Bendixen: Schwierige Jahre, Erzählungen aus dem Bad Bramstedt 1939 – 1946

Peter Bendixen, aufgewachsen in Bad Bramstedt und später Professor in Hamburg und anderen Städten, schireb 1983 seine Jugenderinnerungen an das Bad Bramstedt in der “brauen Zeit” und den Kriegsjahren nieder. Ein subjektiver Bericht aus den Augen des Kindes, wie er selbst sagt. Dennoch sehr aufschlussreich und ein Stück erlebter Zeitgeschichte. Peter Bendixen gestattete mir, dieses Buch hier abzudrucken.
Dafür danke ich und hoffe, es löst manch weitere Erinnerung aus, die man mir gern mitteilen darf.

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Für Kathrin  -meine Tochter

Peter Bendixen

Schwierige Jahre
– Erzählungen –

Die Jahre, die man die unseligen nennt

   Wie man mit Obrigkeiten umzugehen hat, lernt man schon als Kind. Es sind die Erwachsenen, die es lehren, wenn sie – schlechte Schauspieler, die sie meistens sind – angesichts einer Amtsperson oder sonstwie uniformierter Würde ein paar Schritte auf Distanz gehen, bedeutend leiser sprechen und ihre Gesichter sich maskieren.
Gerade eben noch haben sie über die Stützen der Obrigkeit gespottet oder gelästert, vielleicht sogar gedroht oder verächtlich die Nase gerümpft. Schon stehen sie da und kuschen oder schmeicheln oder wissen ihre Furcht vor denen, die durchgreifen könnten, nur hinter steifer Haltung zu verbergen. Ob sie wohl glauben, daß Kinder dafür keinen Spürsinn haben, daß ein – sagen wir – Sechsjähriger nicht merkt, was sich an Vater oder Mutter oder Nachbar Schmidt plötzlich verändert, nur weil eine Uniform, eine grüne oder braune, vor ihnen steht?
Ich kann mich nicht erinnern, daß die Erwachsenen meiner Umgebung damals in den Jahren, die man später die unseligen nennen würde, bei irgendeiner Gelegenheit einmal laut und aus dem sicheren Instinkt für Unrecht einer Amtsperson, einem jener Parteihelden mit dem stählernen Blick oder einem jener, in Sachen Volk und Rasse so vorlauten Lehrer widersprochen hätte. Es muß wohl auch in einer Stadt wie Bad Bramstedt zu der Zeit lebensgefährlich gewesen sein, als Volksgenosse „aus der Rolle“ zu fallen.
Ob mehr die Angst oder überzeugte Zustimmung zu den nationalsozialistischen Ideen dahinterstand: Widerspruch oder gar Widerstand gegen offene uniformierte Willkür, feige Denunziation oder Gewalt gegen Wehrlose habe ich nicht erlebt. Was nicht sagen will, daß es das nicht gab, anderswo in der Stadt oder im Land. daß unser Nachbar sich einen Sozialdemokraten zu nennen traute, empfand meine Mutter als unvorsichtig, mein Vater als dreist und als unnötige Gefährdung der persönlichen Sicherheit.
Jene Jahre, die so schnell der Dämmerung des Vergessens verfielen, auch wenn sich die Historiker immer wieder um ihre Aufhellung bemühten, ohne allerdings ihre oft viel zu hohe Warte zu verlassen, jene Jahre also sind mir bis heute in mancher Hinsicht rätselhaft geblieben, schwer zu greifen in ihrer alltäglichen Wirklichkeit. Wie haben wir gelebt, wie haben wir die Stimmungen, die Launen und Merkwürdigkeiten, das oft unerklärliche und im Hintergrund immer mitschwingende bedrohliche Geschehen im täglichen Kleinkram erlebt? Was haben wir als Kinder davongetragen an unverarbeiteten Erfahrungen und unbeantwortet gebliebenen Fragen?
Ich schreibe nicht Geschichte, wie sie der Historiker abfassen würde, sondern erzähle Geschichten von unten her, aus dem Blickwinkel des Kindes im Alter von sechs bis zwölf oder vierzehn Jahren hinauf in die Gesichter der Erwachsenen und von dort hinauf in das, was es dahinter vermutete, die Stockwerke des braunen Machtgebäudes, dessen Erdgeschoß auch in Bad Bramstedt fußte und an dessen ferner Spitze die Vorsehung hockte, die in Gestalt des Führers Adolf Hitler das Glück des deutschen Volks schmieden ließ.
Aufmärsche der SA, die Trommeln und Fanfaren, das Horst-Wessel-Lied, Antreten auf dem Schulhof und bei zum Hitler-Gruß erhobener Hand längst vergessene Lehrerworte entgegennehmen, Geländespiele, Lagerfeuer, Heldenlieder und Umzüge durch die Stadt bei den Pimpfen, das alles sind Ereignisse, die keine Geschichte machten, jedenfalls keine große. Aber sie waren Geschichte. In ihnen wurde alltäglich, was sich in den Geschichtsbüchern von heute hinter so starken Begriffen wie Rassismus und völkisches Pathos, politische und kulturelle Unterdrückung und bedingungslose Ausrichtung der Jugend auf den Mythos „Staat“ verbirgt.

   Der Zufall wollte, daß Hitlers Machtergreifung und meine Geburt in daßelbe Jahr fielen, zwei Ereignisse von wahrlich unterschiedlicher Bedeutung. Was die ersten Jahre angeht, hat mein Gedächtnis die Gestalt eines Puzzles, dem etliche Bausteine fehlen. Es sind Lücken vorhanden und manche Erinnerungen passen nicht recht zueinander. Aber die Wirklichkeit selbst war und ist wohl auch so widersprüchlich.

   Anderes, woran ich mich deutlich erinnern kann, hat die Schärfe eines Fotos aus gegenwärtigen Tagen, unvergilbt und farbig. Es sind Erlebnisse, die sich – obwohl sie dreißig oder vierzig Jahre zurückliegen – wie innere Dokumentarfilme abspulen lassen. Die Eindrücke der Zeit, die zuerst nur von Ferne her als obrigkeitlicher Hintergrund, später aber lärmend und halsbrecherisch die ersten zwölf Jahre meines Lebens bestimmten, waren stark und blieben bis heute lebendig.

In den Jahren von 1933 bis 1945 war ich Kind, Schüler und Pimpf. Das ist ein Alter drängender kindlicher Wißbegierde. Aber die Erwachsenen konnten oder mochten sie nicht befriedigen. Sie ließen viele Fragen unbeantwortet, schwiegen lieber oder fanden Ausreden, manchmal tuschelten sie oder verschlossen sich, indem sie den Zeigefinger über die zugekniffenen Lippen legten, mit den Augen zwinkerten oder sich einfach wortlos umdrehten und weggingen.
Vielleicht ist überhaupt dies die stärkste Prägung gewesen: die niemals ausgeräumten Gegensätze, die niemals überbrückte Kluft zwischen immer bohrender werdenden Fragen und dem nervösen Schweigen oder den durchschaubaren Ausflüchten. Das für Erwachsene gewiß löchernde „Wie kommt es, daß …?“ wurde in unzähligen Varianten mit einem „Es ist, wie es ist!“ gedämpft. Zurück blieb das ahnungsschwere Gefühl: irgendetwas muß doch dahinter sein.

   Die örtliche Obrigkeit in Gestalt eines diensteifrigen Polizisten war die früheste Begegnung mit der neuen Ordnung, und eine leibhaftige zugleich. Die Sache, in die ich meine Mutter als Sechsjähriger hineinzog, klingt harmlos, fast heiter. Damit beginne ich zu erzählen.
Auch andere Geschichten haben ihre komischen Seiten gehabt, bei aller Dramatik im Hintergrund. Das Tragische und Verbrecherische dahinter zu erkennen, setzt die Erkenntnisfähigkeit des Erwachsenen voraus, der ich damals nicht war. Selbst die Frage, was sich wirklich im KZ Neuengamme ereignet hat, eine Frage, zu der ich kurz nach dem Krieg einen bestimmten Anlaß hatte, kam mir in ihrer ganzen Tragweite erst später ins Bewußtsein. Diese Begebenheit führt mit ihren Nachwirkungen weit über das Jahr 1945 hinaus. Von ihr erzähle ich zuletzt.

Amtlich als nicht geschehen zu betrachten

Liethberg_19020629   Vor zwei oder drei Jahren, auf der Suche nach fehlenden Bausteinen meines Gedächtnisses, begann ich das Puzzlespiel der Rekonstruktion meiner Kindheit vor meinem Geburtshaus in Bad Bramstedt, einer mittel­holsteinischen Kleinstadt. Da stand ich eines Tages vor der Kulisse meiner frühesten Kindertage. Bis 1940 bewohnten wir den zweiten Stock des Hauses vor mir.
Ich ging nicht hinein. Mir genügte die weißgraue Fassade hinter dem gepflegten Gitter, mir bei geschlossenen Augen vorzustellen, wie es damals dahinter war.
Von der Küche her sehe ich in den Garten hinunter, fühle die Wärme des Herdes rechts neben mir, höre meine Mutter hantieren, halte mir die Ohren zu, weil sie schreit, als ihr ein Plattfisch aus der Bratpfanne springt, sehe meinen Vater herbeistürzen und laut, tief und genüßlich lachen.
Ich kann meinen Blick wandern lassen von der Küche durch den kurzen dunklen Flur ins Wohnzimmer. Im Gegenlicht schweben Rauchschwaden von Zigarren, die ich zu greifen versuche, es mißlingt, aber es riecht nach Vater. Zigarrenrauch blieb es bis an sein Lebensende, was ich immer zuerst wahrnahm, wenn Vater in der Nähe war.
Ich stöbere auf dem Fußboden in Klötzen und hölzernen Figuren, an den Wänden meines Zimmers ragen riesige bunte Stiefmütterchen auf Tapeten hoch hinauf, durch das offene Fenster dringt das Rufen der Meisen vom Garten her herein.

   Damals brach dichtes Gebüsch den Blick von der Straße her auf das Haus und den Garten. Ich konnte hineinkriechen, mich verschlucken lassen, wenn ich nicht gesehen werden wollte. Ich schlüpfte aus der Haustür, lief weit in den Garten hinein, schlug mich nach rechts oder links in die Hecke und arbeitete mich seitlich am Haus vorbei an die Straßenfront allen ungebetenen Blicken entzogen.
Wie oft habe ich mich als Kind auf diesem Weg davongespielt! Wie oft habe ich aufgeregt in dieser grünen Höhle- gehockt, den Atem anhaltend, bewegungslos, wenn meine Mutter nach mir rief, vom Balkon herab mit vorgehaltenen Händen. Dann habe ich auf ihr „Ach, dieser Junge!“ gewartet, auf ihre trappelnden Schritte treppab, darauf, wie sie den Kiesweg entlang auf die Straße knirschte. Entfernte sich ihr Rufen weit genug, schlich ich ins Haus und freute mich auf mein „Hier bin ich doch!“, wenn sie keuchend zurückkehrte.
Viel hatte sich nicht geändert in all den Jahren seitdem. Der Vorgarten erschien mir jetzt gepflegter, die Fassade belebter, nur alles viel kleiner als in meiner Erinnerung. Die heutigen Bewohner kannte ich nicht.
Die Bilder in meinem Gedächtnis aus diesen frühen Tagen sind eine Schmelze aus wirklichen Erlebnissen und lebhaften Erzählungen meiner Mutter, da verschwimmen erlebte Szenen, Figuren und Empfindungen mit den verklärenden Vorstellungen, die sich nach und nach mit jedem wiederholten Weiß-du-noch festigen. Aber täuschen wir uns nicht! Nicht die Wirklichkeit, sondern die Bilder von ihr, die wir uns machen können oder die uns manchmal aufgezwungen werden, sind es, die den Weg des Lebens bestimmen.
Meine Mutter gab sich große Mühe, so oft ich von ihr die Geschichten meiner kindlichen Helden- und Untaten abforderte, keine Einzelheiten zu übersehen oder in anderen Worten und Wendungen als gewohnt zu schildern. Ich achtete scharf darauf und monierte jeden Fehler.
Das Vergnügen an diesen Geschichten lag für mich nicht in überraschenden Wendungen, wie sie der Erwachsene liebt, der Entspannung in einer unvermuteten Pointe sucht. Ich war gierig nach dem Gefühl, ganz bestimmt derselbe zu sein, der darin auf eine immer wiederkehrende, mütterlich bestätigte Weise vorkam. Mich im Mittelpunkt eines dramatischen Geschehens wiederzuerkennen, das muß wohl mein Bedürfnis gewesen sein.
An viele Begebenheiten, ernste und heitere, kann ich mich so erinnern. Eine davon, deren Komik mir erst viel später aufging und an die ich dachte, als ich vor dem Haus stand, ließ mich schmunzeln. Damals allerdings hätte mich Lächeln oder auch nur die Andeutung einer erheiterten Miene zutiefst verletzt. Meine Mutter ahnte das wohl. Sie brachte das erzählerische Kunststück fertig, das Komische der Geschichte von mir auf andere beteiligte Personen abzulenken.
Es ging um meinen sechsten Geburtstag, der sich noch hier in diesem Haus abspielte. Wenige Monate später zogen wir innerhalb der Stadt um. Es war ein Kindergeburtstag mit kriegerischem Hintergrund.

   Am dritten September 1939 endete mein sechstes Lebensjahr und begann der Zweite Weltkrieg, etwas genauer: der Kriegseintritt Englands und Frankreichs.
Der Zufall stellt manchmal merkwürdige Daten zusammen. Natürlich war für mich mein Geburtstag wichtiger als der Kriegsausbruch. Was konnte ich schon wahrnehmen von den drohenden Veränderungen. Oder? Hatten sich vielleicht die stille Angst und Niedergeschlagenheit meiner Mutter auf mich übertragen? Der ferne Donner der Weltgeschichte grollte, für mich unhörbar, und schwappte mit einem einschneidenden Ereignis in unser Familienleben hinein, für mich unfaßbar: man holte Vater zu den Soldaten.
Gerade war er im Sommer des Jahres aus dem Sudetenfeldzug zurückgekehrt, hatte für ein paar Wochen seine gewohnte Arbeit wieder aufgenommen, da brach er erneut mit seiner Kriegsverkleidung den familiären Frieden.
Sein Abschied am Nachmittag vor meinem Geburtstag nahm mir die kindliche Freude auf. die Stunden, in denen er mit mir spielen sollte, was ich wollte. Er hatte es versprochen.
Ich muß den Vorfall über Nacht wieder vergessen haben, denn der Schrecken und die Enttäuschung setzten erst am frühen Morgen des dritten September ein. Stürmisch rannte ich ins Wohnzimmer auf den kleinen Tisch mit dem hölzernen Ring zu, auf dem sechs Kerzen brannten. Erst nach einigen Sekunden bemerkte ich, daß Vater fehlte.
Meine Mutter erkannte wohl, wie fassungslos ich war, denn ich rührte die ausgebreiteten Geschenke nicht an . Sie kam zu mir herunter, ergriff meine Hände und sprach ganz ruhig auf mich ein. Sie erinnerte mich an Vaters Uniform, an seinen kriegerischen Auftritt am Tag zuvor, als wäre das eine alltägliche Sache oder so etwas wie Theaterspielen.

   Wie hätte sie mir begreiflich machen können, daß es ja gar nicht in Vaters Belieben stand, hinzugehen oder zu Hause zu bleiben. Ich muß es wohl anders gesehen haben, muß wohl daran gedacht haben, daß er gerade erst weggewesen war, gab mich nicht zufrieden mit ihren Erklärungen.
„Aber er war doch schon im Krieg“, hielt ich ihr vor.
„Ja, aber er muß noch mal kurz wieder hin. Der Krieg ist noch nicht zu Ende. Es wird bestimmt nicht lange dauern.“
Sie konnte nicht ahnen, daß ich zwölf sein würde, bis er heimkehrte, und welche Schwierigkeiten ich haben würde, ihn dann noch als Vater anzunehmen.
„Er hätte ja noch ein bißchen warten können“, sagte ich. Nur langsam ebbte mein Aufbegehren gegen Vater willkürliches und rücksichtsloses Weggehen an meinem Geburtstag ab.

   Den Vormittag hindurch vergaß ich den Krieg, die Uniform mit Vater darin, eignete mir die neuen hölzernen Figuren an, überwand im Spielen die Stunden bis zum Mittagessen, ohne an die entstandene Lücke in der vertrauten Runde zu denken. Erst bei Tisch wurde ich angesichts des leeren Stuhls still, verweigerte das Essen und trotzte meiner Mutter. Ihre Hände zitterten, als sie mir den Kopf streichelte, ihre Stimme klang wellig, als sie auf mich einredete, braune Haarsträhnen waren ihr über die Augen gerutscht. Sie strich sie zurück und nahm ein bißchen von der Nässe in ihren Augen mit. Ich fühlte: dieser Krieg, genau an meinem Geburtstag, mußte irgendetwas Wichtiges, etwas, was die Erwachsenen aufregte, sein. Es beschäftigte mich: was ist das, ein Krieg?
Nach dem Mittagessen stahl ich mich durch die Haustür in den Garten, krabbelte die Hecke entlang und durchbrach das Gebüsch zum Bürgersteig vor dem Haus.
Nachbarn beobachteten, wie ich mit marschähnlichen Schritten und Vaters Spazierstock, schräg über die Schulter gelegt, die Straße entlangzog, wie ich es wohl von den braunen Aufmärschen her kannte. Mag sein, daß ich dabei gesungen oder gepfiffen habe.
Zuerst folgten mir einige Kinder. Doch als ich meinen Weg am Ende der Straße hinter der alten Kornmühle unbeirrt fortsetzte, blieben sie zurück. Jetzt begriffen sie, ich machte Ernst aus meiner Ankündigung, ich wolle in den Krieg ziehen, um‘ meinem Vater zuzusehen. An der Mühle blieben sie stehen, staunten und schauten meinem Verschwinden zu. Beim Umblicken von Zeit zu Zeit sah ich sie immer kleiner werden.
Ich wußte natürlich nicht, wo der Krieg zu sehen sein würde, folgte einfach der Hauptstraße nach Hamburg. Über die Stunden danach sind mir nur bildhafte Bruchstücke in Erinnerung geblieben.
Kolonnen von Fahrzeugen rumpelten an mir vorüber. Soldaten winkten, lärmten und sangen. Nach einiger Zeit fiel mir plötzlich auf, wie weit ich die letzten Häuser der Stadt schon hinter mir gelassen hatte. Ich bekam Angst.
Irgendwann zwang mich die Müdigkeit buchstäblich in die Knie. Eine Zeitlang hockte ich unter Gebüsch verborgen am Straßengraben und machte mir ein Spiel daraus, die Hände vor die Augen zu halten, den anschwellenden Geräuschen herannahender Militärfahrzeuge zu lauschen und sie durch einen schmalen Spalt zwischen den Fingern vorbeihuschen zu sehen.
Plötzlich tauchten vor meinem Visier zwei große, schwarze Stiefel auf. Ich nahm meine Hände von den Augen und sah, wie aus den Stiefeln eine Amtsperson herausragte.
„Mitkommen!“ kam es von oben herab.
Als ich aufblickte, erkannte ich hinter dem Schnurrbart, den beiden großen Nasenlöchern und der Art, wie der Helm über die buschigen Augenbrauen hinausragte, Wachtmeister Kress [Glass], die wichtigste Person der Stadt.
Er kannte mich gut, denn er wohnte uns schräg gegenüber. Dennoch fragte er mich nach Namen und Adresse und wollte präzise wissen, weshalb ich unterwegs sei. Über alles machte er Notizen. Dann knallte er mit mahnender Miene die beiden Hälften seines Notizbuches aufeinander, ergriff sein Fahrrad, setzte mich auf den Sattel und schob mit mir ab.

   Meine Mutter hatte unterdessen mein Verschwinden bemerkt, wenn auch erst nach mehr als zwei Stunden. In ihrer Angst und Verzweiflung vor dem drohenden Unheil des ausgebrochenen Krieges hatte sie sich in die Stille des Wohnzimmers zurückgezogen. Dann war ihre Schwester erschienen, deren Mann das gleiche Schicksal getroffen hatte. Die beiden verloren sich eine Zeitlang in gegenseitigem Trost, bis meine Mutter an meinen Geburtstag dachte und sich aufraffte, mich hereinzuholen.
Da sie mich nicht fand, verließ sie das Haus, um das längst durchschaute Spiel mit mir zum x-ten Mal zu wiederholen. Sie rechnete damit, ich würde heimlich ins Haus schleichen, um sie dort mit kindlichem Stolz über die gelungene Überlistung zu empfangen. Aber diesmal spielte ich nicht mit, und ihr wurde ernst zumute. Sie überlegte gerade, wohin ich mich getrieben haben könnte, da klingelte es.
Als sie öffnete, erschrak sie. Vor ihr stand aufrecht und unbewegt wie ein Denkmal Wachtmeister Kress. In seiner linken Hand umklammerte er meinen rechten Unterarm wie eine Handschelle. Die andere benötigte er, um den damals gebräuchlichen Gruß mit ausgestrecktem Arm und geöffneter Faust so exakt wie möglich auszuführen.
„Ist das Ihr Sohn?“ fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen und drohendem Unterton.
„Ja, ja, aber das wissen Sie doch.“ Sie war etwas eigenartig berührt von diesem amtlichen Auftritt unseres Nachbarn.
„Ich habe ihn an der Hamburger Straße etwa dreieinhalb Kilometer außerhalb der Ortsgrenze aufgegriffen, nachdem er von vorbeifahrenden Militärfahrzeugen gesichtet und der Polizei gemeldet worden war. Er behauptete, in den Krieg ziehen zu wollen.“
Wachtmeister Kress zitierte diese Sätze aus einem Papier, das unzweifelhaft ein polizeiliches Protokoll war. Um die Situation zu entkrampfen, ließ meine Mutter mit einem verschmitzten Lächeln die Worte fallen:
„Sozusagen der erste Kriegsgefangene dieses Feldzugs.“
Der Wachtmeister kniff die Augen zusammen und erklärte trocken, das sei eine nicht amtliche Bemerkung, die er nicht gehört haben wolle.
Dann forderte er meine Mutter auf, das Protokoll zu unterschreiben. Er habe pflichtgemäß den Vorfall amtlich machen müssen, das sei nun mal Vorschrift. Dabei wies er auf mich und erklärte:
„Er da als Minderjähriger ist zur Unterschrift nicht befugt. Das geht nicht, das müssen Sie schon machen.“
Meine Mutter weigerte sich. Schließlich war sie weder Zeugin noch Mittäterin gewesen. Kress wurde erst unsicher, dann obrigkeitlich.
„Protokolle ohne Unterschrift sind dienstlich nicht verwertbar“, erklärte er. Es folgten Andeutungen über verletzte Aufsichtspflichten, ernste Konsequenzen und über die Unvermeidlichkeit einer Anzeige.
Da blickte meine Mutter ihm langanhaltend unter den Helm, drehte ihren Kopf bedeutungsvoll in Richtung auf das Haus schräg gegenüber und sprach, ohne das Wort Nachbarschaft zu gebrauchen:
„Es ist eine sehr kluge Dienstvorschrift, einen Vorfall, über den es keine Unterschrift gibt, amtlich als nicht geschehen zu betrachten.“

  Diese listige Bemerkung entwaffnete ihn, und so fand meine eigenmächtige Beteiligung am Zweiten Weltkrieg ein rasches Ende.

Damit wollen wir nichts zu tun haben

   Das Haus, das wir 1940 bezogen, lag am Südhang eines mit alten Bäumen bestandenen Höhenzuges.
Es ist längst verschwunden, an seiner Stelle steht heute ein vielstöckiges Hochhaus, als ob die einzigartige Lage sich durch vervielfachten Mietzins ausbeuten ließe.
Die meisten der alten Bäume leben noch, indessen um das Doppelte überragt vom nüchternen Zeugen einer kalkulierenden Zeit.

   Das alte Haus war, mit den Augen eines Erwachsenen gesehen, potthäßlich, so als ob der Architekt mitten im Entwurf die Lust verlor und nur noch zu Ende brachte, was bis dahin aufs Papier geraten war.
Ein zweistöckiger, grauer Klotz mit einem flachen, geteerten Satteldach. Das untere Stockwerk besaß in der Mitte einen balkonartigen, hölzernen Vorbau, dessen Stützpfeiler weit hinunterreichten, denn an der Frontseite des in den Hang hineingeschobenen Hauses ragten die Kellerräume aus dem Boden.
Der Putz war altgrau und rissig, der Vorbau brüchig und hoch hinauf mit Wein berankt, der in manchen Jahren süße Trauben hervorbrachte. Zu beiden Seiten dieser Konstruktion starrten zwei große Fenster.
„Von weitem sieht das Haus aus wie Vater.“ Ich erinnere nicht mehr, welche Träumerei mir Pate stand, als ich siebenjährig solche Belebungsversuche an einem toten Gegenstand machte. Sicher war es nicht Bosheit, wahrscheinlich suchte ich eine Gedächtnisbrücke zu dem, der mir fehlte.
Ich war erschrocken über die heftige Reaktion meiner Mutter. Sie war stehengeblieben, starrte für einen Moment auf das in der Ferne aus einem Schopf von Baumkronen hervorlugende Haus und eilte plötzlich mit energisch trappelnden Schritten weiter, mich hinter sich herzerrend.
„Was fällt dir ein! Sowas darfst du nicht sagen!“
Der Vergleich behagte ihr nicht, aber im Tonfall ihrer Stimme konnte ich Verwunderung mithören, aus ihrer plötzlichen Eile auf Betroffenheit schließen. Sie schien zu hoffen, daß mit rascher Annäherung an die Visage des Hauses jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen von selbst verlöschen würde.
Der Vergleich war verwegen, aber war er so abwegig? Thronte nicht Vaters hochgeschorenes, glatt mit einem Mittelscheitel zurückgekämmtes, schwarzes Haar über seiner hohen Stirn wie ein geteertes Satteldach? Hatte er nicht selber einmal seine große Nase scherzhaft seinen Balkon genannt? Und seine buschigen Augenbrauen, waren sie nicht wie Weinlaub, das über die Fenster hinausrankte?
Für mich blieb es dabei: das Haus besaß irgendwie Vatereigenschaften, es blickte so von oben herab, gelassen und unverrückbar.

   Vom Hang her und überragt vom wolkigen Geflecht der Baumkronen beherrschte das Haus (oder wie ich es insgeheim wohl immer noch empfand: Vaters Gesicht) eine ausgedehnte Gartenanlage. Weit dem Lärm der Straße entrückt, hätte es beinahe gutsherrlich wirken können, hätte es nicht so klotzig und kantig, so zerknirscht und faltig dreingeblickt.
Das Wichtigste in diesen verspielten Jahren war für uns Kinder: es belebte, regte an, weckte Neugierde und bot Geborgenheit. Die unzähligen Winkel im Garten und unter den hohen Bäumen am Hang, unter Gebüschen und Sträuchern waren Zufluchtsorte und Schlupfwinkel, im Spiel wie im Ernstfall.
Sie tarnten gegen Indianer oder räuberische Suchtrupps, man konnte sie sekundenschnell aufsuchen, wenn plötzlich von irgendwoher Tiefflieger auftauchten, man konnte von dort aus die letzten Bomber beobachten, wenn sie die Stadt überflogen hatten. Oft drang aus einem dieser Verstecke nachgeahmtes Motorengeheul aus kindlichen Kehlen, zum Mißvergnügen der Erwachsenen, die verschreckt reagierten, weil es echt klang.
Verstecken blieb lange Zeit hindurch das tägliche Spiel mit den Nachbarskindern. Wir haben uns darin die Ängste vertrieben, die der bedrohliche Kriegsalltag hervorrief. Wer sich geschickt genug verbergen oder tarnen konnte, blieb nicht nur Sieger im Spiel, sondern übte sich unbewußt in einer Überlebenstechnik, die Tag für Tag zum höllischen Ernst werden konnte.
Rennen, solange gezählt wurde, ins Versteck hineinschlüpfen, wo man nicht gesehen wurde, selbst aber hinausäugen konnte, den Atem anhalten und wie tot erstarren, daß man sein Herz klopfen hören konnte, wenn ein Jäger auf das Versteck zuging. Das war gespielter Ernstfall oder der Wirklichkeit entliehenes Spiel.
Oft mußte ein Spiel abrupt abgebrochen werden wegen Alarms oder gegen Ende des Krieges auch wegen unangekündigter Angriffe von Tieffliegern, die auf alles Bewegliche schossen. Der Übergang vom Spiel zum Ernst gelang geübt. Aber alles, was wir taten, wurde zu etwas Vorläufigem, zu etwas jederzeit Aufzugebendem. Vieles wurde im Spielen begonnen und nie zuende gebracht.
Ich erinnere mich genau, wie sehr ich mich in jenen Jahren in Tagträumen aus der Wirklichkeit stehlen konnte , aber dennoch ständig zu plötzlicher Flucht, zu blitzschnellem Aufsuchen des nächsten Versteckes bereit war.

   Wie nötig es damals war, aus dem Stand heraus umzuschalten und Schutz zu suchen, brachten mir zwei Erlebnisse nahe.
Eines Morgens hatte sich unsere Nachbarin mit einer Gruppe von Menschen aus der Stadt zu Fuß auf den Weg zum nächsten Ort gemacht, weil der öffentliche Nahverkehr nicht mehr funktionierte. Sie wollten „organisieren“, wie das damals hieß. Erst zwei Tage später kehrte sie zurück, mit einem dicken Verband um einen Oberschenkel und einem Geschoß in der Hand, um es uns als Beweisstück zu zeigen. Tiefflieger hatten die Gruppe angegriffen. Sie waren noch in den Straßengraben gesprungen, aber zu spät. Es gab einen Toten und mehrere Verletzte.
Ein anderes Mal marschierte ich mit einem Trupp Pimpfe über einen langen, hohen Bahndamm, um den Weg in ein Moorgebiet abzukürzen. Wir waren zur Mithilfe beim Holzsammeln und Torfstechen eingesetzt. Plötzlich dröhnten hinter uns Flugzeugmotoren. Kaum hundert Meter über den Gleisen rasten zwei Tiefflieger heran. Mit ihren Bordkanonen beschossen sie die ganze Dammstrecke. Blitzschnell ließen wir uns zu beiden Seiten des Bahndamms niederrollen. Niemand von uns wurde getroffen. Aber auf dem Rückweg am Abend mieden wir so ungeschütztes Gelände wie Bahndämme oder freie Feldwege. Erst spät in der Nacht kam ich nach Hause, von meiner zu Tode verängstigten Mutter heftig beschimpft und beinahe versohlt.

   Tägliche Anlaufstelle und Ausgangspunkt unserer Versteckspiele war eine verwilderte Grünanlage, die sich zwischen unserem Grundstück und der Straße als ungefähr fünfzehn Meter breiter Streifen einschob. Sie galt als neutrales Territorium. Wer aus seinem Versteck unbemerkt hierher flüchten konnte, hatte sich selbst aus der Gefahr befreit, gefangen genommen zu werden. Jahre hindurch haben wir diesen Platz für uns besetzt.
Unsere Spiele ließen auf diesem Gelände tiefe Spuren zurück, Trampelsteige und ausgetretene Flächen, die die ursprüngliche Ordnung verhöhnten. Aber ohne uns hätte die Anlage für unbelebt, für aufgegeben angesehen werden müssen. Die schmalen Steige zwischen verunkrauteten Beeten waren mit Gras zugewachsen, seit Jahren hatte sich hier niemand mehr ordnend und pflegend zu schaffen gemacht.
In der Mitte erhob sich auf einem gemauerten Sockel ein tonnenschwerer Feldstein. Keine Inschrift war eingemeißelt, keine Tafel mit einem Namen und einer Jahreszahl angebracht. Nichts, einfach ein mächtiger Granit, unbehauen und von einer grünlich schimmernden Flechtenschicht überzogen.
Welchen Sinn dieser Stein hatte, wußte von uns Kindern niemand, jedenfalls sprachen wir nicht über ihn. Er war eben da, diente uns als Mal und das genügte uns. Was sollten wir danach fragen? Und von selbst sprachen die Erwachsenen nicht über Sachen, die zu wissen nicht lebensnotwendig waren oder sogar lebensgefährlich werden konnten.
Ich hörte einmal meinen Vater sagen, als er für ein paar Tage auf Urlaub war:
„daß der Alte nebenan immer so laut ausposaunt ‚ich bin Sozialdemokrat und werde es immer bleiben‘ kann ihn noch mal teuer zu stehen kommen.“
Er sah meine Mutter dabei sehr ernst an, seine Stimme klang mahnend wie die meines Lehrers, er saß, beide Arme auf die Lehnen gelegt, in seinem Sessel wie auf einem Thron. Nach einer Weile fuhr er fort:
„Es ist besser, du weißt nichts davon, laß ihn reden, das ist seine Sache. Und überhaupt, geh ihm lieber aus dem Weg, jedenfalls in der Öffentlichkeit.“
Der Alte, damit war unser Nachbar, Herr Schack, [Gustav Schatz] gemeint. Er paßte auf wie ein Luchs, daß keine Kinder in seinen Garten rannten oder seine Obstanlagen gar zu Verstecken herabwürdigten. Dann schimpfte er minutenlang hinter uns her. Aber es kam ebenso oft vor, daß er einem von uns wortlos einen Korb Erdbeeren oder eine Schüssel reifer Pflaumen über den Zaun reichte.
Da er gern über sich und die „alten Zeiten“ sprach, wartete er oft an einer kahlen Stelle der Fliederhecke, die unsere Grundstücke trennten, bis meine Mutter oder jemand anderes sich blicken ließ.
Die „alten Zeiten“: in ihnen lebte für ihn das Hamburg der Weimarer Republik weiter. Er schwärmte davon nicht nur in Worten, sondern schwelgte darin in weit ausholenden Armbewegungen und theatralischer Körperhaltung, wie wenn er eine Ansprache an eine unsichtbare Versammlung hielt. Meine Mutter ließ es über sich ergehen, wenn sie von ihm erwischt worden war, aber ich sah, sie quälte sich. Für mich waren diese Geschichten nicht spannend, ich verstand sie gar nicht und zog es deshalb vor, in Deckung zu bleiben oder wegzurobben, wenn ich seinen weißen Haarschopf mit der Schirmmütze hinter der Fliederhecke entdeckte.
Einmal gelang es ihm doch, mich ranzuwinken. Er erzählte mir, wie gern auch er als Kind achtzehn -hundertirgendwann Verstecken gespielt habe und wie sehr er sich immer freue, wenn es so lustig bei uns zuginge. Nur seinen Garten müßten wir verschonen, das würden wir doch sicher verstehen können.
„Weißt du, ich lebe von den Ernten hier, was anderes hab ich nicht. In Hamburg besaß ich einen Gemüseladen und nebenbei einen Kartoffelgroßhandel, das hat man mir alles weggenommen. Übrigens, …, da unten, wo ihr immer spielt, wißt ihr eigentlich, was das für eine Anlage ist? Na, ist ja nicht so wichtig.“
Ich hörte ihm etwas ungeduldig zu, Stimmen, die zum Spielen riefen, lockten mich.
„Tschüß, ich muß jetzt weg.“ Der alte Schack lächelte, sagte aber nichts. Was er erzählt hatte, behielt ich nicht in Einzelheiten im Gedächtnis, aber was er gemeint hatte, vergaß ich nicht. Ich mochte ihn und kam nicht damit zurecht, wie Vater über ihn geredet hatte. Und was die Anlage unten an der Straße anbetraf, so fragte ich eines Tages Mutter beiläufig während des Mittagessens.
„Was ist das eigentlich für ein Stein da?“ Sie tat ahnungslos, sagte: „Welcher Stein?“ und aß weiter.
„Der da unten an der Straße, wo wir spielen, du weißt doch!“
„Ach, der! Das weiß ich nicht. Vielleicht soll er an was erinnern, ein Denkmal oder sowas. Ich weiß es nicht, es kümmert sich niemand darum.“
Sie hatte aufgehört zu essen, hantierte mit ihrer Gabel auf dem Teller meiner Schwester herum, schien nachdenklich oder verlegen. Sie versuchte, mich abzulenken.
„Iß, sonst wird es kalt! Hast du viele Hausaufgaben heute?“
„Was für ein Denkmal?“
„Nun vergiß dein Essen nicht, es wird ja alles kalt -. Das weiß ich nicht.“
„Erst will ich wissen, was das für ein Denkmal ist.“
„Es soll die Leute an was erinnern, das sie nicht vergessen sollen.“
„Was sollen sie denn nicht vergessen?“
„Mein Gott, Junge, du stellst Fragen. Woher soll ich das wissen!“
So endeten manche Gespräche zwischen Mutter und mir. Sie wußte etwas eben nicht, und damit fertig. Oder sie wußte es, wollte es aber nicht sagen. Sie hörte ganz auf Vater. Den hätte ich fragen können, der aber war weg, blieb mit seinem Wissen für mich unerreichbar. Kam er einmal auf Urlaub, hatte ich die Fragen längst vergessen. Inzwischen war das Leben, oder besser das Gegenteil davon: der Krieg weitergegangen, eine andere Lage war entstanden, die neue Fragen aufwarf. Zurück blieb mir ein Gefühl, ein unbewußtes Ahnen von vorenthaltenen Antworten und von Wissen, an das ich nicht randurfte, das hinter verschlossenen Türen blieb.
Es spann sich etwas Geheimnisvolles um diesen Stein. Er war aus meinem Blickwinkel riesig, niemand konnte ihn bewegen. War etwas in dem Stein drinnen? Oder unter ihm in dem gemauerten Sockel? Die Leute sollten es nicht vergessen, aber was ? Ich hätte es gern untersucht.
Da Antworten ausblieben, achtete ich eine Zeitlang kaum noch auf den Stein. Der blieb, wo er war, vermooste, und beim Spielen konnten wir auch nicht viel mit ihm anfangen, außer in wilder Jagd um den Sockel zu rennen. So rückte er mehr und mehr in den Rang einer bloßen Staffage, vor der unser Spiel-Alltag sich mit unerschöpflicher Ausdauer wiederholte. Nur manchmal blickte ich den Stein oder das Denkmal, wie er nun hieß, verstohlen an, überlegte, was mit ihm sein könnte. Aber dabei blieb es – vorerst.

   Eines Tages hockte ich verträumt auf dem Sockel und wartete auf Spielgefährten. Da hielt plötzlich unser Nachbar, der alte Schack, mit seinem Fahrrad vor mir an, stieg ab und sah mit forschendem Blick auf mich nieder.
„Na? Weiß du inzwischen, wofür dieser Stein hier steht?“
„Nein.“
„Aber deine Mutter weiß es sicher.“
„Nein, auch nicht.“
Das überraschte ihn, er zögerte, dachte nach, doch dann hob er belehrend seinen Zeigefinger, als ob er ein großes Geheimnis preisgeben und mich in sein Vertrauen ziehen wollte.
„Also, paß auf, ich werde es dir jetzt erklären, behalte es gut in deinem Gedächtnis. Dieser Stein,“ dabei machte er eine Bewegung mit der Hand, als ob er ihn segnen wollte, „dieser Stein hier erinnert an Friedrich Ebert, unseren früheren Reichspräsidenten. Als er an diesem Platz aufgerichtet werden sollte, ich glaube, es war 1933 oder 34, sollte er eine eiserne Tafel mit seinem Namen erhalten. Dazu ist es nicht gekommen, weil die jetzige Regierung es nicht haben wollte. Es wird aber nicht mehr lange dauern, dann ist das Schild dran.“
Den Namen und diese eigenartige Bezeichnung hatte ich noch nie gehört, aber immerhin, da war also doch irgendetwas Wichtiges mit dem Denkmal. „Was ist das, ein Reichspräsident?“ „Das laß dir man von deiner Mutter erklären!“
Mit einem zufriedenen Lächeln schwang sich der alte Schack auf sein Fahrrad und radelte davon. Ich blieb mit dem komischen Wort „Reichspräsident“ allein zurück.
Wer ist Ebert? fragte ich mich. Warum brauchte man so ein Denkmal für den ? Warum sollen die Leute ihn nicht vergessen? Was hat der alte Schack gemeint: das Schild ist bald dran?
Mit einiger Mühe behielt ich den Namen und das Wort „Reichspräsident“ über den Nachmittag im Gedächtnis. Meine Mutter war gerade vom Einkaufen zurückgekehrt und räumte in der Küche umher. Ich stellte mich in den Türrahmen und legte ihr die Frage vor.
„Kennst du Friedrich Ebert, der mal Reichspräsident oder sowas war?“
Sie stutzte, kramte weiter, sah mich zwischendurch zweifelnd an und erst nach einer Weile sagte sie:
„Wie kommst du auf solche Sachen?“
„Herr Schack hat es gesagt.“
„Was hat er gesagt?“
„Das mit dem Reichspräsidenten und dem Ebert. Für den steht der Stein da, hat er gesagt.“
„So!“
„Ja! Nun sag schon, was ist das, Reichspräsident?“
„So hieß ganz früher der höchste Mann in Deutschland. Lange vor dem Führer hat Ebert in Deutschland regiert.“
„Und warum sollen die Leute ihn nicht vergessen?“
Meine Mutter zuckte mit den Achseln und gab keine Antwort, jedenfalls keine gesprochene. Wieder hatte ich das Gefühl, sie wußte es, wollte es aber nicht sagen. Ich ärgerte mich, fühlte mich zurückgewiesen, nicht ernst genommen, wurde trotzig und trumpfte auf.
„Außerdem kommt das Schild sowieso bald wieder dran!“
„Du hältst deinen Mund, ich will davon nichts gehört haben, mach das mit dem alten Schack aus. Geh zu dem! Laß mich jetzt zufrieden, ich hab anderes zu tun.“
Sie hatte immer anderes zu tun, wenn sie schweigen wollte. Ich gab es auf, Fragen zu stellen. Irgendwann würde ich schon dahinter kommen, wer das war, dieser Ebert.
Ich kam dahinter, wenn auch erst viel später, zu einer Zeit nach 1945, als wieder offen geredet werden konnte. Aber merkwürdigerweise blieb auch dann noch eine unsichtbare Wand mit einer für mich verschlossenen Tür zwischen dem, worüber zu Hause wirklich geredet wurde, und dem, worüber man lieber schweigen wollte. Warum? Ich wußte es nicht, es war mir nicht einmal richtig aufgegangen, daß es so war. Wie es weitergehen würde, jetzt nach dem Krieg, war eine sehr gegenwartsnahe und deshalb täglich aufgetischte Frage. Aber wie das alles gekommen war, dafür gab es ja inzwischen erste zeitungsähnliche Papiere und vor allem den Rundfunk. Dies schien zu genügen, was mußte viel darüber geredet werden, wie Vater und Mutter es erlebt hatten und nun darüber dachten.
Wer Friedrich Ebert war und welche Bewandtnis es mit dem Denkmal auf unserem Spielgelände hatte, das wir noch immer beanspruchten, das ergab sich aus einem besonderen Ereignis. Es kündigte sich im Frühjahr 1946 an.
Die Ahornbäume, die die lange Straße an unserem Haus vorbei im Sommer zu einem fast lückenlosen Regendach machten, ließen gerade ihre Blattknospen aufbrechen. Eines Morgens beobachtete ich den alten Schack mit einem Hammer am Denkmal hantieren. Ich lief hinunter in die Anlage. Laut hallte jeder Schlag gegen einen Stahlstift, mit dem er Löcher in den Stein trieb. Als er mich erblickte, unterbrach er seine Arbeit und wies auf ein poliertes Metallschild hin, ein Relief mit einem Kopf darauf.
„Das ist Friedrich Ebert, verstehst du? Ich habe es all die Jahre hindurch bei mir im Schreibtisch aufgehoben“, sagte er, „jetzt habe ich es blankgeputzt, es soll endlich dahin, wohin es gehört. Meine Güte, nach all dem Hitler-Plunder können wir wieder frei atmen und reden. Das ist doch was, oder nicht? Niemand braucht mehr Angst zu haben, daß er für ein falsches Wort in den Bunker muß oder verschleppt wird. Wir Politischen können wieder zeigen, wer oder was wir sind.“
Dann setzte er seine Arbeit fort. Ich sagte nichts, sah ihm zu und dachte, er ist froh, daß der Krieg vorbei ist. Das geht allen Leuten so, und daß er von Hitler-Plunder spricht, ist eben seine Art zu sagen, was Mutter ein Unglück für Deutschland nennt.
Sie sagte es schon wenige Tage nach der Kapitulation. Ich mußte damals lernen, daß neuerdings alle Leute so über Hitler redeten. Ein neues Wort machte die Runde. „Nazis“ wurden mit einem Mal die genannt, die dafür gewesen waren.
Unser Zahnarzt [Karl Schloika] war einer gewesen, hörte ich die Leute sagen. Er trug gern eine braune Uniform in seiner Praxis, so eine wie Körner, [Heinrich Köpke] unser Volksschullehrer. In seinem Wartezimmer hing ein großes, weißes Plakat mit einer dicken, gestochen scharfen schwarzen Schrift:
Sei stolz, daß du ein Deutscher bist.
Darunter folgten in kleineren Buchstaben noch einige Worte mehr, die ich vergessen habe. Schon gleich nach dem Krieg war das Plakat weg, er selbst trug einen weißen Kittel.
Körner dagegen, der mir noch 1944 die Oberschulreife bescheinigt hatte, wurde später von den Engländern verhaftet, ich weiß nicht, warum. Erst einige Jahre danach wurde er wieder in den Schuldienst aufgenommen. Als das Schuljahr 1944 zu Ende war, verabschiedete Körner auf dem Schulhof diejenigen, die danach zur Oberschule gehen sollten. Da stand er, in SA-Uniform, vor sich selbst stramm und brüllte „stillgestanden“. Dann folgte eine Ansprache, von der ich nur behalten habe:
„Und bildet euch ja nicht ein, ihr seid etwas Besseres. Nicht Intelligenz, sondern Kraft und Mut werden siegen.“
Sein forsches „Jungs, ihr müßt euch im Leben durchprügeln, werdet hart wie Krupp-Stahl!“ klang mir noch lange nach, weit über das Ende des Reichs hinaus. Von diesem Mann ist mir bis heute eine fast traumatische Angst vor specknackigen, hochgeschorenen, stahlig blickenden, unheimlich durch einen hindurch in Ungewisse Ferne sehenden Männern geblieben. Körner war so.
In den folgenden Tagen, nachdem endlich die Gedenktafel am Stein war, erschienen Männer und Frauen mit Spaten, Hacken und Harken auf dem Gelände des Ebert-Denkmals. Sie begannen, die Anlage von Unkraut zu reinigen, scheuerten den Stein, daß er hell glänzte, pflanzten Blumen und harkten die Steige.
An einem Sonntagmorgen war es dann soweit. Es ist möglich, daß es der erste Mai war. Von allen Seiten strömten Leute herbei. Reden wurden gehalten und Lieder gesungen. In der Nähe unserer Gartenauffahrt verteilte jemand rote Fähnchen mit den weißen Buchstaben der SPD.
Wir Kinder sammelten so viele davon ein, wie wir ergattern konnten. Jemand kam auf die Idee, unsere Fahrräder damit zu schmücken. Ich stahl meiner Mutter Nähgarn, um die dünnen Holzstangen, an denen die Fähnchen befestigt waren, an die Lenkstange zu binden.
Kaum waren wir damit fertig, ging die wilde Jagd los. Das Flattern und Knattern der Fahnen im Fahrtwind stachelte uns zu immer rascheren Rennen auf. Begeistert schrien wir uns gegenseitig zu:
„Schneller, schneller!“
So rasten wir durch die Stadt und wieder zurück, auf anderen Wegen und Straßen noch einmal, dann zum Bahnhof, am Schulhaus vorbei zum Marktplatz. Leute blieben stehen und staunten. Es gab sogar welche, die Beifall klatschten. Galt das den Fahnen oder unserem sportlichen Ehrgeiz ? Es kümmerte uns nicht.
Als wir endlich wieder am Ebert-Denkmal eintrafen, war die Versammlung längst aufgelöst. An der Auffahrt stand meine Mutter, winkte mich heran und forderte mich auf, ins Haus zu gehen. Es war Nachmittag, die anderen Kinder begannen noch irgend ein neues Spiel.
„Warum denn, es ist doch noch früh?“
„Komm jetzt,ich hab mit dir zu reden!“
„Was gibt es denn zu reden? Ich habe keine Lust. Wir fangen gerade an, noch was zu spielen.“
„Hör zu! Das kannst du nicht wissen, aber ich möchte nicht, daß du mit diesen Fahnen herumfährst. Das ist nichts für dich.“
„Warum nicht? Die anderen haben doch auch alle solche Fahnen genommen. Der Mann hat sie uns geschenkt , der alte Herr Schack war ja auch dabei, und du hast immer gesagt, er ist ein guter Nachbar.“
„Was die hier gemacht haben, ist eine politische Sache. Das sind Sozialdemokraten, damit wollen wir nichts zu tun haben, hörst du? Wir haben genug gelitten unter Hitler und dem Krieg, jetzt halten wir uns aus allem heraus.“
Ich wußte, sie würde auf weitere Fragen nicht mehr antworten. Ich hätte fragen wollen: Was sind Sozialdemokraten? Ebert war einer gewesen, das hatte ich begriffen. Aber was haben sie da am Denkmal gemacht? Warum haben sie Reden gehalten und Lieder gesungen? Ich stellte diese Fragen nicht mehr, denn die Antworten wären wie Schweigen gewesen.
Für diesen Nachmittag verlor ich die Lust zu spielen, verkroch mich in einer Höhle, fühlte mich gekränkt und aus etwas rausgehalten, was ich verstehen wollte. Da lagen die Jahre des Krieges hinter mir, in denen alle schwiegen, nur Leute wie Körner nicht, der uns stets anbrüllte und uns mit seinen nationalsozialistischen Sprüchen traktierte. Dann kam die Wende, nach der über das Geschehene nicht mehr geschwiegen werden mußte, aber alle Leute so taten, als wüßten sie nichts davon. „Wir halten uns raus,“ hatte Mutter verkündet. Was war denn anders an Sozialdemokraten wie dem alten Schack und den anderen Leuten in der Versammlung, von denen ich einige vom Anblick her oder sogar mit Namen kannte ?
Lange habe ich darüber gebrütet, wie ich meine Wut an Vater und Mutter auslassen, wie ich mich rächen könnte. Ich war bald dreizehn und noch immer begriffen sie nicht, daß die Kriegsereignisse, die Erziehung im Jungvolk und unter Körner, aber auch die seltsame Verantwortungsrolle, die ich mir selbst während Vaters Abwesenheit zugedacht hatte, manches abverlangt hatten, was eher zum Lebensernst eines Erwachsenen als zu kindlicher Unbefangenheit gehörte.
Die Ohnmacht, die ich fühlte, machte mich zornig. Ich tröstete mich mit dem Gedanken: Mutter, sie ist ängstlich und weiß nichts. Und Vater? Ein Kapitel für sich.
Der Ebert-Gedenkstein mußte von seinem Sockel an einen anderen Standort weichen, als die Stelle unseres früheren Hauses für den Wohnklotz hergerichtet wurde. Ich fand ihn wieder nahe dem Stadtzentrum, zwar erst durch Nachfragen und verborgen in einem fast zugewachsenen Winkel, aber gepflegt.

Vergiß es, denk einfach nicht dran

   Spiel und Wirklichkeit lagen oft sehr nahe beieinander. Der Alltag zwischen Haus und Bunker, zwischen selbstvergessenem Spielen und ängstlichem Zusammenrücken drängte sich unserem Treiben auf.
Es war, als hätten sich die Bilder des Krieges in unsere Köpfe geschlichen und lenkten uns, als wäre der Krieg unvollständig, setzte er seine grausame Schau nicht auch im Spielen der Kinder fort.
Ich sah, wie die Scheinwerfer über dem nächtlichen Himmel Hamburgs tasteten wie riesige Finger, wie sie sich bündelten und in ihrem Kreuzungspunkt Sternschnuppen entstanden. Leuchtende Tannenbäume schwebten minutenlang über dem Horizont, Feuerschein waberte von unten hinauf und ließ Wolken glühen.
Ich hörte das vibrierende Summen sich nähernder Bomberschwärme, spürte das sanfte Zittern, das sich auf den Boden übertrug. Ich verkrampfte mich auf meinem Stuhl, wenn nahe Bombeneinschläge von Notabwürfen den Bunker beben ließen.
Tag für Tag lauschte ich begierig den Nachrichten im Radio, um mich daran zu beruhigen, wieviele Angreifer abgeschossen wurden, welche gewaltigen Verluste dem Feind zugefügt wurden. Ich hoffte, die Tommies müßten doch nun bald genug haben. Woher nahmen sie bloß immer wieder so viele Flugzeuge?
In den Wochen nach den tagelangen Luftangriffen auf Hamburg, im Juli 1943, flogen wir fast täglich Fliegerangriffe gegen England.
Wir, das waren Harald, Hans-Dieter, Wolfgang und ich, die Stammflieger sozusagen. Oft schlössen sich andere Kinder an, und so bildeten wir ganze Geschwader, die in festen Formationen starteten, aber in lockerem Durcheinander, wenn überhaupt zusammen, heimkehrten.
Manchmal fiel uns unterwegs etwas anderes ein, verwandelten wir uns bei einer Zwischenlandung in Helgoland plötzlich in Panzer, die sich schwerfällig durch ein Rübenfeld nach Hause wälzten, robbten und schoben.
Ebensogut konnten wir im Handumdrehen als Jagdflieger hochpreschen und mehr mit Gebrüll als Motorengeheul den heimatlichen Garten als hinterhältiges Versteck mordlüsterner Feinde angreifen.
England lag immer woanders, das war das eigentlich Kreative an diesen Spielen. Wir bestimmten es gern auf einem freien Stück im Garten. Mit Sand und Steinen, mit Brettern und Reisig errichteten wir irgendwelche baulichen Anlagen, die für die Engländer kriegswichtig waren und deshalb von uns zerstört werden mußten. Die Drohungen vom Balkon herunter, wir müßten das hinterher alles wieder beseitigen, da die Sachen nicht in den Garten gehörten, hinderten uns nicht im geringsten daran, erst einmal Objekte unserer Zerstörungslust genüßlich aufzubauen.
„Die können was erleben, wenn wir sie angreifen.“
England konnte aber auch weit weg liegen, wenn wir Lust auf lange Flugstrecken hatten und uns ein bestimmter Ort in der Feldmark die Idee zu einem anderen Spiel als Fortsetzung des Luftangriffs eingegeben hatte.
Es gab kleine Tümpel, auf denen selbstgebastelte Flöße schippern konnten. Dort ereignete sich dann und wann die Skagerrak-Schlacht. Wir wußten nicht, daß wir damit um mehr als fünfundzwanzig Jahre zu spät lagen, aber jemand hatte davon gehört oder gelesen, und der Name Skagerrak klang so aufreizend kriegerisch, so fremdartig herausfordernd.
„Der Skagerrak muß versenkt werden“, war unser Schlachtruf. Wir mußten wohl eine ziemlich merkwürdige Vorstellung von diesem Kriegsziel und Schauplatz gehabt haben. Immerhin, der Skagerrak befand sich in einem Tümpel und hatte etwas mit Wasser zu tun.
Ein Luftangriff gegen England bedurfte gewisser, keineswegs geräuschloser Vorbereitungen. Von einem Besuch auf dem Militärflugplatz Jagel bei Schleswig, wo mein Vetter zum Jagdflieger ausgebildet wurde, wußte ich, daß Flugzeugmotoren sich vor dem Start warmlaufen mußten, damit sie heulend auf Touren kamen.
Der Motorenlärm, aber auch andere bedrohliche Geräusche wie Alarmsirenen, das Tuckern von Bordkanonen aus Jagdflugzeugen und das unheimliche Vibrieren herannahender Bomberpulks hatten wir lange genug geübt und beherrschten es ausreichend, um manche Erwachsene zu täuschen. Sie reagierten oft äußerst nervös und ungehalten.
Eine Zeitlang lebte in unserem Haus eine ältere Dame, die Frau Bodrich [Diedrich]. Sie war aus Hamburg evakuiert worden, nachdem ihr Haus in Trümmer gefallen war und sie erst nach Tagen aus dem verschütteten Keller befreit werden konnte. Bei der geringsten Andeutung von Motorengedröhn oder schon beim ersten Heulen von Alarmsirenen rannte sie ängstlich und verschreckt, eine Handtasche unter die Achseln geklemmt und eine graue Wolldecke hinter sich herschleppend, in den Luftschutzbunker.
Ihretwegen mußten wir unseren Startplatz für Angriffsflüge gegen England auf die andere Hausseite verlegen . Meine Mutter hatte nicht das geringste Verständnis dafür, daß unsere Kriegsspiele jedesmal Frau Bodrichs unabsichtliche „Einlage“ zur Folge hatten, denn die alte Frau ließ sich von unseren Angriffsgeräuschen und dem Startlärm täuschen. Wir erblickten darin zwar auch nicht gerade Frau Bodrichs Lust zum Mitspielen, wohl aber hielten wir es für einen Beleg für die wirklichkeitsgetreue Darstellung des Luftkrieges zwischen Deutschland und England.
Die Beladung der Bomber geschah durch Einklemmen von je zwei etwa eiergroßen Steinen in die Fäuste. Beim Starten wurden die Arme waagerecht ausgebreitet und im Laufen flogen wir davon, geordnet in Pulks, versteht sich.
Über Feindesland angekommen, ließen wir aus geeigneter Stellung die Steine fallen. Die angerichteten Zerstörungen waren verheerend, die Treffermeldungen, die wir zurückbrachten, zeugten von großer Zielgenauigkeit und Wirksamkeit. Stets gelang es, den feindlichen Jagdflugzeugen und Flaks zu entkommen.

   An einem Nachmittag in dieser Zeit hatten wir uns eine ziemlich weite Flugstrecke ausgedacht, mit Zwischenlandung in Helgoland, vorsichtshalber, denn wir wußten nicht, ob der Atem oder Sprit für einen Dauerflug reichen würde.
„Wir nehmen den Weg da oben rauf nach Fuhlendorf, wo die drei Bäume stehen,“ schlug Wolfgang vor, „da können wir die Bomben ganz gut von der Böschung fallen lassen.“
„Ja, los! Fangen wir an! Steine her!“
Die Flugstrecke benutzte ein Stück Straße nach Norden und bog dann in einen Feldweg ein. Wir hatten das Zielgebiet noch nicht einmal in Sicht, als wir an einem Gatter zwei Männer erblickten, die sich offensichtlich stritten.
Ohne besonderes Kommando brachen wir unsere Kampfhandlungen ab, ließen unsere Bomben wie bei Notabwürfen fallen. Was sie anrichteten, kümmerte uns nicht mehr.
„Komm, wir schleichen uns ran, mal sehen, was da los ist“, sagte jemand. Behutsam krochen wir durch das Weggehölz auf die dahinter liegende Koppel und schlichen in der Deckung des Gebüschs in unmittelbare Nähe der beiden Männer.
„Der eine da, guck mal, das ist doch der Kasimir, der Gefangene, der bei Bauer Kuhlmann arbeitet. Das muß er sein,“ flüsterte Wolfgang und machte eine Handbewegung, wir sollten uns möglichst niedrig am Boden halten.
„Ja, das stimmt, den kenne ich genau“, stimmte ich zu, „der andere ist Bauer Wagner [Max Sievers], den kenne ich auch. Seid mal still, mal hören, was sie sagen!“
Gefangene Polen und Russen waren in unserer Gegend nichts Ungewöhnliches. Es war uns aber strikt verboten worden, mit ihnen zu reden.
„Die sind dreckig und verlaust, hat mein Vater gesagt, außerdem können sie sowieso kein Deutsch, sie sollen arbeiten und damit basta.“ Das waren Haralds Worte, aber der machte sich nichts aus derartigen Mahnungen und Sprüchen. Sein Vater gab immer solche klaren Richtlinien aus und verlangte absoluten Gehorsam. Harald fügte sich nur, solange sein Vater anwesend war. Er sagt jaja, und tat, was er wollte.
Ich selbst kannte einige Gefangene von verschiedenen Höfen her, von denen ich gelegentlich Milch und andere Kleinigkeiten holte oder bei denen ich in den Herbstferien in der Kartoffelernte aushalf. Kartoffelferien nannte man sie deshalb auch. Da blieb es gar nicht aus, daß ich mit Polen und Russen in Berührung kam.
Die meisten von ihnen waren ängstlich oder vorsichtig, gingen mir aus dem Weg oder redeten ganz leise und mit gesenktem Kopf, damit niemand sah, daß sich ihre Lippen bewegten.
„Schon drei Jahre hier“, flüsterte mal ein Pole, „leben gut in Deutschland, will nach Heimat, bald möglich, glaube ich.“
Was er wirklich gemeint haben wird, nämlich die Befreiung Polens von deutscher Besetzung, habe ich damals sicher nicht verstanden, ich glaubte ja noch an die endgültige Niederwerfung aller Gegner Deutschlands.

   Unbemerkt konnten wir auf wenige Meter an das Gatter heranschleichen, hinter dem die beiden Männer gestikulierten und so laut sprachen, daß ich jedes Wort verstehen konnte Bauer Wagner hatte gerade eine Ledertasche verschlossen und ins Gras gelegt. Jetzt stand er da, in langschäftige Stiefel getaucht, die wegen seiner leicht gekrümmten Beine ein schwarzes V bildeten, unter die linke Achsel hatte er eine zweite Ledertasche geklemmt. Aus seinem Gesicht, das unter einem kurzkrempigen, grünen Jägerhut hervorlugte, sprach Ärger.
Kasimir hielt Bauer Wagner einen geöffneten Rucksack entgegen und zeigte erregt hinein.
„Sehen Sie doch, Herr Wagner, nix mehr, ganz bestimmt, ich nicht lügen, alles leer.“
„Du Hund, du verdammter Polacke, das müssen doch mehr als drei Flaschen gewesen sein, die anderen habt ihr selber ausgesoffen, gib’s zu, ich sag dir …“
Wagner war um einen Schritt an Kasimir herangetreten, hielt ihm die Faust unter die Nase und drohte mit grimmiger Miene, das Weiß seiner Augen stach weit hervor. Kasimir wich zurück, blickte sich nervös um, als suchte er einen Fluchtweg.
„Halt’s Maul, du schäbiger Lump, euch werde ich schon kriegen!“ schrie Wagner.
Der Bauer packte den Polen an seinen Hosenträgern und zerrte heftig an ihm herum. Dann brüllte er, indem er Kasimir hin- und herschüttelte:
„Ich weiß ganz genau, woher ihr das Zeug habt, ich kann euch reinlegen, wenn ich will. Also, Geschäft ist Geschäft, ihr schafft mir noch mindestens fünf Flaschen ran, sonst liefer ich dich und deine Leute ans Messer, verstanden? Du weißt, was das bedeutet!“
„Ja, ja, bitte, Herr Wagner, habe verstanden, und was ist mit Ihnen, Sie haben die Flaschen genommen, Sie mich nicht reinlegen.“
Wagner ließ ihn los, hob die Ledertasche wieder auf, die ihm unter der Achsel weggerutscht war, und stand für einen Moment unentschlossen vor Kasimir. Er keuchte laut, es mußte ihn mächtig angestrengt haben.
Kasimir starrte ihn an, als erwarte er noch weitere Attacken des Bauern, blickte sich immer wieder um und, als nichts weiter geschah, machte er sich an seinem auf dem Boden liegenden Rucksack zu schaffen.
Als Wagner sich ausgekeucht hatte, sprach er mit etwas ruhigerer Stimme und erhobenem Zeigefinger auf Kasimir ein.
„Also, verstanden, ihr schafft noch weitere fünf Flaschen an, ich brauche sie, sagen wir in einer Woche.“
„Das geht nicht, zu schnell, Herr Wagner.“
„Wie lange denn?“
„Zwei Wochen.“
„Na gut! Ich verlaß mich drauf. Du weißt, was dir blüht, wenn du mich hintergehst.“
Grußlos drehte sich Bauer Wagner um und ließ Kasimir stehen. Der nahm seinen Rucksack und verließ den Platz in entgegengesetzter Richtung mit fluchtartigen Schritten.
Als beide außer Sicht waren, brachen auch wir auf. England blieb an diesem Nachmittag verschont, das Geschehene und Gehörte war zu aufregend gewesen. Wir konnten uns keinen rechten Vers auf die Sache machen.
Daß Kasimir von irgendwoher Wein oder Schnaps besorgt hatte, mit anderen Leuten in Verbindung stand und Wagner dabei eine wichtige Rolle spielte, war augenscheinlich. Ob das Zeug gestohlen oder heimlich hergestellt worden war, ob die Hintermänner Deutsche oder andere Gefangene waren und ob Kasimir nur Überbringer oder selbst Mitbetreiber dieses Handels war, das wußten wir nicht. Wir malten uns zwar allerlei finstere Machenschaften aus, aber je weiter wir uns vom Ort des Geschehens entfernten, umso mehr lenkten uns andere Dinge ab.
So vergaß ich die Begebenheit in den folgenden Tagen wieder, bis eines Nachmittags, ungefähr eine Woche später, Wolfgang atemlos und aufgeregt gestikulierend angerannt kam.
„Los, kommt mal mit, da hängt einer im Baum!“
„Wo, wer hängt da im Baum?“
„Weiß nicht, dahinten, wo neulich England war bei den drei Bäumen auf dem Weg nach Fuhlendorf, mach schnell, wo sind die anderen, das muß ich sehen.“
Ich sprang auf, ließ alles fallen und liegen, womit ich gerade beschäftigt war und rannte hinter Wolfgang her, die Straße hoch und in den Feldweg hinein. Bald sah ich bei den drei Bäumen, wohin wir England verlegt hatten , Polizeibeamte und einen Leiterwagen der Feuerwehr.!n einem der dicken Äste baumelte schlaff ein bekleideter menschlicher Körper mit seitlich abgeknicktem Kopf. Der Anblick ließ mich erschauern. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Ich zögerte, weiterzugehen.
„Ich bleibe hier“, erklärte ich Wolfgang. Vor einem einzigen Toten fürchtete ich mich mehr als vor allen erlebten Schrecken des Krieges. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das ist, mit einem Strick auf einen Baum zu klettern, den Kopf durch die Schlinge zu stecken, das andere Ende an einen Ast zu binden und … grausig. Vielleicht haben das andere gemacht, ihn da aufgehängt, vielleicht hat er sich gewehrt, hat gestrampelt und geschrien. Dann haben sie ihm den Mund zugestopft.
Ich mochte nicht näher rangehen. Einige Minuten blieben wir unentschlossen stehen und staunten die Szenerie an. Feuerwehrleute hatten eine Leiter hochgeschoben und begannen, den Strick zu lösen. Dann überholten uns Leute, die sich mit tastenden Schritten der Stelle näherten. In ihren Gesichtern spiegelte sich neugieriges Erschrecken. Es mußte sich in der Stadt herumgesprochen haben, was hier geschehen war. Wolfgang hatte sich der schleichenden Bewegung angeschlossen, ich aber traute mich nicht.
Der Strom der Leute wurde alsbald von der Polizei zurückgedrängt. Die Menge kam schwerfällig wie eine dunkle Mauer auf mich zu. Einige gingen rückwärts, um auch im Rückzug nichts zu versäumen. Ich hatte Angstphantasien, glaubte, sie schleppten den Toten mit sich, würden irgendetwas mit der Leiche machen wollen.
Die Feuerwehr hatte die Leiter schon wieder eingezogen, aber ich konnte nicht erkennen, was hinter den Leuten passierte, Wie ein Beerdigungszug kamen sie feierlich und schleppend näher. Unwillkürlich machte ich ebenfalls Rückwärtsbewegungen, um von der Menge nicht eingefangen zu werden.
Dann aber löste sich Wolfgang heraus und kam auf mich zugelaufen.
„Es soll der Kasimir von Kuhlmann sein. “ Er sagte es flüsternd, als dürfe es niemand wissen, Ich spürte, wie mir die Knie schlotterten, drehte mich um und strebte weg von diesem Geschehen. Quer über die Felder zogen Wolfgang und ich nach Hause, ich glaube, wir haben geschwiegen. Ich konnte die Bilder und die Vorstellung vom hängenden Kasimir nicht loswerden.
Ob es wirklich der Kasimir war oder nicht, ob er sich selbst aufgehängt hat, wie die Leute hinterher sagten, oder ob etwas anderes dahintersteckte, habe ich nie erfahren,
Mit meiner Mutter sprach ich erst einen Tag später über das Ereignis, erzählte ihr über den belauschten Streit zwischen Bauer Wagner und Kasimir und dem schrecklichen Anblick bei den drei Bäumen. Sie zog mich an sich und streichelte mir den Kopf.
„Entsetzlich, das muß ja furchtbar ausgesehen haben.“
„Bauer Wagner war ganz wütend.“
„Wieso, war der dabei ?“
„Nein, als sie sich gestritten haben.“
„Hör mal zu, am besten, du sprichst mit niemand darüber, erzähl vor allem keinem Menschen von dem Streit, den ihr belauscht habt. Sonst müßtest du nämlich zur Polizei gehen und Aussagen machen. Vergiß es, denk einfach nicht dran.“
„Aber wenn das der Kasimir war?“
„Ob es Kasimir war oder nicht, ob er sich selbst erhängt hat oder nicht, es ist immer ganz furchtbar, wenn ein Mensch so umkommt. Aber du weißt ja nicht, ob Bauer Wagner etwas damit zu tun hat. Der Streit kann auch was anderes gewesen sein. Deshalb ist es besser, du kümmerst dich nicht darum, sonst bringst du den auch noch in Schwierigkeiten. Es ist besser, sich da rauszuhalten.“
Ich nahm es so hin, aber in meinem Kopf ging der Fall noch lange um.

Ich trage einen Geßler-Hut

   So ernst ich die kriegerischen Spiele in den Sommermonaten 1943 betrieb, so spielerisch nahm ich am Anfang die Übungen, die Kommandos und die Uniformen beim Jungvolk, dem ich im Spätherbst des Jahres beitrat.
Das war keine Frage des muß, ich empfand es nicht als Pflicht dabeizusein. Wer konnte sich schon dem Sog entziehen, der von abenteuerlichen Geländespielen ausging, von nächtlichen Lagerfeuern, Zelten und Heldenliedern? Ich hatte das in den Jahren davor oft aus der Ferne gesehen, hätte gern mitgemacht, fühlte mich zurückgesetzt, als Wolfgang, der um fast ein Jahr älter war als ich, eines Tages Uniform trug.
Und dann waren da die Auftritte von Körner, unserem Lehrer, der von rauhen Burschen, vom Feld der Ehre, Vaterlandsliebe und Treue zum Führer schwärmte und dabei ganz starre, ins Weite gerichtete Augen bekam.
„Ich erwarte, daß sich keiner von euch drückt. Ihr geht alle zum Jungvolk. Oder macht einer nicht mit? Der soll sich melden. Gibt es Ärger deswegen zu Hause? Ebenfalls melden! Na? Wie ist es? Meldet sich keiner?“
Natürlich meldete sich niemand. Mich sah er etwas länger forschend an, nicht daß er mich verdächtigte, mich drücken zu wollen. Er prüfte nur, ob ich gerade träumte oder nicht, ob ich überhaupt hingehört hatte, wovon er gesprochen hatte. Das kam vor. Dann posaunte er plötzlich, daß ich erschrak:
„Peter, steh auf!“
Ich erhob mich, wenn auch schlaksig.
„Setzen! Wollte nur sehen, ob du schläfst.“
Ich konnte mir bei Tage in Wachträumen aufregende Geschehnisse einbilden und ausmalen, ein Stichwort im Unterricht genügte oft, um das auszulösen.
Körner erzählte uns einmal von den Wikingern und ihren kühnen Seefahrten. Schon war ich in Gedanken in Haddeby bei Schleswig, wo ich mich in den Ferien oft mit Vetter Ulli rumtrieb, dessen älterer Bruder in Jagel bei den Jagdfliegern eingesetzt war.
Das alte Haithabu, die geheimnisvolle Wikinger-Siedlung, war mir vertraut genug, meine Phantasie anzustacheln. Ich sah mich in kriegerischer Verkleidung am Bug eines langen, moorig braunen Ruderbootes warschauen, lag hinter dem Festungswall auf Lauer, zur Attacke bereit, irgendeinen kriegerischen Stamm speerbewaffneter Feinde zurückzuschlagen, spannte mit Kraft den Bogen, daß der Pfeil heulend davonsauste, einen Gegner zu Boden streckend.
Körner war derweil bei Hünengräbern, hochgewachsenen, breitschultrigen, blonden Männern angelangt.
„So ungefähr müßt ihr euch die Wikinger vorstellen. Also wer kann das nacherzählen, das Wichtigste davon? Peter! … Der ist schon wieder weggetreten.“
So war es wohl.

   In meinen Tagträumen arbeitete ich auch Ereignisse nach, die mich, allzu gegenwärtig, wie sie waren, nicht losließen, die Fragen offenhielten, deren Antworten ausblieben oder wie Schweigen waren, weil ich sie als Ausflüchte entlarvt hatte.
An einem Nachmittag im Spätsommer 1944 schlenderte ich die Ahorn-Allee entlang. Die Abendsonne warf bizarre Muster auf die Straßenfläche, denen ich gedankenverloren folgte. Die Szene am Bahnhof, wo ich kurz zuvor meinen Vater verabschiedet hatte, war ein Bild, das ich im Gedächtnis behalten wollte.
Sein großes Gesicht kam auf mich herunter, redete auf mich ein, gab Verhaltensregeln von sich, die ich übertrieben fand. Die zackigen Grüße von Soldaten um uns herum, die ihm als Offizier galten, schien er zu übersehen. Vielleicht absichtlich.
Dann stieg er ein, kehrte mir seinen breiten Rücken, seinen etwas faltigen Nacken mit der kapitellartig aufsitzenden Offiziersmütze zu und stammte unter Stöhnen seinen Koffer vorweg. Ächzend bestieg er die Trittbretter, als hätte er Blei in seinen Stiefeln gehabt. Die Uniform war ihm in Dänemark zu eng geworden, zwängte ihn, ich hörte ihn keuchen. Als er sich noch einmal umdrehte, lachte er über seine Schwerfälligkeit.
Hinter staubverschleierten Abteilscheiben schimmerte Sekunden später das Graugrün seiner Uniform, ich ahnte nur, daß er es war. Als der Zug mit einem Ruck in Bewegung geriet, ließ er zum Abschied noch einmal seine flache Hand pendeln, ich erkannte unscharf seine Gesichtszüge, er wird gelächelt haben.
Er war auf dem Weg nach Berlin zu irgendeinem Reichsministerium. Er hatte mit Mutter darüber gesprochen, Goebbels erwähnt, sagte beinahe verächtlich
„Der kleine Goebbels“
und hatte sich über Pressezensur in Dänemark ausgelassen, womit er etwas zu tun gehabt hatte. Dorthin, zur Reichshauptstadt, war er befohlen worden. Es war eine Zeit heftiger Fliegerangriffe auf Berlin. Wenn er nun …, ich hatte Angst, aber ich gestand sie mir nicht zu.
Neben ihm war ich durch die Stadt geschritten, marschiert, hatte mich als sein Adjutant gefühlt, mich mit einbezogen, wenn Vorübergehende ihr durchdringendes „Heil Hitler“ anboten. Ich hörte ihn, fast flüsternd, aus dem Mundwinkel sagen:
„Ich trage einen Geßler-Hut. Verstehst du? So einen wie im Wilhelm Tell.“
Ich verstand nicht. Offiziers-Mütze auf seinem Kopf, Geßler-Hut? Wilhelm Tell, die Geschichte kannte ich wohl, in der Schule wurde von dem Freiheitshelden gesprochen, aber Geßlers Hut, so wie der da?
Erst nach einigen Schritten, als brauchte er die Zeit, seine Worte vorsichtig auszuwählen, als lag ihm daran, seine Sätze auf Schrittmaß zu bringen, sagte er:
„Nicht mich grüßen sie, mein Junge, es ist meine Uniform.“
Ich schwieg, begriff den Zusammenhang noch immer nicht. Fühlte er sich etwa als Geßler, als der, gegen den sich die Eidgenossen einst wehren mußten? Dann müßten ja die Leute, die ihn grüßten, etwas gegen ihn gehabt haben, ihn gefürchtet haben. Das verstand ich nicht.
Ich blickte den großen, schweren Mann verstohlen von der Seite an, stellte mir vor, wie er Anordnungen traf , wie Reihen von Soldaten vor ihm stramm standen, wie er lässig im Fond eines offenen Kübelwagens durch Kopenhagen oder Berlin gefahren wurde.
daß er Zweifel an sich als Offizier und Träger einer Uniform haben könnte, kam mir nicht in den Sinn. Ich kannte ihn nicht anders als in dieser Schale, war gerade sechs geworden, als er eingezogen wurde, sah ihn auf Photos oder leibhaftig immer nur in Uniform. Seitdem waren das rauchige Grün, der Zigarrengeruch, seine massige Gestalt, sein sich väterlich von oben senkendes Gesicht, seine feste Stimme, alles zusammengenommen die Bedeutung des Wortes Vater. Das war mein Bild von ihm.
Mit Bruchstücken solcher Bilder im Gedächtnis ging ich vom Bahnhof zurück. Er war unterwegs nach Berlin, wo der Führer Reden hielt. Für meine Erinnerung hielt ich die letzte Szene am Bahnhof fest, indem ich sie auf dem Heimweg in Gedanken nachspielte.
Jemand kam mir entgegen, blieb stehen, schüttelte den Kopf über meine Art, in braunem Hemd und schwarzer Hose mit Koppelschloß, dazu ein schwarzes, von braunem Lederknoten gehaltenes Halstuch, die Straße entlangzuschlaksen.
„Pimpfe gehen aufrecht wie Soldaten, wie sieht das aus“, dröhnte es an mein Ohr.
Der Ordnungsruf wirkte wie ein Nadelstich, ich hatte den „Dienst“ geschwänzt. So nannte man im Jungvolk die Ehre, dem Führer mit soldatischen Tugenden nachzueifern.
Lange bevor ich 1943 zehn wurde, hatte ich ungeduldig darauf gewartet, endlich dabei sein und die Uniform mit dem schwarzen Halstuch als Zeichen dieser Ehre öffentlich tragen zu dürfen.
Auch jetzt, obwohl ich mich auf dem Heimweg allein fühlte, mahnte mich der Fremde an diesen Ehrendienst. So nahm ich wieder Haltung an, marschierte, statt zu schlendern.
In diesem Augenblick sprang ein Trupp Pimpfe hinter einer Gartenhecke hervor und umstellte mich. Werner Lüdke, einer von denen, die es besonders ernst nahmen und deshalb mehr gefürchtet als angesehen waren, trat mit drohend versteinertem Blick, breitbeinig und die Fäuste in die Hüften gestützt dicht an mich heran. Er schrie:
„Du warst nicht im Dienst heute! Raus damit, wo warst du?“
„Bin mit meinem Vater zum Bahnhof gegangen, der mußte wieder weg, nach Berlin.“
„Ach nee, zum Bahnhof, mit deinem Vater, guck mal an, als ob der nicht allein gehen kann! Das ist doch ’ne faule Ausrede, das zieht hier bei uns nicht!“
„Stimmt aber!“
„Halt’s Maul“, und ohne den Tonfall zu verändern, an die übrigen des Trupps gerichtet:
„Los! Nehmt ihn fest und führt ihn ab!“
Sie rissen mir das schwarze Ehrentuch samt Lederknoten vom Hals, fesselten mir damit die Hände auf dem Rücken. Dann gab mir Lüdke mit dem Knie einen Tritt und mit Schieben, Stoßen und Anbrüllen trieben sie mich wie ein Stück Schlachtvieh die Ahorn-Allee wieder zurück, am Bahnhof vorbei zum Schulhaus, vor dessen Front sich regelmäßig der Dienst abspielte.
Begegneten uns unterwegs Leute, zwang Lüdke mich, laut und deutlich „Heil Hitler“ zu schreien, notfalls zwei- oder dreimal.
Vor kaum einer Stunde war ich denselben Weg mit Vater geschritten in dem Bewußtsein, der kleinere Soldat neben ihm zu sein. Jetzt wurde ich hier gehetzt und fühlte mich entehrt.
Im Stillen schwor ich mir, dem Werner Lüdke, dem feigen Hund, werde ich eins auswischen, sobald ich die Gelegenheit dazu kriege. Es wird sich aufklären, dann lassen sie mich laufen, die müssen mich laufen lassen und zwar mit Knoten und Halstuch.

   Ich spürte die Wut in mir aufsteigen und kämpfte sie nieder, denn gefesselt und gegen den ganzen Trupp hätte ich nicht viel ausrichten können.
Wir bogen in den Schulhof ein. Die übliche Szene. In einer Ecke, nahe der Turnhalle, übte der Fanfarenzug wie an jedem Dienstag und Freitag von drei bis sechs oder sieben. Die Jungs beneidete ich, bei denen hätte ich am liebsten mitgemacht, aber blasen konnte ich nicht, und Trommler hatten sie genug.
Vor dem Haupteingang exerzierten zwei Züge in marschähnlicher Aufstellung, meiner war dabei. Rolf Hansen, der Zugführer, brüllte über den Platz, sie trainierten Formationen, Schwenks und Stillstand. Im Laufschritt und mit schwerem Gepäck keuchte der Strafzug an der Grenze zum Nachbargrundstück auf und ab.
Vor den höheren Stufen der Eingangstreppe herab beherrschte mit kühler Miene und die Ferne durchdringenden Augen Wolfgang Sievert [Wolfgang Haack], der Fähnleinführer, das Geschehen. Ihm wurde ich vorgeführt, oder eigentlich unter ihm vorbeigeführt mit kurzem Zwischenaufenthalt.

   Als das Schlurfen des Trupps auf dem körnigen Grund des Schulhofs aufhörte, straffte sich Werner Lüdke, die Arme eng angelegt, reglos wie ein Denkmal, und schnarrte seine Meldung herunter.
„Fähnleinführer, wir haben ihn in der Ahorn-Allee abgefangen. Wir übergeben ihn dir zur gerechten Bestrafung wegen unerlaubten Fernbleibens vom Dienst.“
Nun erwartete ich, befragt zu werden, aber Wolfgang Sievert grinste über mich hinweg und verkündete bündig und ohne Widerrede sein Urteil:
„Zwei Wochen Strafzug.“
Ich protestierte.
„Aber ich habe doch nur …“
„Klappe halten“, kam es herunter.
So eine Sauerei, dachte ich, der gibt mir nicht mal die Chance, die Gründe zu erklären. Klar, wenn ich wirklich Mist gemacht hätte. Sühne für ein Vergehen, dagegen gibt es nichts zu sagen.
Es hatte sogar etwas Abenteuerliches, Selbstbewußtes an sich, wenn man mal ’ne Strafe für aufsässiges Verhalten bekam oder irgendein Ding drehte. Bei vielen galten Gewitztheit und Verschlagenheit gegen übertriebene Forderungen der Führer als eine Art Mutprobe.

   Ich war also durchaus bereit, irgendeine Strafe anzunehmen, wenn ich wirklich gegen Regeln verstoßen oder böswillig Pflichten verletzt hätte. Dann hätte ich es hinnehmen müssen, eine Zeitlang das Ehrentuch mit dem braunen Knoten nicht tragen zu dürfen. Aber ich war mir keiner Schuld bewußt. Vom Dienst wegzubleiben, wenn Vater oder Bruder auf Urlaub waren, galt immer als Entschuldigung.
Aber hinter dieser Sache steckte bestimmt der Wichtigtuer Werner Lüdke, überlegte ich. Der hat bemerkt, daß ich fehlte, ist zum Sievert gegangen, hat seine Gefolgschaft zusammengetrommelt und auf Fang geschickt. Zuerst haben sie vor unserem Haus gelauert, dann sahen sie mich die Ahorn-Allee entlangschlendern.
Zwei Wochen Strafzug. Ich wußte von anderen, was mir blühte.
„Besondere Übungen, um den Verstand wieder herzurichten“, so ähnlich hieß das. Und das konnte bedeuten:
nächtliche Märsche mit schwer beladenem Rucksack, fast bis zum Umfallen, Tümpel durchwaten in voller Montur, Ausrüstungen schleppen, Gräben ziehen und Brennholz für Lagerfeuer sammeln, wenn irgendwo gezeltet werden sollte, es gab auch Kniebeugen und Hitlers Lebenslauf auswendig lernen oder x-mal abschreiben.
Das war oft eine üble Schinderei, aber sie blieb, wie wir es selbst auffaßten, noch im Rahmen des Sportlich -Abenteuerlichen, ich kann jedenfalls nicht sagen, darunter übermäßig gelitten zu haben.
Das eigentlich Kränkende, wirklich Strafende, empfanden wir damals im Verbot, die Ehrenzeichen der Uniform zu tragen.
An vier Nachmittagen, immer von drei bis sechs, erfuhr ich, was Schleifen im Strafzug bedeutete: Ab, marsch, marsch, stillgestanden, hinlegen, auf, nieder, auf, nieder, auf, marsch, marsch, antreten …
Aber ich erlebte auch die freundschaftliche Nähe anderer Strafversetzter, vor allem von Heiner, den ich vorher nur flüchtig kannte und der das alles viel leichter nehmen konnte, der grinsen konnte, wenn ihn einer anbrüllte, der absichtlich ganz langsam zum Stillstand kam, wenn eigentlich ein ruckartiger Bewegungsablauf erwartet wurde, der ein loses Mundwerk besaß, für das er einmal eine Verlängerung von einer Woche erhielt, als er einem allzu forschen „Schnauze!“ seines Zugführers ein ebenso forsches „nein!“ entgegensetzte.
Wurden wir im Strafzug Feldwege entlanggehetzt, keuchten Heiner und ich nebeneinander. Hieß es, Brennholz sammeln, halfen wir uns gegenseitig, die Lasten auf die Schultern zu heben.
Dann waren da die vielen Stunden, in denen wir Wäscheklammern schnitzen mußten. Es war ganz einfach: Daumendicke Haselsträucher schneiden, in ungefähr fünfzehn Zentimeter lange Stücke zerteilen und diese von einer Längsseite her bis zur Mitte konisch einkerben.
Heiner und ich hielten uns bei dieser Arbeit im Garten hinter dem Haus auf, im dem er wohnte. Es war uns eine bestimmte Stückzahl auferlegt worden, aber wir durften uns die Arbeit aufteilen, wie wir wollten. Auf dem Hofplatz vor dem Haus hatten wir einen Vorrat von Haselsträuchern angelegt und daraus mit einem Fuchsschwanz eine größere Menge Rohlinge gesägt. Wenn wir beim Kerben waren, hatten wir Zeit zum Erzählen.
„Heiner, was hast du eigentlich zu verbüßen?“
„Ach, ich hab mich mit dem Werner Lüdke angelegt.“
„Was, du auch? Ich kann dir sagen, das ist ein blöder Hund.“
„Ja, ja, dem hab ich eine geschmiert. Du, der ist gar nicht so stark, wie er immer tut. Er versteckt sich hinter seiner Gefolgschaft und macht den lieben Diener bei Wolfgang Sievert. Wenn du ihn mal richtig vorknöpfst, dann kippt er aus den Latschen.“
„Und warum hast du ihm eine geknallt?“
„Das war eigentlich ’ne ganz komische Sache,, ich hab gegrinst, als rauskam, er kann nicht schwimmen, weißt du, neulich, als wir im Waldbad waren. Da fing er an, ich sollte den Nichtschwimmern die Bewegungen im Wasser vormachen. Ich sage: Mach du doch. Er auf mich los, will mich ins Wasser schubsen. Da hat’s dann geknallt, ’ne richtig schöne, satte Ohrfeige, das gab ein Gelächter und Gegröle, sag ich dir. Beim nächsten Dienst hat mich dieser Sack dann beim Fähnleinführer verpfiffen. Drei Wochen hab ich dafür gekriegt, zwei sind rum. So war das, und du, was singst du hier ab?“
Absingen, dachte ich, typisch Heiner, das so zu nennen. Der hatte immer solche Ausdrücke.
Im Hintergrund schepperte Heiners Mutter mit Küchengeschirr, sie summte leise vor sich hin. Absingen! Als ob man etwas Lästiges mit Singen vertreiben kann, vielleicht gar nicht so falsch.
Wir hockten auf einem Stapel alter Balken, Überresten eines brüchig gewordenen Holzschuppens, der abgerissen worden war, den Heiners Vater mit den übrig gebliebenen, brauchbaren Balken wieder aufbauen wollte, aber nicht mehr dazu kam, weil er einberufen wurde. So war alles liegen geblieben. Stellenweise hatte sich Gras und Unkraut durchgeschoben, einmal rannte plötzlich eine Ratte unter dem Stapel hervor. Der Platz eignete sich vorzüglich für unsere Arbeit, denn niemand hätte von uns verlangt, die Schnitzabfälle zu beseitigen. Die fielen kaum auf.
Heiner hörte aufmerksam zu, kerbte unverdrossen weiter, während ich meine Geschichte ausbreitete. Als ich fertig war, blickte er mich fragend von der Seite an.
„Ich weiß gar nicht, was du willst. Ob du nun den verschärften Dienst und diese Schnitzerei hier machst ohne Halstuch und Knoten oder ob du dahinten“, er machte eine Bewegung mit der Messerspitze hinter sich in Richtung auf das Schulhaus, „in der Truppe stehst, mit Halstuch und Knoten und ewig dieses ’stillgestanden, halt, die Augen geraadeeaus!‘ machst, ist doch ziemlich egal. Mach dir nichts draus!“
„Weiß nicht, ich finde, das war ’ne Sauerei, wie sie mich behandelt haben.“
„Sie haben dich für was bestraft, was sie sich ausgedacht haben, sie müssen eben zeigen, wer das Sagen hat. Oder Lüdke wollte dir eins auswischen, weil er dich nicht ausstehen kann, was weiß ich.
Was dich am meisten ärgert: Sie haben dir Tuch und Knoten abgenommen, du hast jetzt nur noch ’ne halbe Uniform. So ist das doch, oder? Sie haben nämlich eigentlich nicht dich bestraft, sondern deine Uniform. Laß sie doch, was macht das schon?“
„Verstehe ich nicht.“
„Mann, bist du begriffsstutzig! Wenn sie dir nun Knoten und Halstuch gelassen hätten und nur das mit dir gemacht hätten, was wir jetzt tun müssen, und das Holzsammeln neulich, was dann ? Was hättsde dann gesagt? Kein Unterschied zum Dienst. Holzsammeln mußten die anderen auch schon, ohne daß sie gegen irgendetwas verstoßen hätten, wofür sie bestraft werden mußten, und zum Wäscheklammern haben sie auch aufgerufen: ‚Freiwillige vor, jeder bringt fuffzig Stück‘, weißde noch? Siehsde!“
„Vielleicht hast du recht, Heiner.“
„Glaub mir, das ist so.“

Mir fiel mein Vater ein, sein Spruch mit dem Geßler-Hut, mir begann zu dämmern, was er gemeint haben könnte. Fühlte er sich vielleicht nicht angesprochen, wenn ihn die Leute so zackig grüßten oder ein stahliges „Heil Hitler“ boten? Ich hätte ihn in diesem Augenblick gern gefragt, hätte gern gewußt, wie er darüber denkt, warum er nicht sagt, was in ihm vorgeht, oder nur so kümmerliche, immer in der Schwebe bleibende Andeutungen macht.
Aber er war weit weg und hat mir ungewollt vielleicht erspart, seine Antworten als Ausflüchte erfahren zu müssen, miterleben zu müssen, wie er sich schon im Ansetzen meiner Frage abschloß:
„Solche Fragen kann man nicht beantworten, darüber habe ich noch nicht nachgedacht, was willst du mit dieser Frage sagen.“ So oder ähnlich machte er die Tür zu seinem Inneren zu.

Mit Heiner freundete ich mich an, er schloß sich oft den weit in die Feldmark führenden abenteuerlichen Spielen von unserem Garten aus an, kam manchmal direkt von der Schule zu uns und aß mit uns zu Mittag.
Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Nach dem Krieg zog er mit seiner Familie weg, sein Vater kehrte schon kurz nach Kriegsende zurück und bekam in irgendeiner größeren Stadt, vielleicht Berlin, eine Anstellung. Aber ich habe nicht vergessen, wie wir einen Tages Werner Lüdke stellten und ihm, wie Heiner immer sagte, eine „Briefmarke“ verpaßten.

Das sind Leute wie wir

   Das vibrierende Dröhnen der Motoren kam näher und näher. Zuerst war es ein fernes Summen aus westlicher Richtung, dann ein bohrendes, drohendes Brummen in breiter Front vor mir, nun füllte es schon den Luftraum über mir allseitig aus und preßte sich in meine Ohren.
Noch hielten sich Neugierde und Angst, Standhaftigkeit und Schauder die Waage. In kurzer Fluchtdistanz zum Luftschutzbunker, einem grob ausgebauten Erdloch, blickte ich beklommen in den wolkenlosen Himmel. Da waren sie wieder: viele, kleine, silbern leuchtende Punkte, weiße Streifen hinter sich herschleppend. Zu Pulks geordnet, zogen sie nach Osten, nach Berlin, Dresden oder, wer wußte das, mit einem unerwarteten Schwenk nach Hamburg.
„Komm sofort in den Bunker, auf der Stelle!“ befahl meine Mutter aus dem finsteren Hintergrund des Bunkers.
„Ja, gleich.“
„Nein, sofort! Es ist viel zu gefährlich, Junge, sich da draußen sehen zu lassen. Da kann jeden Moment etwas runterkommen.“
„Ich komme ja schon.“
Hastig schlüpfte ich durch die eiserne Tür, schloß sie hinter mir fest zu. Es war stockfinster und roch nach feuchtem Sand und frischem Holz, aber ich fühlte mich im Schoß der Erde geborgen.
Eine Kerze flackerte auf einer Kiste. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich die Gesichter meiner Mutter und meiner zwei Jahre jüngeren Schwester Inge. Sie hielten sich mit beiden Händen die Ohren zu, als wollten sie den Krieg nicht wahrhaben oder könnten ihn so von sich fernhalten.
Ich blieb, wie ich mir einredete, tapfer und lauschte dem unheimlichen Dröhnen. Einer mußte doch aufmerksam bleiben für das, was draußen geschah. Wenn ich im Herbst zum Jungvolk wollte, mußte ich stark sein, durfte nicht meine Rolle als Beschützer der Familie vernachlässigen.
Ich war immer der Letzte, der den Bunker aufsuchte, der mutig den anfliegenden Bombern entgegensah, auch wenn mein Herz immer schneller klopfte. Erst im letzten Augenblick schloß ich die Bunkertür sorgfältig wie einen Tresor und ließ mich in ihrer Nähe nieder wie eine aufmerksame Wache. Von dort her interpretierte ich das Geschehen draußen wie der Sprecher im Radio.
Ich war auch immer der erste, der Mut faßte, einen Blick durch einen Spalt der zaghaft geöffneten Tür in den Himmel zu wagen und „Entwarnung“ zu rufen, wenn ich die Lage für entspannt hielt.
Meine Mutter nahm das nie ernst, erkannte in meinem Verhalten nicht die kindlichen Ängste und deren Überspielen, auch nicht die Phantasien, Ersatz für den fehlenden Vater zu sein. Vielleicht wollte sie es auch nicht annehmen. Sie hielt mich für verspielt, verträumt und leichtsinnig, riß mich oft gewaltsam aus meiner Versonnenheit.
„Ich mein es ja nur gut mit dir, Junge, du mußt mehr auf dich achten, wenn du dauernd träumst, kann dir leicht etwas passieren.“
Manchmal, wenn wir im Bunker kauerten, verlangte sie, meine Schwester an die Hand zu nehmen und mich brav und still zu verhalten. Sie ahnte wohl nicht, daß sich meine Ängste dadurch eher noch steigerten.
„Wenn ihr nicht direkt getroffen werdet, seid ihr hier in diesem Bunker sicher“, hatte uns mein Vater bei seinem letzten Urlaub zu beruhigen versucht. Er hat sich damit auch selbst beruhigt.
Der Bunker bestand aus einem in den Hang hinter unserem Haus getriebenen Erdloch, nicht besonders groß, vielleicht drei mal drei Meter in der Fläche und ungefähr zwei Meter hoch. Erwachsene konnten jedenfalls aufrecht stehen. Die Seitenwände bildeten dicke, tief in den Boden gegrabene Baumstämme, eng aneinandergereiht und durch querliegende Balken oben abgestützt, die zugleich als untere Schicht der Dachaufbauten dienten. Darüber lag eine dicke Schicht Reisig, deren Hohlräume mit Sand aufgefüllt waren. Gras und Unkräuter hatten alles überwuchert. Ein Traum von einer Höhle für Kinder, wenn nicht die harte Wirklichkeit gewesen wäre, der dieses Erdloch gewidmet war.
Was konnte uns also schon passieren, außer bei einem Volltreffer. Ich übte mich in Gelassenheit und überspielte meine Angst, indem ich mir vorstellte, wie die deutsche Flak und deutsche Jagdflieger einen Bomber nach dem anderen herunterholten.
Da kauerte ich nun, formte mir aus den Geräuschen, den einzigen Nachrichten, die von außen in den Bunker drangen, Bilder des Geschehens. In das Dröhnen mischte sich von Zeit zu Zeit das Heulen von Jagdflugzeugen und das Rattern von Bordkanonen. Ich hatte einmal beobachtet, wie drei Maschinen ständig im Kreis flogen, während Angreifer sie umschwärmten wie Mücken eine Lampe.
Auch jetzt schossen sie wieder. Aus weiter Ferne drangen Erschütterungen von Bombeneinschlägen herein, der Boden zitterte ganz sanft, kleine Rinnsale von Sand brachen zwischen den Baumstämmen durch. Meist waren es Notabwürfe von angeschossenen Bombern. Sie waren besonders gefährlich. Ich hockte auf dem Boden des Bunkers, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und versuchte, um meine Angst zu bekämpfen, ein harmloses Gespräch zu inszenieren.
„Wie sehen eigentlich Engländer aus?“
„Wie sollen die schon aussehen?“
Mutters Gegenfrage bedeutete, ich sollte still bleiben. Im Kerzenschein sah ich sie reglos wie eine Statue auf ihrer Bank sitzen, den Kopf in beide Hände gestützt, die Ellbogen auf die Beine gestemmt.

Sie schien mit den Gedanken ganz woanders oder tief in sich selbst drinnen zu sein.
„Wie sollen die schon aussehen ?“ Damit antwortete sie nicht, sondern sie stellte meine Frage infrage. Sie mochte nie reden, wenn sie Angst hatte. Dann waren ihre Sätze kurz, fast tonlos gesprochen und brachen hart ab, so daß man wußte, nichts kam mehr hinterher, nicht einmal, wie sonst, ein „verstehst du?“ oder „mein Junge“ oder „mein Kleiner“, obwohl ich das nun gar nicht mochte. Ich gab noch nicht auf zu fragen. „Hast du schon mal einen gesehen “ „Nein, sei still, das sind Leute wie wir.“ Danach schwieg sie oder horchte, sprach vielleicht mit sich selbst, redete sich gut zu, dachte an Vater oder fühlte sich leer. Wer konnte das wissen ? Unvermutet stand sie auf, setzte sich zu meiner Schwester und zog sie ganz fest an sich.

   Engländer konnte ich mir nicht recht vorstellen. Irgendwie war dieses Wort vor Jahren im Gerede meiner Umgebung aufgetaucht, bei Vater und Mutter, im Radio, auf der Straße. Ganz zu Anfang des Krieges konnte ich mit dem Wort „England“ oder „Engländer“ nicht viel anfangen. Ich erinnere, daß mir die klangliche Nähe zum Wort „Engel“ eine Zeitlang zu schaffen machte, hatte undeutliche Vorstellungen vom „Land der Engel“.
daß von dorther Feinde kamen, war seltsam. Aber der dichter werdende Gebrauch des Wortes in erlebbarer Verbindung zu wirklichen Ereignissen wie Alarmsirenen („die Engländer kommen“) oder Bombenabwürfen („wir werden’s ihnen heimzahlen, diesen Engländern“), den Siegesmeldungen über die Engländer und Überschriften auf Landser-Heften („Englands erste Schlappe“) ließen meine Phantasien bald in eine bestimmte Richtung sprießen.
So verband ich schließlich mit Engländern irgendwie finstere Gestalten, solche, wie sie als Räuber und Bösewichte in Kinderbüchern vorkamen, Hunnen vielleicht wie in der Nibelungensage, gefährliche Angreifer, die Bomben, Silberstreifen und bedrucktes Papier abwarfen, das wir nicht anfassen sollten, deren Lügengeschichten im Radio nicht abgehört werden durften, wie auf einem Papierstreifen an unserem Gerät zu lesen war, die uns alle gefangen nehmen würden, wenn sie Deutschland eroberten und die der Führer mit aller Macht zurücktreiben würde. Das ist doch ganz klar, dachte ich mir in meinem neunjährigen Kopf. Das sind keine Leute wie wir, bestimmt nicht. Was weiß denn Mutter schon davon. Ich fühlte mich ihr überlegen.

   „Sie sind weg“, befand ich, als der Motorenlärm abebbte. Ich öffnete behutsam die Bunkertür. Durch den schmalen Spalt sprang helles Sonnenlicht und ein übler Brandgeruch drang ein. Noch war ein fernes Brummen zu hören, aber ich traute mich schon hinaus, wollte in den Garten schleichen, aus ganz bestimmten Gründen. Es war die Zeit der Erdbeerreife, Juni 1943.
Gerade hatte ich ein paar Schritte am Haus vorbei in den Garten getan, als plötzlich ein durchdringender, von knallenden Geräuschen hart unterbrochener Motorenlärm rasch näher kam. Ich blickte erschrocken auf und sah ein qualmendes, wackelndes Flugzeug herunterkommen, nur wenige hundert Meter an unserem Haus vorbei. Es schwebte mehr, als daß es flog.
Der stürzt ab oder macht ’ne Notlandung, dachte ich und rannte den Hang hinterm Haus hinauf, weiter in die Feldmark hinein. Nichts zu sehen. Oder doch? Dahinten, ein abgebrochener Ast baumelte an einer großen Eiche. Das Flugzeug mußte sie gerammt haben, dort mußte es runtergekommen sein.
Ich lief, was die Lunge hergab, ließ das entsetzte Schreien meiner Mutter hinter mir. Sie rief, drohte, befahl, aber die Neugierde war zu mächtig.
In wenigen Minuten kam ich der Stelle näher. Noch immer war nichts zu erkennen, kein Rauch, keine Flugzeugteile, nicht einmal irgendwelche Geräusche. Da kam plötzlich ein Mann in einer merkwürdigen Uniform über ein Gatter gesprungen und mir entgegengerannt. Er blutete an den Händen und im Gesicht.
„Go back“, schrie er und machte mit beiden Händen heftige Bewegungen, die mich zur Umkehr aufforderten. „Go back, danger!“ wiederholte er keuchend. Als er mich erreicht hatte, ergriff er meinen Arm und zerrte mich mit sich fort. So flüchtete ich mit ihm zweihundert oder dreihundert Meter unter der Deckung des Weggehölzes , ständig auf eine Explosion gefaßt, vornübergebeugt, um mich blitzschnell in den Sand zu werfen. Aber nichts geschah. Ich blieb atemlos stehen, noch immer im Griff des Fliegers. Da sah ich vor mir am Ende des Feldweges Soldaten stehen, Pistolen in der Faust.
Der Flieger ließ mich los, hob beide Arme und fiel in einen langsameren Gang zurück, während ich weiterlief. Jetzt erst kam mir ins Bewußtsein, daß ich an einen Engländer geraten war. Es war alles so schnell gegangen. Erst die Soldaten machten mir deutlich, worauf ich mich wohl doch etwas leichtsinnig eingelassen hatte.
„Wo kommst du denn her?“ herrschte mich ein Offizier an.
„Von zu Hause.“
„Hau ab, du bist wohl verrückt! Das Ding kann jeden Augenblick hochgehen, die Maschine hat noch Sprit und womöglich scharfe Munition an Bord. Na, mach schon!“
Ich verzog mich langsam heimwärts, nicht ohne immer wieder Blicke zurückzuwerfen. Der Engländer wurde in eines der Fahrzeuge geschoben. Mehr konnte ich nicht erkennen.
Zu Hause angekommen, hockte ich eine Zeitlang am Rande des Erdbeerbeetes unter einem Busch.
Dann und wann kroch ich vorsichtig hervor und langte zu. Schade, ich hätte so gern ein abgestürztes Flugzeug gesehen. Dann dachte ich an den Mann, der es geflogen hatte. Ein Engländer! Er war gar nicht zum Fürchten, kein Räuber und auch kein Hunne. Nur blutend, bestimmt froh, dem Tod gerade noch entronnen zu sein.
Als meine Mutter zornig zeternd in den Garten gelaufen kam, fühlte ich mich beim Erdbeerraub erwischt und zerdrückte vor Schreck den kleinen Vorrat in der Hand. Ihre Schelte aber galt meinem leichtsinnigen Ausflug zum notgelandeten Flugzeug.
„Mach das nicht noch mal, so einfach abzuhauen. Wenn ich dich ausdrücklich zurückrufe, dann gehorchst du gefälligst, verstanden? Was soll ich bloß mit dir machen? Du tust, was du willst. Begreifst du denn nicht, daß das nicht geht ? Wohin soll das führen, wenn du so weitermachst, was soll ich Vater sagen, wenn er fragt, wie du dich benimmst.“

   Ich ließ sie reden. Das kannte ich schon, manchmal dauerte es Minuten, bis sie fertig war. Als sie sich endlich umdrehte, um wieder ins Haus zu gehen, rief ich ihr laut nach:
„Ich hab einen Engländer gesehen.“
Sie reagierte nicht. Entweder wollte sie es nicht hören, erinnerte sich der Situation vorhin im Bunker und mied ein Gespräch jetzt, wo sie verärgert war, oder sie hatte schon längst wieder etwas anderes im Kopf. Aber dann war die Schelte nicht so wichtig für sie.
Ich überlegte, warum sagt sie nichts? Sie hätte doch fragen können: Nun, wie sah er denn aus ? Dann hätte ich geantwortet: Er hat geblutet und ist mit mir gerannt. Zuerst hab ich gar nicht gemerkt, daß er ein Engländer ist. Sie haben ihn verhaftet und eingesperrt. Sie hätte dann sagen können: Siehst du, es sind eben Leute wie wir, das hab ich doch gleich gesagt, oder nicht?
Aber wir redeten nicht miteinander über den Engländer, auch nicht darüber, was die Soldaten mit dem Gefangenen wohl machen würden, ob er ins Gefängnis käme oder zu einem Bauern, um dort zu arbeiten. Wir redeten überhaupt nicht.
In solchen Augenblicken führte ich oft Selbstgespräche, fragte etwas und gab mir selbst die Antworten, indem ich mir vorstellte, wie Mutter oder Vater zu sprechen. Ich legte ihnen Äußerungen in den Mund, auf die ich aufsässig antworten konnte. Ich sagte einmal, der Mölders holt sie alle runter, alle, keiner kommt davon. Mutter in mir antwortete: Ich kenne Mölders nicht. Ich: Du bist dumm, du weißt nichts, vom Krieg verstehst du überhaupt nichts, aber du schreist hier immer rum. Sie verstummte, ich sah, wie ihr Tränen aus den Augen liefen, während ihr Gesicht lächelte.
Die Sache mit dem Engländer beschäftigte mich ziemlich lange. Ich lernte an solchen Erlebnissen unterscheiden zwischen dem, was ich vom Hörensagen wußte und dem, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte. Was ich nicht durchschaute, damals noch nicht, war, daß die Leute unterschieden zwischen dem, was sie wußten und dem, was sie sagen mußten, um ungeschoren davonzukommen.

   Ungefähr zwei Jahre später, im Mai 1945, hatte ich unter völlig anderen Umständen ein ähnliches Erlebnis mit einem Engländer.
Die Waffen schwiegen gerade erst einige Wochen. Die Leute hatten aber noch Mühe, das Zucken im rechten Arm zu unterdrücken, wenn sie ein schlichtes „Guten Tag“ boten. Diesen Nachhall der Gewohnheit beobachtete ich nicht nur bei anderen, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Ich selbst rief einmal einem Engländer versehentlich ein lautes „Heil Hitler“ zu und erntete Gelächter.
Die durchziehenden Militärverbände der Engländer waren irgendwo im Lande zum Stehen gekommen, hatten sich verteilt und als Besatzungsmacht niedergelassen, organisierten ihre Versorgung und begannen, das, was von der deutschen Wehrmacht an Truppen und Material übriggeblieben war, aufzulösen.
Der 31. Mai 1945 war ein schwüler, sonniger Tag. Auf dem Marktplatz in der Mitte der Stadt waren Militärlastwagen und Panzerfahrzeuge der Engländer aufgefahren. Ich hatte mich dahingetrollt, stand neugierig und immer ein bißchen auf Abstand herum. Über dem Blech der graugrünen Fahrzeuge flimmerte die Hitze. Soldaten lehnten im Schatten gegen die geöffneten Ladeklappen, aßen etwas, rauchten und redeten in einem für mich unverständlichen Englisch. Ich verstand kein Wort, obwohl ich doch schon einige Monate Unterricht in Englisch gehabt hatte.
Die Soldaten hatten anscheinend keine andere Aufgabe, als eben anwesend zu sein und zu warten. Nur selten drang ein Kommando durch diese gelassene Reglosigkeit, wirkte dann fast wie etwas Fremdes in der Stille des Nachmittags. Eine leichte Brise strich durch die hohen Linden am Rande des Platzes, ließ das Sonnenlicht glitzern und die Blätter leise rauschen.
Plötzlich durchbrach eine ohrenbetäubende Detonation die Ruhe, gefolgt von einer heftigen Druckwelle. Staub wirbelte hoch, Fensterglas zersplitterte an den Häusern ringsumher, die Scheiben wurden weit auf den Platz geschleudert. Dachpfannen lösten sich, rutschten ab wie Lawinen, segelten auf das Pflaster und zerschellten. In wenigen Sekunden stürmten viele Leute aus den Häusern, aufgeregt schreiend und ängstlich fragend, was da passiert war.
Schutzsuchend hatte ich mich unter einen Baum geflüchtet, mitten unter die Soldaten. Als ich mich umsah, erschrak ich: Beinahe in Richtung unseres Hauses quoll ein gewaltiger Rauchpilz in die Höhe. Funken sprühten aus ihm heraus, begleitet von kleinen Explosionen, dunkle Gegenstände wirbelten durch die Luft. Ich konnte nicht erkennen, was es war, ahnte auch nicht, was dort geschehen sein konnte. Mein Entschluß, nach Hause zu rennen, war mehr instinktiv als überlegt.
Ich bemerkte weder die Aufregung unter den englischen Soldaten noch das warnende Rufen der Leute, die mich laufen sahen.
„Geh nicht weiter! Bleib hier, da kommt bestimmt noch mehr“, keuchte jemand, der ein kurzes Stück neben mir herlief.
„Ich muß nach Hause“, sprach ich mehr zu mir selbst, denn der andere war schon zurückgeblieben, während ich weiterhastete.
Als ich etwa die Hälfte des Heimwegs zurückgelegt hatte, gab es eine zweite gewaltige Detonation. Ich warf mich zu Boden, hörte es über mir pfeifen und heulen, um mich herum dumpf prasseln und hart auf das Pflaster der Straße klatschen. Als das Krachen nachließ, hob ich langsam meinen Kopf. Der Weg und die Straßen waren übersät mit angesengelten Holzfetzen, zerbrochenen Geschoßkartuschen und Granatköpfen. Jetzt erfaßte mich entsetzliche Angst. Ich rannte, was Beine und Lunge hergaben, heimwärts, den Schutz von Häusern und Bäumen suchend.
Das Haus steht ja noch, Gott sei Dank, dachte ich, als ich näher kam. Unten am Garten angelangt, warf mich eine dritte heftige Explosion zu Boden, hörte ich abermals das Schwirren und Zischen in der Luft, das Niederprasseln von Gegenständen um mich herum in den Boden oder ins Gebüsch.
Ich robbte wie zu Zeiten des Jungvolks den schmalen Heckenweg entlang, der neben unserem Grundstück den Hang hinauf in die Feldmark führte. Durch das obere Gartentor erblickte ich unter der großen Eiche den Kinderwagen meiner jüngeren, erst halbjährigen Schwester Birgit und wurde schneller.
Gerade wollte ich zum letzten Spurt ansetzen, als mir ein Engländer den Hang herunter entgegentaumelte. Seine Uniform war völlig zerrissen, sein Gesicht über und über von Blut überlaufen, ein Arm baumelte schlaff in seiner Uniformjacke. Er gestikulierte und schrie:
„Go back, go back, more, more!“
Mit dem unverletzten Arm machte er heftige Bewegungen, die schnelle Flucht, sofortige Umkehr bedeuten sollten. Dann wollte er mich packen, aber ich riß mich los und rannte auf den Kinderwagen zu. Er war leer. Nur ein angekohltes, zerfetztes Brett lag darin, die Matratze war mit Ruß und Staub gepudert. Sie werden im Bunker sein, überlegte ich.
Die Tür zum ehemaligen Luftschutzbunker war verschlossen oder klemmte. Ich trommelte mit der Faust dagegen. Als endlich jemand öffnete, schlüpfte ich hastig in das finstere Erdloch. Ich setzte mich auf den Sandboden und keuchte mich aus. Erst nach und nach bemerkte ich, daß außer meiner Mutter und meinen beiden Schwestern auch unsere Nachbarin, Frau Tietjen, mit ihren zwei Kindern hier Deckung gesucht hatten.
Die Nacht hindurch bis zum frühen Morgen dauerte das Prasseln und Knistern. Stunde um Stunde folgten unentwegt kleinere und schwerere Explosionen, flogen Bruchstücke von Granaten, angekohltes Holz und andere Gegenstände durch die Luft.
Nur für wenige Minuten konnte hin und wieder die Luke geöffnet werden. Ein beißender Geruch und ein Nebel aus schwebendem Feinstaub hatten sich ausgebreitet. Irgendwoanders waren Häuser in Brand geraten. Ich hörte die Sirenen und das schrille Klingeln der Feuerwehrwagen.
Noch am frühen Abend war die leere Kartusche einer Artilleriegranate gegen unsere Küchentür geprallt, hatte deren Füllung durchschlagen und den Geschirrschrank samt Inhalt zerrissen. Sonst war nichts an unserem Haus zerstört, soweit man es in der Nacht erkennen konnte.
Im engen Bunker unter dem bedrohlichen Krachen, dessen Ursache allen unerklärlich blieb und von dem man nicht wußte, wie lange es dauern würde, breitete sich Untergangsstimmung aus.
„Das Überleben wir hier nicht, das wird immer schlimmer. Sowas hatten wir ja nicht mal im Krieg“, jammerte Frau Tietjen.
Sehen konnte ich sie nicht. Kerzen und Streichhölzer, die hier während des Krieges stets bereitlagen, hatten wir Kinder beschlagnahmt, nachdem der Bunker nicht mehr gebraucht wurde und wir ihn zum Spielen besetzen durften. So blieb es völlig dunkel in diesem Erdloch. Ich konnte nur vermuten, daß die alte Sitzordnung wieder galt: Die Nachbarin saß zwischen ihren beiden Kindern, die sie fest mit ihren kräftigen Armen an sich zog, auf der Bank an der hinteren Wand. Mutter, mit Schwester Birgit auf dem Schoß und der zitternden Inge neben sich, kauerte auf einem alten Bettgestell seitlich davon. Als die Luke einmal kurz geöffnet wurde, erkannte ich, daß es so war. Ich hatte das Gefühl, der Krieg sei zurückgekehrt.
Meine Mutter sprach kaum, ihre Sätze waren kurz und abgehackt, sie hatte Angst. Frau Tietjens Jammern schien sie zu stören, sie sagte:
„Es bleibt uns nichts als abzuwarten, was passiert. Es hat überhaupt keinen Sinn, sich verrückt zu machen.“
Mir fiel der Engländer wieder ein, der mir blutüberströmt am Nachmittag entgegengekommen war, und ich erinnerte mich der Notlandung des englischen Flugzeugs zwei Jahre zuvor. Eine seltsame Wiederholung jener Begegnung. Der wichtige Unterschied zu damals war, daß dieser Engländer nicht gefangengenommen wurde. Auch waren Engländer längst ein gewohnter Anblick geworden, ich brauchte keine abwegigen Vorstellungen mehr zu berichtigen.

   Ich wollte die Geschichte erzählen, aber die Stimmung im Bunker drückte mich zurück. Gerade hatte ich angesetzt:
„Als ich hierher gerannt kam, lief ein halbtoter Engländer …“, unterbrach mich meine Mutter:
„Sei still, später!“
Niemand wollte etwas von solchen Sachen hören. Sie waren vor Angst in sich hineingekrochen, hatten hier im Bunker noch einen unsichtbaren Bunker um sich errichtet und sich fest darin eingeschlossen. Jeder schwieg allein vor sich hin.
Ich wollte Fragen stellen, wollte ein Gespräch beginnen, um meine eigene Angst zu überlisten. Ich versuchte es nach einer Weile noch einmal. Ob denn keiner eine Ahnung habe, was da in die Luft geflogen sein könnte, wollte ich wissen. Keine Antwort. Vielleicht haben sie, was ich im Dunkeln nicht sehen konnte, mit dem Kopf geschüttelt und wenigstens so reagiert.
Ich fühlte mich allein gelassen unter dem Krachen, abgeschoben mitten unter vertrauten Menschen. Die erzwungene Stille steigerte meine Aufmerksamkeit für jedes fremde Geräusch, das von draußen hereindrang. Jedes Knistern war ein Feuer, das auf unser Haus übergriff, jede Explosion ein Volltreffer auf eines der umliegenden Häuser, jedes Bersten ein gestürzter Baum. Ich hatte das Gefühl, die Hölle bricht über uns herein. Ich wußte wohl, es waren Einbildungen, aber ich konnte sie nicht vertreiben.
Erst am folgenden Abend, als endlich Nachrichten aus dem Bürgermeisteramt oder der englischen Kommandantur bis zu uns vorgedrungen waren, kam es an den Tag: Die Engländer hatten in den letzten Wochen auf einem Feld oberhalb der Stadt, nur einige hundert Meter hinter unserem Haus, ein Sammellager für erbeutete deutsche Munition errichtet. Sie waren seit Tagen damit beschäftigt gewesen, Landminen zu entschärfen. Unvorsichtige Hantierungen sollen einen Brand und eine Kettenreaktion von Explosionen ausgelöst haben, die niemand mehr unter Kontrolle bringen konnte. Es hatte viele Tote und Verwundete unter den Engländern gegeben.
An diesem Abend blieb ich lange wach. Bilder von zerfetzten Uniformen und blutenden Körpern bedrängten mich. Ich sah sie alle „go back, go back!“ schreien, bevor sie starben. Sie sind doch Leute wie wir. Inzwischen wußte ich es besser, konnte mir vorstellen, daß zu Hause in England Familien und Freunde auf sie warteten, die glaubten, der Krieg und das Sterben für ihn sei zu Ende. Aber Kriege haben eben lange Schatten.

   Noch Jahre nach diesem Unglück kamen beim Umgraben im Garten oder beim Pflügen auf den naheliegenden Äckern kleine und schwere Granaten zum Vorschein. Manche waren unversehrt geblieben, nur etwas angerostet, andere gerissen oder steckten leicht trennbar in ihren Kartuschen samt Treibsatz. Kein Wunder, daß wir gefährliche Spiele damit trieben, daß einem Mitschüler durch eine explodierende Handgranate der Bauch aufgerissen und mancher grobe Unfug angestellt wurde. Dies fiel in die Zeit gegen Ende der vierziger Jahre, als der Krieg immer noch nachhallte, eine Zeit von der ich hier nicht erzähle.

Die doppelte Heimkehr

   Überall in der Stadt gab es Familien, die der Krieg härter traf als uns. Unser Haus blieb unzerstört, die Familie vollzählig, wenn auch nicht beisammen. Woanders hatten Kinder ihre Väter oder Brüder verloren, waren Mütter oder Schwestern irgendwo in Hamburg im Bombenhagel umgekommen. Täglich strömten jetzt, Anfang des Jahres 1945, Flüchtlinge aus den östlichen Reichsgebieten in die Stadt. Ich sah Mütter weinen, die ihre Kinder auf der Flucht verloren hatten, die berichteten, wie sie ihre alten Eltern in einem brennenden Haus zurücklassen mußten, weil es keine Rettung mehr gab.
Auch in unserer Stadt, mitten im Holsteinischen, schlug der Krieg gelegentlich rauh zu, manchmal kam es zu Notabwürfen angeschossener Bomber, einmal zerriß eine Luftmine, die im Zentrum niederging, etliche Häuser und löschte ganze Familien aus.
Welches wirkliche Leiden und Grauen dieser Krieg hervorbrachte, zeigte sich mir an diesen Ereignissen mehr als an meinen eigenen, ganz persönlichen Erlebnissen. Am Ende war diese Tragödie unübersehbar geworden, ich selbst war elf und inzwischen wach und hellhörig geworden, mir aus vielem selbst einen Reim zu machen, wenn auch einen, der auf meine kindliche Einsichtsfähigkeit beschränkt blieb. Es war, als ob ein Vorhang rissig wurde und, noch bevor am 8. Mai das endgültige Aus verkündet wurde, in großen Fetzen herunterhing, so daß der Blick frei wurde auf die wahren Kulissen des Geschehens.
Niemand hatte mich darauf vorbereitet oder das Geschehene mit Erklärungen begleitet. Viele redeten fast bis zum Schluß von irgendwelchen Geheimwaffen, die Hitler noch bringen würde, wollten nicht wahrhaben, was augenscheinlich war, oder schwiegen.
Ich hörte von Erschießungen an Leuten, die allzu voreilig vom Ende sprachen, die von Fanatischen erwischt wurden, als sie ihre braunen Uniformen heimlich in einen Fluß warfen. Dort, wo die Altonaer Straße die Hudau innerhalb des Ortes überquert, hat mancher hastig seine verräterische Bürde von der alten Brücke geworfen. Noch nach Jahren fanden wir vom Wasser wieder freigespülte verrostete Pistolen, Munition und Parteiabzeichen.
Die letzten Wochen des „Großdeutschen Reichs“ verbrachte ich viel mit Heiner. Er wußte manches, was ich vergeblich erfragt hatte. Ich vermutete, seine Mutter sprach viel freimütiger als meine Eltern über Dinge, über die üblicherweise geschwiegen wurde, über die mit Augenzwinkern hinweggegangen oder Ausflüchte gebreitet wurden. Heiner verstand es, allem beim Jungvolk zwischen offener Aufsässigkeit und blinder Gefolgschaft hindurchzuschlüpfen, ohne den Bogen zu überspannen. Er war vorsichtig, aber nicht feige, und das gefiel mir.

   Gegen Ende des Krieges wurde der Luftraum durch Tiefflieger immer unsicherer. Anscheinend kaum noch von irgendeiner wirksamen Abwehr bedrängt, tauchten sie unerwartet aus heiterem Himmel über uns auf und schossen auf alles Bewegliche, was ihnen vor die Kanone kam. Ich fühlte mich ständig bedroht, besonders als Heiner und ich in den letzten Wochen vor dem Ende zur Errichtung von Panzersperren auszogen.
Ich bin nicht ganz sicher, ob seinerzeit alle Pimpfe von den Jungvolkführern abkommandiert wurden oder ob wir uns drängen ließen zur freiwilligen Hilfsarbeit, weil wir uns damit vom „Dienst“ befreien konnten. Aber es war ja kaum ein Unterschied.
Der Bau solcher Straßensperren erschien Heiner als vollkommen sinnlos.
„Ich weiß nicht, was der Quatsch noch soll. Glaubst du, daß diese Dinger wirklich einen Panzer aufhalten? Der bricht doch glatt seitlich durch die Häuser durch und schon ist er drinnen.“
„Kann sein, aber wahrscheinlich wollen sich unsere Soldaten mit Panzerfäusten hierhinter verschanzen, um sie abzuknallen. Meinst du nicht?“
„Wenn sowas kommt, haue ich vorher ab, dann gibt’s nämlich ’ne böse Knallerei.“
„Wo willst du denn hin?“
„Weiß nicht, wird mir schon was einfallen.“
Die Panzersperren waren ziemlich schlichte Bauwerke. Quer über wichtige örtliche Durchgangsstraßen hieß man uns zusammen mit Leuten vom Volkssturm dicke Baumstämme wie Spuntwände eingraben und zwar in doppelter Reihe mit einem Zwischenraum von vielleicht zwei Metern. Nur in der Mitte der Straße blieb ein schmaler Spalt frei, gerade eben ausreichend für einen kleinen Pkw. Ein Bauer fluchte, weil er mit seinem beladenen Fuhrwerk nicht durchkam.
Der Zwischenraum wurde mit Steinen und Sand aufgefüllt. Zu dieser Arbeit waren Heiner und ich eingeteilt. Wir wuchteten Feldsteine, die ein Lastwagen auf die Straße geschüttet hatte, über die ungefähr zwei Meter hohe Wand in den Zwischenraum, während andere Leute Sand nachschippten.
Die Sperre befand sich an der Ausfallstraße nach Norden, in der Nähe eines Bäckerladens. Ich sah die staunenden Augen des alten Meisters aus einem mehlweißen Gesicht starren, glaubte, einen Anflug von Verständnislosigkeit in seiner Miene zu erkennen. Lange stand er im Türrahmen, ohne ein Wort zu sagen oder gar mit Hand anzulegen. Seine Gleichgültigkeit beeindruckte mich, vielleicht dachte er auch:
„Ihr Idioten, was das wohl noch helfen soll?“
In jenen Tagen breitete sich eine merkwürdige Stimmung aus, die zwar jeder in Haltung und Ausdruck von sich gab, über die aber niemand offen sprach. Ich empfand sie als ein Pendeln zwischen der Erleichterung, alles würde bald ein Ende haben, und der bangen Frage, ob noch örtliche Kampfhandlungen kommen würden und wie man sich denen am besten entziehen könnte.
Das Endsieggeschrei war unter den Hitlerjungen der Stadt auch im März 1945 noch nicht verstummt, manche von ihnen fühlten sich dem Aufgebot der Wehrwölfe verpflichtet und bereiteten sich darauf vor, der Vorhut des Feindes aus dem Hinterhalt in den Rücken zu fallen. Aber es kam nicht dazu, die Kapitulation kam diesen Eiferern zuvor.
In den ersten Tagen nach dem 8. Mai herrschte eine unheimliche Stille in der Stadt. Kaum jemand traute sich aus dem Haus. Es war ein gespanntes Warten auf das Auftauchen der ersten englischen Einheiten.
Meine Mutter hatte mir strikt verboten, das Grundstück zu verlassen und mich vor dem Haus im Garten sehen zu lassen. Ich war auf einen Baum am Hang hinterm Haus geklettert, von wo aus ich bis tief in die Stadt hineinsehen konnte.
Der Einzug der Engländer geschah dann fast geräuschlos. Um die Mittagsstunde des dritten oder vierten Tages nach der Kapitulation waren mehrere Jeeps und Panzerspähwagen auf den Marktplatz gefahren. Damit galt die Stadt als besetzt. Ich habe sie nicht einmal kommen gesehen, sondern von Nachbarn gehört, sie wären da. Das war alles.

   Die einzige Spannung, die jetzt noch auf uns lag, war das Warten auf eine Nachricht von Vater, den wir irgendwo in Dänemark vermuteten. Zuletzt war er Kommandant in der Stadt Silkeborg gewesen, aber die Verbindungen dahin waren seit einigen Wochen unterbrochen.
Wir mußten auf die Vervollständigung unserer Familie bis kurz vor Jahresende 1945 warten. Unerwartet stand er eines Tages vor der Tür, etwas zerlumpt und schwach auf den Beinen, sonst aber munter. Wir fielen uns allesamt in die Arme, freuten uns und überließen uns diesem Augenblick des Wiedersehens.
Es war der Punkt hinter einer Reihe von dramatischen Jahren. Eigentlich ein Doppelpunkt, denn die Wundschmerzen des Krieges würden sich noch ausbreiten. Doch in diesem Moment ahnte niemand von uns, daß die Schatten des Krieges Vater und uns noch einmal einholen würden.
„Da bin ich, Glück gehabt, die letzten Wochen in Dänemark waren schlimm, der Untergrund war ständig hinter uns her, als wir begannen abzuziehen. Aber es ist noch mal gut gegangen. Später mehr davon. Jetzt muß ich mich erst mal ausruhen.“
Mutter schärfte uns ein, meiner Schwester Inge und mir, auf Vater Rücksicht zu nehmen, ihm die Heimkehr in das familiäre Leben und einen zivilen Neuanfang zu erleichtern.
„Ihr müßt das verstehen, er war so lange weg von uns, er muß sich erst wieder daran gewöhnen, zu Hause zu sein.“
Beim dem Wort „ziviles Leben“ fiel mir eigentlich zum ersten Mal auf, daß ich gar nicht genau wußte, welch einen Beruf Vater erlernt und früher ausgeübt hatte. Was wußte ich überhaupt von ihm, außer einigen Bildern aus seinen mehr anekdotischen Berichten über die verschiedenen Phasen seiner Mitwirkung im Krieg, dem Sudetenfeldzug, dem Polenfeldzug, dann Dänemark, wo er zuerst bei der Pressezensur in Kopenhagen eingesetzt war, später zum Stadtkommandanten von Silkeborg ernannt wurde.
Aber sein früherer Beruf? Er hatte gelegentlich alte Photos gezeigt. Eine prächtige Uniform trug er, war beim Leibregiment des bayerischen Königs in München gewesen, 1912/13, von wo aus er in den ersten Weltkrieg gezogen wurde, wie er erzählte. Ortsnamen wie Hartmannweiler Kopf und Verdun blieben mir im Gedächtnis, und von einem Regiment List war die Rede, das dort nahezu aufgerieben worden war. Es war spannend, weil er davon betroffen war, aufregend, wie er entkommen war. Aber seine persönliche Geschichte zwischen den beiden Kriegen blieb für mich leer.
Ich wußte nicht viel, nur daß er Kaufmann in Stockholm gewesen war vor dem ersten Weltkrieg, dorthin aber nicht zurück durfte, und daß er über zehn Jahre in Berlin gelebt hatte, bevor er Mutter 1932 heiratete. Über seine erste Ehe, die wohl zehn Jahre gehalten hatte in seiner Berliner Zeit, hat er sich völlig ausgeschwiegen.

   Nehmt Rücksicht auf Vater, hatte es geheißen. Für mich war nicht mein Vater zurückgekehrt, sondern jemand anderes. Seine Ankunft zu Hause war so anders, ohne Uniform, ohne den gewohnten Geruch von blankgeputztem Leder, Auspuffgasen und Benzin, von Schweiß und Tabakqualm, ohne die Stimmung von intensivem Zusammensein für ein paar kriegvergessende Tage, bis er wieder weg mußte.
Jetzt war ein ganz anderer Mann da, ein Unbekannter, der bleiben würde, in Zivilkleidung, die schlapp an ihm herabhing, denn er war reichlich abgemagert, einer, der oft umherlief, als ob er mit sich nichts anfangen konnte , der immer nur erzählte, was gewesen war, aber kaum darüber sprach, was nun werden sollte, was er zu tun gedachte.
Ich habe in dieser Zeit nicht viel über ihn nachgedacht, sondern seine Anwesenheit auf mich wirken lassen. Soweit ich mich zurückbesinnen kann, war Vater für mich immer nur von Ferne her gegenwärtig gewesen, sozusagen unsichtbar anwesend. War er zu Hause gewesen, blieb etwas Wahrnehmbares von ihm zurück, so etwas wie Witterung oder Fährte, Duftmarken, irgendwelche zurückgelassenen Zeitungen, dänische Lebensmittel, Mutters veränderte Stimmung. Es war, als hätte er das ganze Haus in seinem Sinne ausgerichtet, es wieder mit Vatereigenschaften ausgestattet, die halten sollten, bis er wiederkommen würde.
Aber sein Leben spielte sich woanders ab, irgendwo im Krieg. Er nahm nicht an den Geschehnissen des Alltags teil, die ich erlebte und die ich hätte mitteilen, nachfragen, verarbeiten wollen. Die wenigen Augenblicke , in denen er für mich sinnlich faßbar war, sah ich in ihm den Besucher, den Nichtalltäglichen, den, der viele Sachen mitbrachte, die es bei uns nicht gab, der Geschichten erzählte und oft Gäste empfing.
Waren Gäste im Haus, fühlte ich mich besonders klein neben ihm, nicht viel größer als bis zu seiner Rocktasche, die er zerknautscht nach oben schob, wenn er lässig die Hand in die Hosentasche tauchte, wo er sie auch dann ließ, wenn er mit der anderen gestikulierte und deswegen seine Zigarre im Mund behielt.
Manchmal sprach er, indem er kräftig am Zigarrenstummel oder an seiner Pfeife sog, aus beiden Mundwinkeln den Rauch ausstieß und Wörter hinterhersandte, als sollten sie auf den Rauchschwaden mitschweben, um im Raum verteilt zu werden.
Das war nicht der Vater fürs tägliche Miteinander. Dessen Unerschütterlichkeit paßte gar nicht in die Rastlosigkeit und Brüchigkeit unserer Tagesläufe. Er nahm „unseren“ Krieg nicht ernst, ging erst in den Luftschutzbunker, wenn es wirklich mal ernsthaft knallte, tat einfach so, als ob das, war wir zu ertragen hatten, gar kein richtiger Krieg wäre.

   Er war mehr eine Figur, die über allem thronte und mich, selbst aus der Ferne noch, mit seiner Güte und Strenge bedachte, der geliebt und vor allem geachtet wurde, manchmal bestaunt und mit Stolz betrachtet, der nahezu alles wußte, jedenfalls viel mehr als alle anderen Väter, die ich kannte, und dessen Wille in Mutter eine Verlängerung besaß. So konnte sie ihn leicht als Erziehungsmittel gegen mich nutzen, auch wenn er weit weg war. Sie berief sich dann auf ihn oder drohte mit ihm, wenn ich allzu aufsässig wurde.
Das alles machte ihn mir größer, als er selbst vielleicht sein wollte. Ich prägte mir die Stunden mit ihm besonders ein, wich nicht von seiner Seite, wenn er es duldete, wollte miterleben, wenn er ins Gasthaus ging, von so vielen Leuten gefragt wurde und sie ihm alle gespannt zuhörten.
Wurde seinetwegen eine Jagd angesetzt, drängte ich ihn, mich mitzunehmen.
„Achte darauf, Junge, daß du immer hinter meiner Flinte stehst! Verstehst du? Hinter meiner Flinte. Wenn aus Versehen ein Schuß losgeht, das kommt manchmal vor, wirst du so nicht getroffen.“
Eine solche Jagd, auch wenn sie nur ein paar Stunden dauerte, erlebte ich als eine lange Abenteuerreise in ein fernes Land, mit wilden Tieren, gefährlichen Völkerstämmen, riskanten Flußüberquerungen und qualvollem Durchdringen von verwobenem Urwald. Ich lauschte den Warnrufen von Vögeln, dem Knacken im Unterholz, luchste durchs Blättergewirr und über Stoppelfelder nach Jagdbarem, nahm den herbstfeuchten Geruch von Moder und Morcheln als Duftmarken von Füchsen oder anderem Wild. Das Flüstern und Pirschen steigerte diese Stimmung.
Das war jetzt vorbei. Jagdwaffen waren verboten, die Gasthäuser waren kalt und leer, Vater unterschied sich nicht mehr von Zivilisten, trug rauchgraue Anzüge und verwandte viel Zeit, um auf irgendwelchen Tauschwegen an Tabak ranzukommen.
Schon nach wenigen Wochen tauchten Schwierigkeiten zwischen ihm und mir auf, wir hatten häufig Krach miteinander. Er beanspruchte einen Platz in der Familie, der leer gewesen war und in den ich hineingewachsen war oder mich hineinphantasiert hatte. Ich ertrug es nicht, von einem Mann verdrängt zu werden, der mir als bürgerlicher Mensch unbekannt war, dessen Gewohnheiten, Lebensgefühl und Verhalten sich erst in den kommenden Monaten und Jahren offenbaren würde, der Respekt als Oberhaupt der Familie beanspruchte, der glaubte, in wenigen Wochen alles das an erzieherischen Maßnahmen nachholen zu müssen, was er als Vaterpflichten ansah und wovon ihn die Kriegsjahre abgehalten hatten. Vielleicht erlebte er es auch als besonders schwierig, mir die Achtung abzugewinnen, die einem Vater selbstverständlich zufällt. So sah er es jedenfalls.
Ich rebellierte, hatte manchmal Haßgefühle, dachte sogar, hätte ihn doch der Krieg behalten, wäre er doch nie zurückgekommen. Ich schämte mich solcher Gedanken, verbarg sie zutiefst im Inneren und versuchte, gerade dann besonders freundlich zu ihm zu sein.
Als Uniformierten, der nur gelegentlich zu Hause war, konnte ich ihn dulden, war er mir willkommen, er konnte lustige Begebenheiten aus dem Krieg erzählen. Nur zu Beginn war er an einer Front gewesen, wo es ernster zuging. Später, in Dänemark, fühlte er sich als geborener Nordschleswiger aus Apenrade wie zu Hause. Er sprach ebenso gut Dänisch wie Deutsch. Seine Schilderungen waren unkriegerisch und heiter.
Am meisten litt ich darunter, daß er mich kleiner machte, als ich mich fühlte. Ich weiß nicht, wie er jemals darauf gekommen war, mich „Heinrich“ zu nennen, immer mit einem Schuß Ironie darin. Ich haßte dieses „mein Heinrich“, das er viele Jahre beibehielt, auch die Sprüche, die er daran knüpfte: Heinrich, mir graut’s vor dir, oder: Heinrich, Heinrich, denke dran, was daraus noch werden kann. Ich verstand nicht, warum mich das ärgerte, das klingt doch ganz scherzhaft gütig. Es war wohl der herablassende, klein machende Unterton in diesem: „Na, mein Heinrich, was sagte dein Lehrer heute.“ Ich hatte immer das Gefühl, mit diesem Namen verband er jemand, der ich nicht sein wollte. Die Person, als die ich mich selbst sehen wollte, der fast schon Erwachsene, es sich jedenfalls einbildete zu sein, hieß Peter. Aber den schien er nicht annehmen zu wollen, er sprach diesen Namen selten aus, eigentlich nur, wenn etwas sehr Ernstes zu besprechen war.
Ich bin – mit heutigem Verständnis gesehen – sicher, daß die Chance, ein persönliches Verhältnis zu Vater zu finden, in diesen wenigen Monaten nach seiner Rückkehr unwiderruflich vertan wurde. Ich hatte ihm gegenüber auch später immer das Gefühl, der ihm zwar Ebenbürtige oder sogar Überlegene, aber kraft seiner väterlichen Autorität Untergeordnete zu sein.

   Eines Tages geschah aber etwas, das in den mühevoll und quälend sich zwischen Vater und mir entwickelnden Weg, miteinander auszukommen, unvermutet hineinhagelte. Es muß im Mai 1946 oder etwas später gewesen sein, als eines nachmittags ein Militärwagen unten an unserer Gartenauffahrt stoppte und zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten und ein Offizier der Engländer heraussprangen, den Gartenweg heraufliefen und klingelten.
Mein Vater war aufgestanden, keineswegs beunruhigt. Wir übrigen blieben im Wohnzimmer zurück. Ich hörte einen kurzen Wortwechsel, dann erschien Vater wieder und erklärte:
„Ich bin verhaftet. Ein Grund ist mir nicht mitgeteilt worden. Ich soll mich für eine längere Abwesenheit mit dem Notdürftigsten versorgen.“
Meine Mutter wurde kreidebleich, verkrampfte sich auf ihrem Stuhl und murmelte alle paar Minuten ein karges: „Mein Gott, mein Gott“, während sie Vater folgte, ihm beim Packen zu helfen. Die Wohnzimmertür stand offen, ich lugte um die Ecke und sah die drei Engländer in der Haustür stehen.
Die wenigen Minuten zwischen Packen und Abschied ließen mir kaum Zeit, darüber nachzudenken oder zu fragen, was das zu bedeuten haben könnte. Ich erinnere mich, ziemlich ruhig geblieben zu sein, dachte an ein Versehen, das sich bald aufklären würde. Nach allem, was ich inzwischen von Vater und über ihn wußte, wie er sich während des Krieges verhalten hatte, konnte ihm eigentlich nichts Schlimmes angelastet worden sein. Mein Gefühl gab mir Gewißheit, dennoch blieben auch Zweifel, ich wußte eben bei weitem nicht alles.
Für einige Tage hielt man Vater in einer Zelle des örtlichen Gefängnisses fest. Dann wurde er nach Neuengamme verlegt. Die Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers waren von den Engländern als Gefängnis für Deutsche, die wegen irgendwelcher Vorkommnisse abgeurteilt werden sollten, wieder hergerichtet worden.
Während dieser Zeit stellte sich ziemlich rasch die alte Familienordnung wieder ein. Noch einmal nahm ich Vaters Platz ein. Nach allem, was ich in den vorangegangenen Monaten mit ihm erlebt hatte, fühlte ich mich herausgefordert, ihm wieder wegzunehmen, was er sich genommen hatte, spürte ich die Erleichterung vom Druck seiner Vorherrschaft.

   Während meine Mutter und meine ältere Schwester offensichtlich litten, Angst hatten und oft davon sprachen, wie es Vater wohl ginge und wie man ihm das Gefangenenleben erleichtern konnte, empfand ich diese Zeit wie eine Befreiung. Es hieß zwar immer, er würde bald zurückkehren, aber ich wünschte mir diesen Zeitpunkt weit weg. Nur in seltenen Augenblicken, in Tagträumen hing ich dem Gedanken nach, seine Gefangenschaft könnte ihn verwandeln, könnte aus ihm einen anderen Menschen machen, einen, der mir zugänglicher war, der nicht so viel Fügsamkeit beanspruchen würde. Aber es blieben Träume.
Wäre der Ort von Vaters Gefangenschaft ein anderer als Neuengamme gewesen, ein gewöhnliches Gefängnis oder ein Militärlager, so eines wie Putlos an der Ostsee, wo er sich bis zu seiner Freilassung Ende 1945 aufgehalten hatte, wer weiß, ob nicht manches in meinem Verhältnis zu ihm anders gekommen wäre.
Im Rundfunk und in den Zeitungen wurde damals viel über die Konzentrationslager der Nazis berichtet. Ich habe das oft mit Anspannung verfolgt, vieles versetzte mir Nadelstiche, preßte mir vor Entsetzen die Brust zusammen, denn inzwischen hatte ich erfahren, daß auch Neuengamme eine dieser mörderischen Einrichtungen gewesen war.
Da saß nun mein Vater, gewiß unter völlig anderen Bedingungen, aber mit welchen Gefühlen? Eine ganz andere Seite des nationalsozialistischen Deutschlands tat sich plötzlich vor mir auf, eine, die mir bislang von den Erwachsenen vorenthalten worden war. Ich verdächtigte eine Zeitlang sogar meine Mutter, mir diese Wahrheiten verschwiegen zu haben, glaubte ihr aber schließlich, daß sie tatsächlich nichts davon gewußt hatte. Aber Vater? mußte er nicht als Soldat und Offizier etwas gewußt haben und hat sich vollständig darüber ausgeschwiegen? Ich würde ihn fragen, wenn er zurückkommt.
In der Zeit von Vaters Abwesenheit fielen die Nürnberger Prozesse und die Verkündung der Urteile gegen Nazi -Größen, deren Namen und Ämter mir überwiegend geläufig waren. Die Berichte im Radio fesselten mich oft stundenlang. Ich begann zu begreifen, ganz allmählich, wie groß das Ausmaß der Täuschungen war, denen ich als Wahrheiten geglaubt hatte. Wie hätte ich auch daran zweifeln können, daß Deutschland von seinen Gegnern gezwungen worden war anzugreifen, bevor es selbst vernichtet wurde? Wie hätte ich verstehen können, daß die von Hitler verkündete und uns von Lehrern und vom Jungvolk nur ein Vorwand, eine Verführung zu mörderischen Taten, zur Entfesselung eines weltweiten Krieges, zur Vernichtung von nicht genehmen Rassen und politisch Andersdenkenden gewesen war?
Zuerst hatte ich gedacht, die Siegermächte rächten sich, indem sie Greuelmeldungen verbreiteten, um die Besiegten zu erniedrigen. Aber das änderte sich bald. In Wochenschauen wurden Filmdokumente von Konzentrationslagern gezeigt, wie die Alliierten sie vorgefunden hatten, in Zeitungen erschienen Tag für Tag Berichte darüber, auch der Rundfunk lieferte immer neue Nachrichten.
Und Vater? Hat er von all dem keine Ahnung gehabt? Wurde auch er erst jetzt und womöglich in Neuengamme selbst über die Verbrechen Hitlers und seiner Leute aufgeklärt oder hat er es verschwiegen, um uns, Mutter, meine Schwestern und mich nicht in Schwierigkeiten zu bringen? Wenn ich darüber nachdachte, erschien mir Vater manchmal unheimlich, noch unbekannter als zuvor.
Was mochte an Gedanken in ihm stecken, wie war seine Meinung über all diese Dinge? Würde er mir gegenüber offen sein können, wenn ich ihn fragen würde ? Ich hatte Angst davor, aber dennoch wünschte ich ihn mir zurück. Ich fürchtete mich davor, von ihm wieder in die Mangel seiner väterlichen Oberhoheit genommen zu werden, aber ich staute zuviele Fragen an und suchte seine, nicht irgendwelche Antworten.

   An einem trüben Tag im Februar oder März 1947 fuhr ein Privatwagen mit dänischer Autonummer bei uns vor. Ein älterer Mann, den meine Mutter anscheinend kannte, klingelte und fragte nach Vater. Als ihm klar wurde, der würde in Neuengamme gefangen gehalten, stutzte er. Ich hörte ihn sagen:
„Das muß ein Irrtum des Secret Service sein. Wir haben die Engländer nur gebeten, ihn hier in seinem Haus vernehmen zu dürfen. Das haben sie nicht gut gemacht. Wir werden nach Neuengamme fahren.“
Der Däne ließ sich einiges von Mutter erläutern. Sie nannte den Namen des englischen Offiziers in der örtlichen Kommandantur und beschrieb den Weg nach Neuengamme. Er notierte alles, und als er sich verabschiedete, sagte er:
„Sie müssen wissen, Ihr Mann hat viele von uns davor bewahrt, von den Deutschen verhaftet zu werden, wir wissen das sehr wohl. Wir möchten nicht, daß er durch uns Schwierigkeiten erleidet, wir werden ihn rausholen, seien Sie nicht ungeduldig.“ Offenbar war der Grund der Verhaftung nichts als ein Ersuchen der dänischen Polizei gewesen, Vater als Zeugen gegen dänische Kollaborateure vernehmen zu dürfen.
Er hatte stets enge Kontakte zur dänischen Bevölkerung gepflegt, was ihm mit seinen Sprachkenntnissen natürlich nicht schwer fiel. Wahrscheinlich hat er auch manches über Leute gewußt, die mit den deutschen Besatzungstruppen zusammenarbeiteten. Finn Larsens Vater muß so einer gewesen sein, Vater hatte Mutter gegenüber einst einige Andeutungen gemacht. Mit Finn habe ich oft gespielt, wenn ich in Silkeborg war. Eines Tages hieß es, sein Vater sei erschossen worden – Vater deutete an: vom Untergrund -, Finn sei mit seiner Mutter verschwunden. Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Nur eine Woche, nachdem die Dänen bei uns aufgetaucht waren, kehrte Vater heim. Wir hatten ihn wieder, endgültig.

   Seine zweite Heimkehr verlief in vieler Hinsicht anders als die erste. Wir waren auf sein Kommen vorbereitet, empfingen ihn mit einem irgendwie zusammengestoppelten festlichen Essen, meine Schwester Inge hatte die ersten Schneeglöckchen abgerupft und vor seinem Stammplatz aufgebaut. Der kleinen, gerade erst zwei Jahre alten Birgit hatten wir irgendeinen Begrüßungsspruch eingepaukt.
Und doch wiederholten sich alsbald für mich auf beinahe qualvolle Weise dieselben Schwierigkeiten wie bei seiner ersten Heimkehr. Erneut beanspruchte er einen Platz, den ich mir seit einigen Monaten wieder angeeignet hatte, erneut begann er, sich auf seine väterlich herablassende Weise in meine Angelegenheiten einzumischen, um sie in seinem Sinne zu ordnen.
Er wollte genau wissen, mit wem ich umging, gab Anweisungen, wie dies oder jenes im Garten zu regeln sei, obwohl er davon kaum etwas verstand, erklärte mir, auf welche Fächer in der Schule ich besonders achten müßte, um einmal einen vernünftigen Beruf zu erlernen. Der vernünftigste Beruf war natürlich sein eigener.
Er war davon überzeugt, es ohne den Krieg als freier Kaufmann weit hätte bringen können.
„Es gibt Berufe, mit denen kommt man überall durch, der Kaufmann gehört dazu“, verkündete er. Er sprach davon in einer Zeit, als er gerade dabei war, ein Großhandelsunternehmen aufzuziehen. Sicher hat er mich von Anfang an als seinen Nachfolger eingesetzt.

Im Laufe weniger Monate verwandelte sich Vater oder besser das Bild, das ich mir von ihm machte, vom rauchgrün uniformierten Offizier in einen rauchgrau gekleideten Zivilisten. Aus der Offiziersmütze wurde der graue Homburger, alle Anzüge waren grau, mal heller, mal dunkler. Diese Farbe hat er auch später nie mehr gewechselt. Alsbald gewann er seine frühere massige Gestalt zurück, stieß wieder Rauchschwaden zu beiden Seiten seiner Zigarre hervor. Unübersehbar und unüberhörbar war Vater alltäglich körperlich anwesend.
Er hätte es vermutlich nicht verstanden, hätte ihm damals jemand zu erklären versucht, seine erzieherische Einmischung in mein Leben als bald Vierzehnjähriger, der bis dahin ohne ihn ausgekommen war, zerstöre alle Chancen, jemals ein persönliches Verhältnis zu mir zu entwickeln. Was er mit mir machte, begriff er als wohlwollende Anteilnahme, und das nahm ich ihm auch ab. Er war sehr besorgt um mich wie um Mutter und meine Schwestern. Er war, was diesen Punkt anbetrifft, sozusagen ein unangreifbar guter Familienvater.
Warum aber mein Verhältnis zu ihm dennoch gespannt blieb, ich ihn zeitweilig sogar ablehnte, wußte ich nicht. Es war oft schmerzhaft, daß es so war. Ich empfand ihn stets als eine mächtige Person, die hinter mir oder über mir stand, alles beäugte und zu allem, was ich tat, eine wertende und ordnende Erklärung abgab. Zugleich blieb er für mich menschlich ein Unbekannter, jemand, dessen eigenes Denken und Fühlen sich mir nicht öffnete. Er verschloß sich, statt zu erkennen zu geben, wie schwierig für ihn die Rückkehr ins zivile Leben wahrscheinlich war, was ihn vielleicht quälte und wovon er nicht loskam.
Ich habe ihn danach gefragt, wie er sich in Neuengamme gefühlt habe. Und er antwortete mir mit Geschichten aus dem Lagerleben, über Tauschgeschäfte Zigaretten gegen Speck, lange Barackenabende, an denen Karten gespielt wurde, solange die Kerzen brannten, an denen die tollsten Kriegserlebnisse ausgebreitet wurden. Aber Gefühle aus dem Nachdenken darüber, was vorher an diesem Ort des Grauens geschehen war? Nichts. Jedenfalls sprach er nicht darüber.
Ich habe ihn auch danach gefragt, ob er von all diesen Dingen etwas gewußt habe. Er wich aus, deutete an, so etwas sei gerüchteweise gelegentlich durchgedrungen, aber Genaues habe man nicht wissen können. Das wäre alles sehr geheim gehalten worden.
Ich merkte wohl, daß etwas in ihm arbeitete, er war nachdenklich, schwieg oft lange, aber er ließ es nicht raus, nicht mir gegenüber.
Wir haben uns aneinander gewöhnt, Vater und ich. Ich meinerseits lernte es hinzunehmen, wie er auf gewiß gut gemeinte, behütende Weise mich zu leiten versuchte, fand Mittel, ihn im Glauben zu lassen, meinen Lebensweg mitzugestalten. Ich folgte ihm in äußeren Dingen, wahrscheinlich viel zu weit, aber mein Denken und Fühlen verschloß ich gegen ihn. Er seinerseits lernte es hinzunehmen, nur in seltenen Augenblicken etwas über mein Innenleben zu erfahren, von dem ich nur wenig und das auch nur in verstümmelter Form preisgab.
Aber er konnte es nicht lassen, wenn er gerade Spaß daran fand, vor anderen Leuten „seinen Heinrich“ genüßlich „Graf Moltke“ zu titulieren, um meine Schweigsamkeit bloßzustellen.
Lebte er noch, könnte ich ihm dies alles und meine späteren Einsichten und Erlebnisse mitteilen, vielleicht wären wir uns noch einmal, anders, begegnet. Sein Tod 1971 ließ es nicht mehr zu, mit ihm über die Erfahrungen zu reden, die wie ein Symbol des Verschweigens zwischen uns stehen geblieben war: meine Begegnungen mit Überlebenden des Konzentrationslagers Neuengamme.

Neuengamme: ein spätes Nachspiel

   Im Herbst 1978 lernte ich Sergius’ Jaskiewicz, Jan Sarba und Leon Janik in Polen kennen. Sie waren Überlebende des Konzentrationslagers Neuengamme.
In langen Nächten, wenn die Wodka-Flasche auf dem Tisch stand, wenn das Flackern einer Kerze die Gesichter belebte, so daß man in ihnen lesen konnte, wenn die langen Pausen zwischen den stockend geformten Sätzen selbst zu einer Sprache wurden, in solchen langen Nächten erfuhr ich ein wenig über Neuengamme.

   Ich habe an meinen Vater denken müssen. Als er dort damals war, so unmittelbar nach dem Krieg, war er selbst in der Rolle eines Gefangenen und ohne die Möglichkeit, mit einem Überlebenden zu reden, oder besser: ihm zuzuhören. Damals sah er sich sicher genötigt, sein Ungewisses Schicksal zu meistern. Vielleicht war in jenen frühen Tagen der Abstand noch nicht groß genug, Rechenschaft abzulegen für eigenes Verstricktsein oder für wirkliche Unkenntnis und Ahnungslosigkeit. Aber verstrichene Zeit ist auch Zeit des Verdrängens. Und ganz ohne irgendwelche Empfindungen, Fragen oder Nachdenklichkeiten aus solch einer Umgebung heimkehren, kann man das?
Er hat sich ausgeschwiegen, bis an sein Lebensende, ganz so, wie er sich in jene kleinstädtische Welt wieder eingenistet hatte, die ihre Unschuld durch Vergessen oder Verdrängen wiederzugewinnen suchte, die die „Unselige Zeit“ hinter sich brachte wie ein Krebskranker den Operationssaal: schnell raus, nicht mehr dran denken, so tun, als ob nichts gewesen wäre. Was den Ungeist des faschistischen Deutschlands anbetrifft, so fühlte sich Vater wie viele andere als Betrogener. Aber er hat sich wenigstens nicht jenem augenzwinkernden „So schlimm war es nun auch wieder nicht“ angeschlossen, mit dem sich auch heute noch allzu viele Leute Erleichterung für ihr Gewissen verschaffen. Mit der Verharmlosung der Vergangenheit läßt sich kein Staat machen.

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1983, ROLAND-VERLAG, ISBN 3-9800669-3-2

Satz und Druck: Kommanditgesellschaft Roland-Werbung Druckerei GmbH & Co., Bad Bramstedt

Einband: Willy Schacht, Verlagsbuchbinderei, Hamburg/Ahrensburg

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