufsässig wurde.
Das alles machte ihn mir größer, als er selbst vielleicht sein wollte. Ich prägte mir die Stunden mit ihm besonders ein, wich nicht von seiner Seite, wenn er es duldete, wollte miterleben, wenn er ins Gasthaus ging, von so vielen Leuten gefragt wurde und sie ihm alle gespannt zuhörten.
Wurde seinetwegen eine Jagd angesetzt, drängte ich ihn, mich mitzunehmen.
„Achte darauf, Junge, daß du immer hinter meiner Flinte stehst! Verstehst du? Hinter meiner Flinte. Wenn aus Versehen ein Schuß losgeht, das kommt manchmal vor, wirst du so nicht getroffen.“
Eine solche Jagd, auch wenn sie nur ein paar Stunden dauerte, erlebte ich als eine lange Abenteuerreise in ein fernes Land, mit wilden Tieren, gefährlichen Völkerstämmen, riskanten Flußüberquerungen und qualvollem Durchdringen von verwobenem Urwald. Ich lauschte den Warnrufen von Vögeln, dem Knacken im Unterholz, luchste durchs Blättergewirr und über Stoppelfelder nach Jagdbarem, nahm den herbstfeuchten Geruch von Moder und Morcheln als Duftmarken von Füchsen oder anderem Wild. Das Flüstern und Pirschen steigerte diese Stimmung.
Das war jetzt vorbei. Jagdwaffen waren verboten, die Gasthäuser waren kalt und leer, Vater unterschied sich nicht mehr von Zivilisten, trug rauchgraue Anzüge und verwandte viel Zeit, um auf irgendwelchen Tauschwegen an Tabak ranzukommen.
Schon nach wenigen Wochen tauchten Schwierigkeiten zwischen ihm und mir auf, wir hatten häufig Krach miteinander. Er beanspruchte einen Platz in der Familie, der leer gewesen war und in den ich hineingewachsen war oder mich hineinphantasiert hatte. Ich ertrug es nicht, von einem Mann verdrängt zu werden, der mir als bürgerlicher Mensch unbekannt war, dessen Gewohnheiten, Lebensgefühl und Verhalten sich erst in den kommenden Monaten und Jahren offenbaren würde, der Respekt als Oberhaupt der Familie beanspruchte, der glaubte, in wenigen Wochen alles das an erzieherischen Maßnahmen nachholen zu müssen, was er als Vaterpflichten ansah und wovon ihn die Kriegsjahre abgehalten hatten. Vielleicht erlebte er es auch als besonders schwierig, mir die Achtung abzugewinnen, die einem Vater selbstverständlich zufällt. So sah er es jedenfalls.
Ich rebellierte, hatte manchmal Haßgefühle, dachte sogar, hätte ihn doch der Krieg behalten, wäre er doch nie zurückgekommen. Ich schämte mich solcher Gedanken, verbarg sie zutiefst im Inneren und versuchte, gerade dann besonders freundlich zu ihm zu sein.
Als Uniformierten, der nur gelegentlich zu Hause war, konnte ich ihn dulden, war er mir willkommen, er konnte lustige Begebenheiten aus dem Krieg erzählen. Nur zu Beginn war er an einer Front gewesen, wo es ernster zuging. Später, in Dänemark, fühlte er sich als geborener Nordschleswiger aus Apenrade wie zu Hause. Er sprach ebenso gut Dänisch wie Deutsch. Seine Schilderungen waren unkriegerisch und heiter.
Am meisten litt ich darunter, daß er mich kleiner machte, als ich mich fühlte. Ich weiß nicht, wie er jemals darauf gekommen war, mich „Heinrich“ zu nennen, immer mit einem Schuß Ironie darin. Ich haßte dieses „mein Heinrich“, das er viele Jahre beibehielt, auch die Sprüche, die er daran knüpfte: Heinrich, mir graut’s vor dir, oder: Heinrich, Heinrich, denke dran, was daraus noch werden kann. Ich verstand nicht, warum mich das ärgerte, das klingt doch ganz scherzhaft gütig. Es war wohl der herablassende, klein machende Unterton in diesem: „Na, mein Heinrich, was sagte dein Lehrer heute.“ Ich hatte immer das Gefühl, mit diesem Namen verband er jemand, der ich nicht sein wollte. Die Person, als die ich mich selbst sehen wollte, der fast schon Erwachsene, es sich jedenfalls einbildete zu sein, hieß Peter. Aber den schien er nicht annehmen zu wollen, er sprach diesen Namen selten aus, eigentlich nur, wenn etwas sehr Ernstes zu besprechen war.
Ich bin – mit heutigem Verständnis gesehen – sicher, daß die Chance, ein persönliches Verhältnis zu Vater zu finden, in diesen wenigen Monaten nach seiner Rückkehr unwiderruflich vertan wurde. Ich hatte ihm gegenüber auch später immer das Gefühl, der ihm zwar Ebenbürtige oder sogar Überlegene, aber kraft seiner väterlichen Autorität Untergeordnete zu sein.

   Eines Tages geschah aber etwas, das in den mühevoll und quälend sich zwischen Vater und mir entwickelnden Weg, miteinander auszukommen, unvermutet hineinhagelte. Es muß im Mai 1946 oder etwas später gewesen sein, als eines nachmittags ein Militärwagen unten an unserer Gartenauffahrt stoppte und zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten und ein Offizier der Engländer heraussprangen, den Gartenweg heraufliefen und klingelten.
Mein Vater war aufgestanden, keineswegs beunruhigt. Wir übrigen blieben im Wohnzimmer zurück. Ich hörte einen kurzen Wortwechsel, dann erschien Vater wieder und erklärte:
„Ich bin verhaftet. Ein Grund ist mir nicht mitgeteilt worden. Ich soll mich für eine längere Abwesenheit mit dem Notdürftigsten versorgen.“
Meine Mutter wurde kreidebleich, verkrampfte sich auf ihrem Stuhl und murmelte alle paar Minuten ein karges: „Mein Gott, mein Gott“, während sie Vater folgte, ihm beim Packen zu helfen. Die Wohnzimmertür stand offen, ich lugte um die Ecke und sah die drei Engländer in der Haustür stehen.
Die wenigen Minuten zwischen Packen und Abschied ließen mir kaum Zeit, darüber nachzudenken oder zu fragen, was das zu bedeuten haben könnte. Ich erinnere mich, ziemlich ruhig geblieben zu sein, dachte an ein Versehen, das sich bald aufklären würde. Nach allem, was ich inzwischen von Vater und über ihn wußte, wie er sich während des Krieges verhalten hatte, konnte ihm eigentlich nichts Schlimmes angelastet worden sein. Mein Gefühl gab mir Gewißheit, dennoch blieben auch Zweifel, ich wußte eben bei weitem nicht alles.
Für einige Tage hielt man Vater in einer Zelle des örtlichen Gefängnisses fest. Dann wurde er nach Neuengamme verlegt. Die Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers waren von den Engländern als Gefängnis für Deutsche, die wegen irgendwelcher Vorkommnisse abgeurteilt werden sollten, wieder hergerichtet worden.
Während dieser Zeit stellte sich ziemlich rasch die alte Familienordnung wieder ein. Noch einmal nahm ich Vaters Platz ein. Nach allem, was ich in den vorangegangenen Monaten mit ihm erlebt hatte, fühlte ich mich herausgefordert, ihm wieder wegzunehmen, was er sich genommen hatte, spürte ich die Erleichterung vom Druck seiner Vorherrschaft.

   Während meine Mutter und meine ältere Schwester offensichtlich litten, Angst hatten und oft davon sprachen, wie es Vater wohl ginge und wie man ihm das Gefangenenleben erleichtern konnte, empfand ich diese Zeit wie eine Befreiung. Es hieß zwar immer, er würde bald zurückkehren, aber ich wünschte mir diesen Zeitpunkt weit weg. Nur in seltenen Augenblicken, in Tagträumen hing ich dem Gedanken nach, seine Gefangenschaft könnte ihn verwandeln, könnte aus ihm einen anderen Menschen machen, einen, der mir zugänglicher war, der nicht so viel Fügsamkeit beanspruchen würde. Aber es blieben Träume.
Wäre der Ort von Vaters Gefangenschaft ein anderer als Neuengamme gewesen, ein gewöhnliches Gefängnis oder ein Militärlager, so eines wie Putlos an der Ostsee, wo er sich bis zu seiner Freilassung Ende 1945 aufgehalten hatte, wer weiß, ob nicht manches in meinem Verhältnis zu ihm anders gekommen wäre.
Im Rundfunk und in den Zeitungen wurde damals viel über die Konzentrationslager der Nazis berichtet. Ich habe das oft mit Anspannung verfolgt, vieles versetzte mir Nadelstiche, preßte mir vor Entsetzen die Brust zusammen, denn inzwischen hatte ich erfahren, daß auch Neuengamme eine dieser mörderischen Einrichtungen gewesen war.
Da saß nun mein Vater, gewiß unter völlig anderen Bedingungen, aber mit welchen Gefühlen? Eine ganz andere Seite des nationalsozialistischen Deutschlands tat sich plötzlich vor mir auf, eine, die mir bislang von den Erwachsenen vorenthalten worden war. Ich verdächtigte eine Zeitlang sogar meine Mutter, mir diese Wahrheiten verschwiegen zu haben, glaubte ihr aber schließlich, daß sie tatsächlich nichts davon gewußt hatte. Aber Vater? mußte er nicht als Soldat und Offizier etwas gewußt haben und hat sich vollständig darüber ausgeschwiegen? Ich würde ihn fragen, wenn er zurückkommt.
In der Zeit von Vaters Abwesenheit fielen die Nürnberger Prozesse und die Verkündung der Urteile gegen Nazi -Größen, deren Namen und Ämter mir überwiegend geläufig waren. Die Berichte im Radio fesselten mich oft stundenlang. Ich begann zu begreifen, ganz allmählich, wie groß das Ausmaß der Täuschungen war, denen ich als Wahrheiten geglaubt hatte. Wie hätte ich auch daran zweifeln können, daß Deutschland von seinen Gegnern gezwungen worden war anzugreifen, bevor es selbst vernichtet wurde? Wie hätte ich verstehen können, daß die von Hitler verkündete und uns von Lehrern und vom Jungvolk nur ein Vorwand, eine Verführung zu mörderischen Taten, zur Entfesselung eines weltweiten Krieges, zur Vernichtung von nicht genehmen Rassen und politisch Andersdenkenden gewesen war?
Zuerst hatte ich gedacht, die Siegermächte rächten sich, indem sie Greuelmeldungen verbreiteten, um die Besiegten zu erniedrigen. Aber das änderte sich bald. In Wochenschauen wurden Filmdokumente von Konzentrationslagern gezeigt, wie die Alliierten sie vorgefunden hatten, in Zeitungen erschienen Tag für Tag Berichte darüber, auch der Rundfunk lieferte immer neue Nachrichten.
Und Vater? Hat er von all dem keine Ahnung gehabt? Wurde auch er erst jetzt und womöglich in Neuengamme selbst über die Verbrechen Hitlers und seiner Leute aufgeklärt oder hat er es verschwiegen, um uns, Mutter, meine Schwestern und mich nicht in Schwierigkeiten zu bringen? Wenn ich darüber nachdachte, erschien mir Vater manchmal unheimlich, noch unbekannter als zuvor.
Was mochte an Gedanken in ihm stecken, wie war seine Meinung über all diese Dinge? Würde er mir gegenüber offen sein können, wenn ich ihn fragen würde ? Ich hatte Angst davor, aber dennoch wünschte ich ihn mir zurück. Ich fürchtete mich davor, von ihm wieder in die Mangel seiner väterlichen Oberhoheit genommen zu werden, aber ich staute zuviele Fragen an und suchte seine, nicht irgendwelche Antworten.

   An einem trüben Tag im Februar oder März 1947 fuhr ein Privatwagen mit dänischer Autonummer bei uns vor. Ein älterer Mann, den meine Mutter anscheinend kannte, klingelte und fragte nach Vater. Als ihm klar wurde, der würde in Neuengamme gefangen gehalten, stutzte er. Ich hörte ihn sagen:
„Das muß ein Irrtum des Secret Service sein. Wir haben die Engländer nur gebeten, ihn hier in seinem Haus vernehmen zu dürfen. Das haben sie nicht gut gemacht. Wir werden nach Neuengamme fahren.“
Der Däne ließ sich einiges von Mutter erläutern. Sie nannte den Namen des englischen Offiziers in der örtlichen Kommandantur und beschrieb den Weg nach Neuengamme. Er notierte alles, und als er sich verabschiedete, sagte er:
„Sie müssen wissen, Ihr Mann hat viele von uns davor bewahrt, von den Deutschen verhaftet zu werden, wir wissen das sehr wohl. Wir möchten nicht, daß er durch uns Schwierigkeiten erleidet, wir werden ihn rausholen, seien Sie nicht ungeduldig.“ Offenbar war der Grund der Verhaftung nichts als ein Ersuchen der dänischen Polizei gewesen, Vater als Zeugen gegen dänische Kollaborateure vernehmen zu dürfen.
Er hatte stets enge Kontakte zur dänischen Bevölkerung gepflegt, was ihm mit seinen Sprachkenntnissen natürlich nicht schwer fiel. Wahrscheinlich hat er auch manches über Leute gewußt, die mit den deutschen Besatzungstruppen zusammenarbeiteten. Finn Larsens Vater muß so einer gewesen sein, Vater hatte Mutter gegenüber einst einige Andeutungen gemacht. Mit Finn habe ich oft gespielt, wenn ich in Silkeborg war. Eines Tages hieß es, sein Vater sei erschossen worden – Vater deutete an: vom Untergrund -, Finn sei mit seiner Mutter verschwunden. Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Nur eine Woche, nachdem die Dänen bei uns aufgetaucht waren, kehrte Vater heim. Wir hatten ihn wieder, endgültig.

   Seine zweite Heimkehr verlief in vieler Hinsicht anders als die erste. Wir waren auf sein Kommen vorbereitet, empfingen ihn mit einem irgendwie zusammengestoppelten festlichen Essen, meine Schwester Inge hatte die ersten Schneeglöckchen abgerupft und vor seinem Stammplatz aufgebaut. Der kleinen, gerade erst zwei Jahre alten Birgit hatten wir irgendeinen Begrüßungsspruch eingepaukt.
Und doch wiederholten sich alsbald für mich auf beinahe qualvolle Weise dieselben Schwierigkeiten wie bei seiner ersten Heimkehr. Erneut beanspruchte er einen Platz, den ich mir seit einigen Monaten wieder angeeignet hatte, erneut begann er, sich auf seine väterlich herablassende Weise in meine Angelegenheiten einzumischen, um sie in seinem Sinne zu ordnen.
Er wollte genau wissen, mit wem ich umging, gab Anweisungen, wie dies oder jenes im Garten zu regeln sei, obwohl er davon kaum etwas verstand, erklärte mir, auf welche Fächer in der Schule ich besonders achten müßte, um einmal einen vernünftigen Beruf zu erlernen. Der vernünftigste Beruf war natürlich sein eigener.
Er war davon überzeugt, es ohne den Krieg als freier Kaufmann weit hätte bringen können.
„Es gibt Berufe, mit denen kommt man überall durch, der Kaufmann gehört dazu“, verkündete er. Er sprach davon in einer Zeit, als er gerade dabei war, ein Großhandelsunternehmen aufzuziehen. Sicher hat er mich von Anfang an als seinen Nachfolger eingesetzt.

Im Laufe weniger Monate verwandelte sich Vater oder besser das Bild, das ich mir von ihm machte, vom rauchgrün uniformierten Offizier in einen rauchgrau gekleideten Zivilisten. Aus der Offiziersmütze wurde der graue Homburger, alle Anzüge waren grau, mal heller, mal dunkler. Diese Farbe hat er auch später nie mehr gewechselt. Alsbald gewann er seine frühere massige Gestalt zurück, stieß wieder Rauchschwaden zu beiden Seiten seiner Zigarre hervor. Unübersehbar und unüberhörbar war Vater alltäglich körperlich anwesend.
Er hätte es vermutlich nicht verstanden, hätte ihm damals jemand zu erklären versucht, seine erzieherische Einmischung in mein Leben als bald Vierzehnjähriger, der bis dahin ohne ihn ausgekommen war, zerstöre alle Chancen, jemals ein persönliches Verhältnis zu mir zu entwickeln. Was er mit mir machte, begriff er als wohlwollende Anteilnahme, und das nahm ich ihm auch ab. Er war sehr besorgt um mich wie um Mutter und meine Schwestern. Er war, was diesen Punkt anbetrifft, sozusagen ein unangreifbar guter Familienvater.
Warum aber mein Verhältnis zu ihm dennoch gespannt blieb, ich ihn zeitweilig sogar ablehnte, wußte ich nicht. Es war oft schmerzhaft, daß es so war. Ich empfand ihn stets als eine mächtige Person, die hinter mir oder über mir stand, alles beäugte und zu allem, was ich tat, eine wertende und ordnende Erklärung abgab. Zugleich blieb er für mich menschlich ein Unbekannter, jemand, dessen eigenes Denken und Fühlen sich mir nicht öffnete. Er verschloß sich, statt zu erkennen zu geben, wie schwierig für ihn die Rückkehr ins zivile Leben wahrscheinlich war, was ihn vielleicht quälte und wovon er nicht loskam.
Ich habe ihn danach gefragt, wie er sich in Neuengamme gefühlt habe. Und er antwortete mir mit Geschichten aus dem Lagerleben, über Tauschgeschäfte Zigaretten gegen Speck, lange Barackenabende, an denen Karten gespielt wurde, solange die Kerzen brannten, an denen die tollsten Kriegserlebnisse ausgebreitet wurden. Aber Gefühle aus dem Nachdenken darüber, was vorher an diesem Ort des Grauens geschehen war? Nichts. Jedenfalls sprach er nicht darüber.
Ich habe ihn auch danach gefragt, ob er von all diesen Dingen etwas gewußt habe. Er wich aus, deutete an, so etwas sei gerüchteweise gelegentlich durchgedrungen, aber Genaues habe man nicht wissen können. Das wäre alles sehr geheim gehalten worden.
Ich merkte wohl, daß etwas in ihm arbeitete, er war nachdenklich, schwieg oft lange, aber er ließ es nicht raus, nicht mir gegenüber.
Wir haben uns aneinander gewöhnt, Vater und ich. Ich meinerseits lernte es hinzunehmen, wie er auf gewiß gut gemeinte, behütende Weise mich zu leiten versuchte, fand Mittel, ihn im Glauben zu lassen, meinen Lebensweg mitzugestalten. Ich folgte ihm in äußeren Dingen, wahrscheinlich viel zu weit, aber mein Denken und Fühlen verschloß ich gegen ihn. Er seinerseits lernte es hinzunehmen, nur in seltenen Augenblicken etwas über mein Innenleben zu erfahren, von dem ich nur wenig und das auch nur in verstümmelter Form preisgab.
Aber er konnte es nicht lassen, wenn er gerade Spaß daran fand, vor anderen Leuten „seinen Heinrich“ genüßlich „Graf Moltke“ zu titulieren, um meine Schweigsamkeit bloßzustellen.
Lebte er noch, könnte ich ihm dies alles und meine späteren Einsichten und Erlebnisse mitteilen, vielleicht wären wir uns noch einmal, anders, begegnet. Sein Tod 1971 ließ es nicht mehr zu, mit ihm über die Erfahrungen zu reden, die wie ein Symbol des Verschweigens zwischen uns stehen geblieben war: meine Begegnungen mit Überlebenden des Konzentrationslagers Neuengamme.

Neuengamme: ein spätes Nachspiel

   Im Herbst 1978 lernte ich Sergius’ Jaskiewicz, Jan Sarba und Leon Janik in Polen kennen. Sie waren Überlebende des Konzentrationslagers Neuengamme.
In langen Nächten, wenn die Wodka-Flasche auf dem Tisch stand, wenn das Flackern einer Kerze die Gesichter belebte, so daß man in ihnen lesen konnte, wenn die langen Pausen zwischen den stockend geformten Sätzen selbst zu einer Sprache wurden, in solchen langen Nächten erfuhr ich ein wenig über Neuengamme.

   Ich habe an meinen Vater denken müssen. Als er dort damals war, so unmittelbar nach dem Krieg, war er selbst in der Rolle eines Gefangenen und ohne die Möglichkeit, mit einem Überlebenden zu reden, oder besser: ihm zuzuhören. Damals sah er sich sicher genötigt, sein Ungewisses Schicksal zu meistern. Vielleicht war in jenen frühen Tagen der Abstand noch nicht groß genug, Rechenschaft abzulegen für eigenes Verstricktsein oder für wirkliche Unkenntnis und Ahnungslosigkeit. Aber verstrichene Zeit ist auch Zeit des Verdrängens. Und ganz ohne irgendwelche Empfindungen, Fragen oder Nachdenklichkeiten aus solch einer Umgebung heimkehren, kann man das?
Er hat sich ausgeschwiegen, bis an sein Lebensende, ganz so, wie er sich in jene kleinstädtische Welt wieder eingenistet hatte, die ihre Unschuld durch Vergessen oder Verdrängen wiederzugewinnen suchte, die die „Unselige Zeit“ hinter sich brachte wie ein Krebskranker den Operationssaal: schnell raus, nicht mehr dran denken, so tun, als ob nichts gewesen wäre. Was den Ungeist des faschistischen Deutschlands anbetrifft, so fühlte sich Vater wie viele andere als Betrogener. Aber er hat sich wenigstens nicht jenem augenzwinkernden „So schlimm war es nun auch wieder nicht“ angeschlossen, mit dem sich auch heute noch allzu viele Leute Erleichterung für ihr Gewissen verschaffen. Mit der Verharmlosung der Vergangenheit läßt sich kein Staat machen.

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1983, ROLAND-VERLAG, ISBN 3-9800669-3-2

Satz und Druck: Kommanditgesellschaft Roland-Werbung Druckerei GmbH & Co., Bad Bramstedt

Einband: Willy Schacht, Verlagsbuchbinderei, Hamburg/Ahrensburg

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Jacobsen: Lawätz – Entdeckung der Heilquellen

Im Stadtarchiv gewälzt und gefunden:
(von Stadtarchivar Manfred Jacobsen)

Über die Art der Entdeckung und die ersten Heilwirkungen der Quelle gibt Ferd. O. V. Lawätz, ein geistig reger Mann und seit 1774 Besitzer des Gutes Bramstedt, folgende, nicht bestrittene Nachrichten.

„Anno 1681 im Monat Juni ist der hiesige köstliche Gesundbrunnen entsprungen, wodurch viele herrliche Curen durch göttliche Hülfe und Segen verrichtet, und ist folgender Gestalt entdecket. Ein Knabe mit Namen Gerd Giesler hütet seines Vaters Schweine und hatte schon das Fieber bei 1 1/2 Jahren gehabt. Wie ihm nun einstens das Fieber ankommt, bittet er die anderen Knaben, sie möchten doch nach seinen Schweinen sehen, und setzet sich indessen im Grunde unter einer Eiche nieder. Und weilen mit dem Fieber ein starker Durst ihn plaget, rufet er zu Gott in seiner Einfalt, daß Er ihn doch einmal von dem Fieber aus Gnaden befreien wolle. – Er wird hierauf sogleich gewahr, daß da Wasser bei der Wurzel des Eichbaumes hervorkommt, hält seinen Hut dahin, lasset einen guten Trunk darauslaufen und trinkt davon, um seinen Durst zu löschen. Zu seiner großen Freude und Verwunderung hört der Durst wie auch das Schaudern den Augenblick auf, und er fängt an zu singen; da denn die Knaben zu ihm sagen, wenn er singen könnte, so könnte er auch seine Schweine selber in Acht nehmen, welches er mit Ja beantwortet. Gehet darauf hervor und saget niemand, was ihm widerfahren, bis nach etlichen Tagen, da er höret, daß eine Frau, deren Mann Johann Hambeck geheißen, auch das Fieber hatte. Da er dann sagte: Sie dürften nur von dem Wasser holen, welches neulich bei dem Eichbaum hinter den Mohrstätten entsprungen, alsdann würde ihr wohl geholfen, eben wie ihm. Welches sie auch getan, und es hat gleiche Cur an ihr verrichtet. Wie nun dieses bald darauf weit und breit kund geworden, sind viele Kranken und Preßhafte von andern Orten, auch aus Hamburg, häufig herzugekommen, da denn in allem über 800 Personen bei diesem Brunnen gesund geworden. Die als Krüppel und Lahme dahin gekommen, haben nachher ihre Krücken und Stäbe an den Eichenbaum gehangen und sind mit Freuden und Lob Gottes nach ihrer Heimat gegangen. Ermeldeter Eichbaum hat noch gestanden bis 1704.“

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Josenhans / Riehl: Baugeschichte der Rheumaklinik 1931 – 1985

Baugeschichte der Rheumaklinik 1931 -1985

Bei Durchforstung seiner Unterlagen fiel Jürgen Kallinich eine seiner Arbeiten aus 1985 in die Hände und gab mir einen Scan zur Veröffentlichung.

Die seinerzeitige Schrift, anläßlich des 60. Geburtstages des Verwaltungsdirektors Reinhold Rath, erschien nur in kleiner Auflage und ist allein schon deswegen wertvoll an dieser Stelle veröffentlicht zu werden.

Das Dokument ist hier zu finden. (pdf -Datei, leider 4 MB gross)

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Klöckner: Kriegsgräberstätte Bad Bramstedt

veröffentlicht in ?? (Heimatkundliches Jahrbuch ??); den Text erhielt ich in Kopie von Friedrich Wilhelm Obersteller, Bad Bramstedt.

Kriegsgräberstätte Bad Bramstedt

— eine Information des Realschulkonrektors a. D. Karl Klöckner —

Auf dem Bramstedter Friedhof befindet sich am südlichen Ende des alten Friedhofes eine Kriegsgräberstätte. Hier wurden 412 Kriegstote zur letzten Ruhe gebettet. Kinder, Frauen, Männer. – Deutsche, Russen, Polen. Schlichte Findlinge schmücken die Ruhestätten, sie weisen nur Namen und Alter aus.

Geht man den Hauptgang, von der Glückstädter Straße kommend, entlang und biegt links ab, so erreicht man die Anlage bei dem Hochkreuz. Hier ruhen in 5 Reihen 168 Soldaten des letzten Krieges, unter ihnen eine Frau (Reihe 1 = 31, Reihe 2= 34, Reihe 3 = 34, Reihe 4 = 42 und Reihe 5 = 27). Getrennt durch ein baum- und strauchbestandenes Gräberfeld liegt neben dieser ersten Anlage, die in den 50er Jahren erstand, die fünfreihige neue Kriegsgräberstätte, die die Friedhofsgärtnerei 1974 im Auftrage des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge fertigstellte. Sie gleicht der ersten in ihrer Schlichtheit, auch hier weisen Findlinge die Ruhestätte von insgesamt 244 Toten aus. Begrub man auf der ersten Anlage nur Soldaten, so hier vor allen Dingen Flücht- linge des 2. Weltkrieges (Reihe 6 = 48, Reihe 7 = 44, Reihe 8 = 52, Reihe 10 = 45). (Was ich als Chronist hier niederschreibe, weiß ich von Herrn Stüber, dem heutigen Friedhofs Verwalter.)

Wenden wir uns zunächst dem Soldatenfriedhof zu und berichten etwas über das Schicksal der hier Bestatteten.

Am Ende der. 3. Reihe, direkt neben dem Weg, liegt die Grabstätte des Soldaten Ladislaus Rad aus Rode in Rumänien, Volksdeutscher, SS-Schütze, beigesetzt als erster Soldat auf dem hiesigen Friedhof im Jahre 1944. Der Schütze verstarb im Lazarett, das während des Krieges in der Rheumaheilstätte eingerichtet worden war. Der letzte hier beigesetzte Lazarettangehörige war der Soldat Martin Rehwagen, verstorben am 29.3.1947 (Reihe 5, Stein – vorletzter Stein neben dem Hochkreuz). Am Ende des Krieges wurden 9 Soldaten durch englischen Tieffliegerangriff bei der Mergerkuhle an der Hamburger Chaussee (heute Fischteiche) getötet. Sie befanden sich auf dem Wege von Norwegen zur Ostfront, als sie hier zusammengeschossen wurden. Am 21. April 45 wurden sie in Bad Bramstedt beerdigt (u. a. Johann Spörer, Erich Bräuning, Peter Pies und Artur Bach, Seine Nr.7, 8, 9 und 10der 4. Reihe)! Über das Schicksal der einzigen Frau, die hier neben Soldaten liegt, ist folgendes zu sagen: Frau Erna Wittge (2. Reihe, Stein Nr. 13), wurde das Opfer einer hinter der alten Wassermühle (bei der heutigen Kreissparkasse) im Frühjahr 1945 niedergehenden Bombe.

Der Krieg war schon zu Ende, doch explosives Kriegsmaterial forderte weitere Opfer. Am 30. Mai 1945 erfolgte eine ungeheure Explosion auf dem Schäferberg bei den landwirtschaftlichen Gebäuden des Bauern H. Mertens. Hier stapelten Soldaten einer Sanitätsstaffel der ehem. deutschen Luftwaffe Minen und Munition. Das englische Wachpersonal spielte mit Tellerminen, 15 Soldaten wurden Opfer der dabei ausgelösten Explosion. 9 deutsche Soldaten (Reihe 2 am hinteren Ende beim Hochkreuz. Steine Nr. 25. und 26.: Karl Graf und Max Graf von Sprethi (Spreti, s.unten), 1910 – 1945, letzterer ein Bruder des deutschen Botschafters von Sprethi (Buch: Jörg Zedler, Karl Graf von Spreti, Bilder eine diplomatischen Karriere, München 2008)), der 1970 in Bolivien  (Anmerkung: richtig Guatemala) ermordet wurde, und andere liegen hier). Die getöteten 6 englischen Soldaten wurden in die Heimat überführt. Der jüngste auf dieser Anlage beigesetzte Soldat war der Matrose Gottfried Breidenbach, 1927 – 1945, somit 18 Jahre (Reihe 2, Stein Nr. 12). Es mag hier noch am Rande eine Begebenheit erwähnt werden, die Kopfschütteln hervorruft. Beigesetzt waren hier anfänglich 3 im Lazarett verstorbene Soldaten aus Elsaß-Lothringen, die in der deutschen Wehrmacht gekämpft hatten. Nach dem Kriege waren sie wieder „Franzosen“. Eine französische Suchkommission sorgte dafür, dass im Sommer 1957 die 3 Toten umbebettet wurden. Zwei von ihnen liegen nun in französischer Erde, Heinrich Joschfeld (Reihe 4, Stein Nr. 22) kam zurück. Die Vermutung liegt nahe, daß er bei der Waffen-SS diente und daher keine Aner(kennung fand.) [ergänzt, da Fehlstelle in der Kopie des Textes].

Wenden wir uns der zweiten, der neueren Anlage zu. Lücken zwischen den Findlingen fallen auf. Das erklärt sich folgendermaßen: Hier auf diesem Teil des Friedhofes wurden die vielen deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen beigesetzt, die infolge der Strapazen der Flucht krank wurden, dann im letzten Kriegsjahr und den 3 folgenden Nachkriegsjahren hier verstarben. Der Weg der Flüchtlinge ging damals meistens über das Flüchtlingslager Pöppendorf bei Lübeck (unter Aufsicht des englischen Militärs) hin zum Influx-Krankenhaus Bad Bramstedt, eingerichtet nach Schluß des Krieges in der Rheumaklinik. Seuchen (Typhus und Ruhr) und Unterernährung fanden viele Opfer. Wer diesen direkten Weg über Flüchtlingslager – Krankenhaus ging und dann verstarb, erwarb die offizielle Anerkennung als Kriegstoter mit dem Recht auf ewige Ruhestätte. Andere Leidensgefährten, die aus dem Krankenhaus entlassen wurden und privat unterkamen, später dann den Leiden der Flucht erlagen, fanden keine Anerkennung als Kriegstote mehr. Das sei mir zu bemerken erlaubt, nach diesem Konzept registriert der Volksbund nun mal. Die hier in der 2. Anlage vor jetzt ca. 30 Jahren beigesetzten Verstorbenen bleiben hier liegen, sie werden nicht umgebettet. So künden heute die Lücken davon, daß hier Tote, meistens Flüchtlinge, ihre letzte Ruhe fanden.

Die erste im Influx-Krankenhaus verstorbene und in Bad Bramstedt beigesetzte Tote war Lore Schwarz, 19 Jahre alt, aus Kuppen in Ostpreußen, am 9.4.1945 beigesetzt (Reihe 8, Stein Nr. 5).

Aus den Listen der Friedhofsgärtnerei:
Kriegstote Gertrud Jendreizig (Imdreizig), 23 Jahre, (Reihe 8, Nr. 27). (Bei der Mutter beigesetzt: Jürgen Jendreizig, Säugling, 3 Wochen alt, ohne Stein.
Terin Nikolai, 1920 -1944, russischer Kriegsgefangener, Radio-Techniker aus Moskau, Stalag 1308 Neumünster, erkrankt und gestorben im Reserve-Lazarett Bad Bramstedt (Reihe 8, Stein Nr. 10). Stefanie Blonska, 1922 -1942, 20 Jahre. Polin (Reihe 8, Stein 9). Apollina Pachla, 1926 – 1945, 19 Jahre, Polin (Reihe 8, Stein 11). Ludwik Blschetschik, 1906 -1034,37 Jahre, Pole (Reihe 8, Stein 12). Wladislaw Nowaki, 1918 -1945. 27 Jahre, Russe (Reihe 8, Stein 13). Serjey Litowschenko, 1882 – 1944, 62 Jahre, Russe (Reihe 8, Nr. 14). Anna Prokopiak, 1924 -1944, 20 Jahre, Polin, Reihe 8, Stein 15). Schamido Hamid, 1922 -1945, 23 Jahre, Russe (Reihe 8, Stein Nr. 16.). Im Influx-Krankenhaus verstarben in diesen Jahren 3 russische Kriegsgefangene, 6 Polen und Polinnen, die als Zivilarbeiter nach hier verpflichtet worden waren.

Über ein Einzelschicksal noch folgende Angaben:
In der Reihe 7, Stein Nr. 22 liegt Johann Seiler begraben. Er stammt aus Pommern. Er war um den 1. Mai 45 herum, als er in seinem Heimatdorf den Friseur aufsuchte, um sich die Haare schneiden zu lassen. Er kehrte nicht nach Hause zurück. Wahrscheinlich fiel er den Russen in die Hände, die ihn nach Osten abtransportierten. Die Familienangehörigen, die Ende der 50er Jahre in ein Dorf in der Nähe Kölns als Vertriebene umsiedelten, meldeten ihn als vermißt. Sie wußten nicht, daß der Familienangehörige Johann Seiler als Kranker im Influx-Krankenhaus zu Bad Bramstedt aufgetaucht war und dort 1946 verstarb. Die Familie Seiler bekam über den deutschen Suchdienst Nachricht über sein Schicksal.
Reihe 9, Stein Nr. 16: Jergi Lewicki, 1945 verstorben, polnischer Leutnant. Reihe 9. Stein Nr. 17: Adam Potowski, 1924 – 1944, Pole, 20 Jahre alt.

Am 27. Juli 1942 ging eine Luftmine, abgeworfen von einem englischen Flugzeug, in der Nähe des Hotels „Zur Post“ hoch. Ihr fielen zum Opfer: Hella Göttsche, 3 Jahre. Christa Göttsche, 2 Jahre, Christine Wrage, 75 Jahre, Postbotin, Elisabeth Schlappkohl, 30 Jahre, Friederike Luise Harms, 79 Jahre, Martha Zimmer, 40 Jahre, Irmgard Zimmer, 3 Jahre, Luise Delfs, geb. Harms. – Diese Opfer sind in den Familiengräbern beigesetzt worden. 1 Person, die nicht aus Bad Bramstedt stammte wurde auswärts beigesetzt, 9 Menschen kamen ums Leben.

(Anmerkung: Die Angabe zur Zahl der Opfer schwankt. Es werden auch 10 genannt.)

Ergänzung 2012:
Von Heinrich Graf von Spreti, München, erhielt ich Fotos zu Max Graf von Spreti und einen Auszug aus der Familienchronik ( „Geschichte  des altadeligen Hauses Spreti“, 1995) sowie ein Buch zu Karl Graf von Spreti (+1970)
Homepage: http://www.grafvonspreti.de/

.Zu Maximilian III Josef Graf von Spreti heißt es in der Familienchronik (S. 146):
“Vater: Adolf III Graf von Spreti
Mutter: Anna Gräfin von Yrsch

Maximilian, Max genannt, nannte sich später auch Maximilian Josef, wurde in Kapfing am 5. August 1910 geboren und starb in Bad Bramstedt am 31. Mai 1945.
Seine Jugend verbrachte er im elterlichen Hause, von wo aus er auch die Volksschule besuchte. Anschließend kam er 1921 in das Institut der Jesuiten nach Feldkirch, später nach München auf das Gymnasium. Nach dem Abitur ging er auf die Universitäten München und Erlangen, wo er Rechtswissenschaften und Volkswirtschaft studierte. Als Dr. jur und Dipl. Ing. rer. pol. verließ er die Universität Erlangen.
1940 wurde er zur Wehrmacht eingezogen; er war den ganzen Krieg über beim Milität und kam 1945 bei Kriegsende in englische Gefangenschaft. Dort wollten die Eingländer einigen deutschen Kreigsgefangenen den Auftrag geben, ein Munitionslager wieder in Ordnung zu bringen. Max, der der Sprecher der deutschen Kriegsgefangenen war, weigerte sich, diese Arbeit aufzunehmen aufgrund der Genfer Konvention. Als aber die Engländer anboten, ebensoviele Engländer wie Deutsche für diese Arbeit zu verwenden, stimmte Max zu.
Am 31. Mai 1945 fuhr ein englischer Jeep in das Lager hinein, fuhr über eine Panzerfaust, die in den Munitionsstapeln explodierte, an denen gerade die Engländer und die Deutschen arbeiteten. Sie alle waren auf der Stelle tot.
Max liegt in einem Massengrab in Bad Bramstedt begraben.
Dieses sinnlose Ende geht allen, die Maxi – wie er im Familien- und Freundeskreis genannt wurde – kannten, noch heute sehr schmerzlich nahe. Er war Gegner des Dritten Reiches gewesen und hatte die letzten für ihn politisch gefahrvollen Jahre des Zweiten Weltkrieges glücklich überstanden, und dennoch mußte er auf diese Weise sein junges Leben verlieren.
Maxi war unter seinen Brüdern der heiterste. Er war auf angenehme Weise ein eleganter Mann, interessierte sich für innenarchitektonische Fragen, liebte Geselligkeit und ein lustiges Leben. Kurz und gut, er war rundum ein angenehmer Mensch. Ein Großteil dieser liebenswerten Eigenschaften dürfte Erbeteil seiner Mutter gewesen sein, die auch in schwersten zeiten gescheit und gelassen das Lachen und das Lächeln nie verlernt hatte. Man wird an Max, wenn man ihn gut kannte, immer mit Sympathie und Trauer denken.”

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Schadendorf: Fleckensstatut / Localstatut von 1868

Fleckensstatut / Localstatut von 1868

Im Jahre 1868 (die preußische Zeit beginnt) wurde für den Flecken Bramstedt Fleckensstatut / Localstatut von 1868 erlassen, dessen Text hier zu lesen ist.

Das Original konnte ich antiquarisch erwerben, es liegt auch im Stadtarchiv Bad Bramstedt.

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