Vor meinem Vaterhaus steht keine Linde.

In der Bad Bramstedter Mühlenstraße steht das Haus der Familie Stammerjohann, in dem Herr Professor Harro Stammerjohann große Teile seiner Kindheit und Jugend verbracht hat. Auf alten Fotos ist noch sein Vorfahr, der Gefängniswärter Stammerjohann zu sehen.
Heute lebt er mit seiner Frau in Frankfurt, und er hat sich in seinem Berufsleben große Anerkennung als Romanist, Linguist und Wissenschaftshistoriker erworben.
Mit ihm verbindet mich eine nette Freudschaft und ihm verdanke ich viele Informationen zum alten Bramstedt.
Seinen durchaus kritischen Blick auf die Stadt seiner Vorväter hat er zu Papier gebracht und mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Bad Bramstedt, im Januar 2024 / Oktober 2024


In Deutschland soll nach dem Krieg mehr historische Bausubstanz zerstört worden sein als durch den Krieg. Das stimmt jedenfalls für Bad Bramstedt, das vom Bombenkrieg kaum betroffen war (so zerstörerisch der einzige Bombenabwurf und die Explosion eines englischen Munitionsdepots auf dem Schäferberg im Sommer 1945 auch waren) und das doch heute ein typisches Nachkriegsstadtbild bietet. Wolfgang Platte spricht in seiner Geschichte Bramstedts (1988) von der „Zeit der Abbruchsanierung und damit […] jener Bausünden, die dem heutigen Betrachter des Bad Bramstedter Stadtbildes recht schmerzlich ins Auge stechen.“ Sieht man von der Kirche mit der restaurierten Bilderbibel, dem „Schloß“  ̶  ursprünglich das Torhaus eines nicht mehr bestehenden Schlosses  ̶  und der Roland-Statue auf dem Bleeck ab, ist da nichts historisch Gewachsenes mehr. Das Schloickasche Haus im Landweg, angeblich das älteste Haus der Stadt, hätte gewiß nicht wegen seiner Schönheit, vielleicht aber doch wegen seines Alters verdient gehabt, erhalten zu werden. Man hat es verfallen lassen und schließlich abgerissen. Ein Freund, dem ich die Stadt meiner Kindheit zeigte, fand, sie wirke auf ihn kolonial.

Nicht, daß Bad Bramstedt an architektonischen Reizen jemals reich gewesen wäre. Umso mehr hätten das Ensemble aus „Holsteinischem Haus“, dem Paustianschen Wohnhaus (dessen Unscheinbarkeit im Sommer durch blauen Glycinienbewuchs buchstäblich verschleiert wurde) und der Mühle sowie die „Sparkassenvilla“ an der Beeckerbrücke erhaltenbleiben müssen, statt durch ein Hochhaus mit Parkplatz ersetzt zu werden. Dieser Klotz ist die größte Kränkung des Stadtbilds, aber nicht die einzige, denn noch so ein Klotz steht in der Glückstädter Straße und ein dritter gegenüber der Kirche am Kirchenbleeck. Auch das „Rolandseck“, an der Ecke Bleeck und Glückstädter Straße, ist nur noch eine Ahnung dessen, was es einmal war, nachdem aller architektonischer Schmuck wegmodernisiert worden ist, von dem unpassenden nördlichen Anbau gar nicht zu sprechen. Dasselbe Schicksal hat eine einst geradezu märchenhafte Villa in der Rosenstraße erlitten. Auch sie ist bis zur Unkenntlichkeit modernisiert worden, so daß ich sie heute nicht wiederfinde. Alle Zeichen einstigen Bürgerstolzes sind geschleift; die Versatzstücke der Nachkriegsarchitektur, die die Städte (und Landschaften) von Kiel bis Konstanz verschandelt haben, haben auch Bad Bramstedt nicht verschont.

Die Kreisstadt Bad Segeberg, nicht viel größer als Bad Bramstedt, hat ein repräsentatives Kurviertel mit vielen guterhaltenen Villen. Mag sein, daß Bad Segeberg auch durch die Natur begünstigt ist: hügelig, mit zwei Seen und dem Kalkberg und mit den Kuranlagen in der Stadt, nicht außerhalb wie hingegen das Kurhaus Bad Bramstedt. Eine Attraktion, die Bad Segeberg zugutekommt, sind die alljährlichen Karl-May-Festspiele. Was Bad Bramstedt für sich reklamieren kann, sind seine Auen, Gewässer, an denen Spazierwege angelegt sind, und an „Events“ das sommerliche internationale Musikfest und die neuerdings veranstalteten Konzerte airprobt, die die brache Fläche hinter dem Schloß beleben. 

Alles aber, was eine Stadt zur Stadt macht, gibt es in Bad Bramstedt nicht mehr: den Bahnhof, dessen Funktion eine Art Straßenbahnhaltestelle übernommen hat; das Amtsgericht, eine eigene Zeitung, ein Kino, das Postamt – auch das Krankenhaus, denn die Rheumaheilstätte ist nicht das Krankenhaus der Stadt. Zur Verödung der Innenstadt hat auch beigetragen, daß man den „ZOB“, in Wahrheit wieder eine bloße Bushaltestelle, vom Bleeck an den ehemaligen Bahnhof verlegt hat. Hätte man das nicht getan, gäbe es das Traditionsrestaurant „Zum Bramstedter Wappen“ vielleicht noch, in dem man auf einen Bus warten konnte. Ein „systematische[r] Ausbau der bestehenden Fremdenverkehrseinrichtungen“ (Platte) ist für den gelegentlichen Besucher nicht offensichtlich. Wer in der Festschrift 275 Jahre Fleckensgilde Bramstedt von 1949 den Anzeigenteil durchblättert, wundert sich, welche Geschäfte und Dienstleistungen es in Bad Bramstedt einmal gab und heute nicht mehr gibt.

War es Rücksicht auf die Fahrschüler, daß man den Neubau der Jürgen-Fuhlendorf-Schule hinter dem (ehemaligen) Bahnhof versteckt hat? Vom Bahnhof in die Stadt läuft ein junger Mensch nur ein paar Minuten! Wäre auf dem Gelände zwischen Maienbeek und Wiesensteig, wo schon andere Schulen sind, nicht Platz für den Neubau gewesen? Die Jürgen-Fuhlendorf-Schüler hätten zur Belebung der Stadt beigetragen und Buchhandlungen und Schreibwarengeschäfte ernährt. Daß man mit der „Umnutzung“ einer Wiese auch sonst nicht zimperlich war, sieht man an dem Einkaufszentrum am Lohstückerweg.

Die Restaurants, die es noch gibt, schließen früh ihre Küche; von einer Café-Kultur, die diesen Namen verdiente, kann keine Rede sein. Es gibt nicht einmal einen Kiosk, an dem man auch sonntags Zeitungen kaufen könnte. Bad Bramstedt hat ein Kurhaus, aber ein Kurort ist es nicht; tatsächlich ist das 1910 verliehene Attribut „Bad“ postalisch begründet, um Bramstedt von Barmstedt unterscheiden  ̶  nicht medizinisch, denn die Rheumaheilstätte wurde Jahrzehnte danach gebaut. Die Linden, die den holsteinischen Straßen die Anmutung von Alleen gaben, sind durch das Engagement des Stadtchronisten Jan-Uwe Schadendorf in der Altonaer Straße erhaltengeblieben, aber nur dort; auch in der bescheidenen Mühlenstraße, in der ich aufgewachsen bin, wurden sie dem Autoverkehr geopfert, den es dort bis heute kaum gibt.

Die alljährlich erscheinenden, ebenfalls von Schadendorf zusammengestellten Bildkalender Bad Bramstedt in alten Ansichten eignen sich zur Verklärung der Vergangenheit. Sie suggerieren eine kleinstädtische Idylle, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Auch, ob es die Umzüge, Feste und Gelage, von denen diese Kalender zeugen, heute noch gibt, entzieht sich dem nur gelegentlichen Besucher der Stadt. 

Nicht, daß alles so bleiben konnte, wie es war. Die Beeckerbrücke, auf der im November 1945 meine Schwester von einem englischen Besatzungsfahrzeug überfahren wurde und ums Leben kam, wurde später verbreitert, was wiederum den Durchgangsverkehr vermehrte, unter dem das Städtchen bis heute leidet  ̶  trotz Umgehungsstraße. Kurz davor, im August jenen Jahres, war durch einen Spielunfall ein Kind der Familie Soth ums Leben gekommen; die ganze Stadt soll Anteil an der Trauer der Familien genommen haben. Kinder lebten sowieso gefährlich, sei es durch in den Wäldern herumliegende Munition, sei es durch die durch Unterernährung begünstigte Ansteckung mit Tuberkulose.

Meine Erinnerungen an das Kriegsende sind unklar. Was ich erinnere, ist, daß eines Morgens überall Aluminiumstreifen herumlagen, vielleicht 12 cm lang und 4 cm breit. Da niemand wußte, was das war, verboten die Mütter  ̶  Väter gab es nicht mehr, die waren im Krieg  ̶  den Kindern, diese Streifen anzurühren: sie würden explodieren. Das taten sie nicht. Sie wurden von englischen Fliegern abgeworfen, um das Radar der Abwehr zu stören, und wer das wußte, sprach mit Galgenhumor von „Lametta“. Meine Familie, die keinen eigenen Luftschutzkeller hatte, mußte gegen Ende des Krieges in den dicken Mauern des Gefängnisses, das auf der anderen Straßenseite stand, vor den Tieffliegern (deren Ziel gar nicht Bad Bramstedt war, sondern Hamburg) Schutz suchten. Auch nachts, und ich erinnere mich, wie ich einmal die Erwachsenen damit gegen mich aufbrachte, daß ich auf dem Weg zum Gefängnis mit der Taschenlampe spielte und sie befürchteten, daß ich Tiefflieger auf uns aufmerksam machen könnte. Im Gefängnis lief ein Radio, in dem schließlich eine sonore Nachrichtenstimme verkündete: „Morgen früh um 8 werden die Kampfhandlungen eingestellt.“ So oder ähnlich. Das muß am 7. Mai 1945 gewesen sein, denn als Datum der Kapitulation gilt der 8. Mai. Tatsächlich war Bad Bramstedt spätestens seit Anfang Mai von britischen Truppen besetzt. Die Schulen, die die letzten Wochen oder Monate geschlossen gewesen waren, nahmen den Unterricht wieder auf, und Kinder durften wieder draußen spielen.

Und nicht alles, was an Kriegsmaterial in Feld und Wald herumlag, war für Kinder gefährlich, z.B. Benzinkanister nicht. Leer und geschlossen schwammen sie, und Jungen aus der Mühlenstraße waren darauf gekommen, daß man mit ihnen auf der Osterau herumschippern konnte  ̶  bis zu den Schleusengärten, einer schon Anfang des 20. Jahrhunderts angelegten Kleingartenidylle, von der heute um den Kanuanleger herum nicht mehr viel zu sehen ist. Die Kanister band man mit Draht zusammen, befestigte darauf Bretter und stakte mit einer Bohnenstange im Wasser. Schon vier Kanister trugen ein kleineres Kind, aber sechs Kanister waren die Regel. Schwimmen konnte niemand, aber ich erinnere mich an kein Unglück. Das Spiel wurde den Kindern verleidet, als die Kanister sich im aufkommenden Schrotthandel zu Geld machen ließen und die Väter sie den Kindern abschwätzten.

Allem, was in den Auen schwamm, besonders Aalen, wurde nachgestellt: mit selbstgebastelten Angelruten, mit sog. Grundangeln und sogar mit Reusen. Kinder versuchten, vom Ufer aus mit der Hand Neunaugen zu greifen  ̶  aalähnliche, jedenfalls aalglatte Fische, die sich nur mithilfe eines Taschentuchs, das man in die Handfläche legte, greifen ließen.

Ich bin noch vor Kriegsende eingeschult worden. Aus der Fibel habe ich die Parole in Erinnerung: „Heil, Heil, Heil! Heil, Führer, Heil!“ Das Hakenkreuz in den Zeugnisheften wurde nach dem Krieg überklebt. Die pädagogischen Sitten waren auch in den ersten Nachkriegsjahren noch rauh. An und zwischen Kindern gab es Gewalt, die heute nicht mehr zugelassen würde; im Unterricht gehörte der Stock so selbstverständlich zu den Lehrmitteln wie Kreide und Tafellappen, wobei Mädchen weniger zu befürchten hatten als Jungen, die sich in den Pausen auch gegenseitig die Nasen blutig schlugen. Unvergeßlich ist mir ein Konrektor, der den Schulhof mit einem Kasernenhof zu verwechseln schien, wenn er am Ende der Pause die Kinder in Zweierreihen antreten ließ und mit wutrotem Kopf zurück in ihre Klassenräume kommandierte. Glück hatte eine Klasse, die von einer Lehrerin unterrichtet wurde, aber Lehrerinnen waren damals so selten wie heute Lehrer. 

Zu denen, die ich ausnehme, gehört Johannes Daniel. Er war nicht nur ein empathischer Lehrer, sondern auch Organist und Kantor der Kirche und ein weit über Bad Bramstedt hinaus wirkender Kirchenmusiker. In der sog. schlechten Zeit mußte, wer bei ihm Klavierunterricht hatte, im Winter zur Stunde ein paar Briketts mitbringen, damit die Stube geheizt werden konnte. Ist nach Johannes Daniel schon eine Straße oder ein Platz benannt worden? Oder nach Karl Lagerfeld? Nobelpreisträger hat Bad Bramstedt bisher nicht hervorgebracht, aber wenn es einen Nobelpreis für Mode gäbe, hätte Lagerfeld ihn bekommen müssen, der, nachdem die Familie in Hamburg ausgebombt war, einige Jahre in Bissenmoor wohnte und in Bad Bramstedt zur Schule ging. Das Herrenhaus von Gut Bissenmoor, das die Familie Lagerfeld erworben hatte, gibt es nicht mehr; die Abbildung auf Schadendorfs diesjährigem (1924) Kalender zeigt, von welch architektonischen Reiz auch dieses Haus war.   

Als Deutschland besetzt wurde, Norddeutschland von den Engländern, verschwanden die Hitlerbilder von den Wänden, und aus dem roten Tuch der Hakenkreuz-Fahnen, die überall geweht hatten, nähten die Mütter Blusen und Röcke für ihre Kinder. Am Fenster mußte man eine Liste mit den Namen der Hausbewohner aushängen, und Jagdgewehre, Ferngläser und Fotoapparate waren abzuliefern. Vielleicht waren es die konfiszierten Jagdgewehre, mit denen englische Besatzungssoldaten auf Krähen schossen, die in den Bäumen jenseits der Mühlenbrücke saßen und beim ersten Schuß aufflogen.

Nur die englischen Beatzungssoldaten hatten Zigaretten, und Tabak und auch Bohnenkaffee wurden zur Ersatzwährung, als die Reichsmark nichts mehr wert war. Es gab Kinder, die von den Engländern weggeworfene Zigarettenkippen aufsammelten und die Tabakreste ihren Vätern mitbrachten, die sie sich in die Pfeife stopften. 

Flüchtlingstrecks erreichten Bad Bramstedt schon vor Kriegsende. Ich erinnere mich an mit Hausrat beladene Pferdegespanne – Leiterwagen im Unterschied zu den ortsüblichen Kastenwagen –, die eines Morgens parallel nebeneinander vorm Schloß aufgestellt waren. An einige war hinten noch eine Ziege angebunden, die mitgelaufen war. Das Schloß muß allererste Zuflucht gewesen sein. Ich erinnere mich an durch den Raum gespannte Wäscheleinen, an denen Wolldecken hingen, um die Schlafstätten gegeneinander abzuschirmen. Die Einheimischen taten anfangs so, als ginge sie das alles nichts an. „Flichlinge“ nannten sie die Fremden in gehässiger Anspielung auf die Mundarten, in denen ü wie i (und ö wie e) klang. Von den Vorurteilen der Erwachsenen waren die Kinder frei und schlossen schnell Freundschaften mit den Neuen. Bis zu 75 Kinder waren wir vorübergehend in meiner Klasse.

Es kamen nicht nur Bauern und Landarbeiter, sondern auch Ausgebombte und Vertriebene aus großen Städten, die ein urbanes Leben gekannt hatten. Daß sie in ihren Zufluchtsorten zur Entprovinzialisierung beigetragen haben, gilt auch für Bad Bramstedt. Nirgends ist das so deutlich wie im Rückgang des Plattdeutschen, das bis zum Krieg verbreitete Haussprache war und heute nur noch in Floskeln zu hören ist: „So’n Schiet!“ Man spricht Hochdeutsch, norddeutsches Hochdeutsch, und wenn man sich über etwas wundert, sagt man „Dascha gediegen!“. Die Flüchtlinge, die als Erwachsene nach Bad Bramstedt kamen, leben nicht mehr, und ihre Nachkommen sprechen wie alle hier. 

Zu den anderen Mundarten der Flüchtlinge kam die andere Konfession. Bad Bramstedt war evangelisch, die Flüchtlinge z.T. katholisch, und nun waren es Ehen zwischen evangelischen Einheimischen und katholischen Flüchtlingen, die man als Mischehen bezeichnete. Eigens  ̶  und auch gerne namentlich  ̶  erwähne ich die Familie Ewert, die in unser Haus eingewiesen wurde: eine Landarbeiterfamlie aus Westpreußen mit zwei halbwüchsigen Söhnen. Frau Ewert  – Herr Ewert starb bald – begegnete uns Kindern mit einer Zugewandtheit, die wir nicht kannten und die vielleicht auch in ihrem Katholizismus gründete.

Aber traditionell war Bad Bramstedt evangelisch. Wiederum namentlich genannt zu werden verdienen die Diakonissinnen Schwester Anna und Schwester Dora: zwei Gemeindeschwestern, die mit vollkommener Hingabe in Familien halfen, wo Hilfe nötig war: Müttern, Kindern, Alten und Kranken. Zur Kirche ging auch damals nicht mehr jeder jeden Sonntag, nur an christlichen Feiertagen war die Kirche voll. Den Kirchenbesuch ergänzte ein Gang auf den Friedhof zum Gedenken an die Toten der Familie. Damals war Erdbestattung noch die überlieferte Form der Beerdigung, seitdem überwiegt auch in Bad Bramstedt die Urnenbestattung, und immer mehr Gräber sind ganz aufgelöst. Der Friedhof ist kein verläßliches Archiv der Einwohnerschaft mehr.

In der Provinz des Landes, das sich zwölf Jahre lang für die Speerspitze der Zivilisation gehalten hatte, waren die hygienischen Verhältnisse auch nach dem Krieg noch mehr die des 19. Jahrhunderts als des 20. Kanalisation gab es nicht, und die wenigsten Häuser hatten eine eigene sog. Sickergrube. Die Schultoiletten lernte man, nie aufsuchen zu müssen. Auch an eine städtische Müllabfuhr kann ich mich nicht erinnern. Abfälle landeten auf dem Misthaufen im Garten oder wurden in die nächste Au entsorgt. Als wollte sie sich rächen, überspülte die Osterau bei Hochwasser das Ufer vor der Mühle mit massenhaften glitschigen Wollhandkrabben, einer invasiven Art aus China, die dort als Delikatesse gilt, in Europa als Pest. So selten wie Spültoiletten und, meistens in denselben Haushalten, waren Telefone.

Es herrschte eine heute nicht mehr vorstellbare soziale Kontrolle. Jeder wußte, was sich gehörte, und erst recht, was nicht. Tätowiert waren nur Matrosen. Frauen trugen keine Hosen, rauchten nicht und schminkten sich nicht, um nicht als „Tuschkasten“ verrufen zu werden; Männer trugen keinen Zopf, schoben keinen Kinderwagen und kauften nicht ein, jedenfalls nicht im „Kolonialwarenladen“, wie Lebensmittelgeschäfte mitunter noch hießen. Ehescheidungen und uneheliche Geburten waren Katastrophen. Homosexualität gab es nicht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Über manche Umgangsformen lacht man heute. Die Ehefrau des Arztes G. wurde mit Frau (plattdeutsch Fru) Dokter angeredet, und diejenige des Malermeisters B. war Fr(a)u  Malermeister B. Mit dem Arzt G. meine ich Dr. med. Grund, der in einem alten Haus am Anfang der Glückstädter Straße, das nicht mehr steht, wohnte und praktizierte. Telefonische Voranmeldung gab es nicht, und ich erinnere mich an ein ständig überfülltes Wartezimmer und eine heute nicht mehr vorstellbare Verfügbarkeit des Arztes, der noch im wahren Sinne dieses Wortes Hausarzt war. In der Praxis wurden Kinder unter die „Höhensonne“ gelegt, was dem Knochenwachstum bekommen sollte. Wie von vielen Ärzten, die sich für ihre Patienten verausgabten  ̶  von Streß und Burnout sprach man noch nicht  ̶ , hieß es auch von Dr. Grund, er sei Morphinist.

 Die Bezeichnung „Original“ ist gewöhnlich liebevoll gemeint, und in dem Sinne kann ich mich an keine Originale erinnern. Aber stadtbekannte Typen, gab es, z.B. in unserer Nachbarschaft einen Wüterich, der mit der Peitsche nicht nur seine Pferde malträtierte, sondern mitunter auch die Ziehtochter, die in seinem Haus aufwuchs. Stadtbekannt war ein Mann aus dem Butendoor, der auf seinen Botengängen alle paar Meter innehielt, wild mit den Armen fuchtelte, dabei Obszönitäten ausstieß und dann weiterging bis zum nächsten Anfall. Uns Kindern machte er Angst, aber die Erwachsenen wußten, daß er krank war (vermutlich das Tourette-Syndrom), und hatten uns eingeschärft, ihn nicht zu hänseln. Noch eines Mannes sei gedacht, der unter seinem italienischen Vornamen Angelo bekannt war. Er war wohl als Terrazzoleger vor dem Ersten Weltkrieg aus dem Veneto nach Bad Bramstedt gekommen, jedenfalls sprach er, als ich ihn in den 1960er Jahren kennenlernte, plattdeutsch wie alle älteren Bramstedter. Italienische Eisdielen oder gar Restaurants gab es damals in Bad Bramstedt noch nicht, und als ich ihn kennenlernte und ins Italienische wechselte, das er vielleicht Jahrzehnte nicht mehr gehört hatte, kamen ihm Tränen.

 Die Stadt sollte, statt ins Grüne auszuufern und vollends zur Schlafstadt von Hamburg zu werden, Identität zurückgewinnen. Sie muß etwas anbieten, das es woanders nicht gibt: vielleicht einen Musikpavillon hinter dem Schloß, in dem im Sommer sowohl Kammerkonzerte veranstaltet als auch Popmusik aufgeführt würden. Die airprobt-Konzerte gibt es schon. Denkbar wäre auch ein Handwerksmuseum, das bei Aufgabe eines traditionellen Handwerksbetriebs das Werkzeug, das sonst achtlos entsorgt würde, sammelte und ausstellte. Denkbar wäre schließlich ein alljährliches plattdeutsches (akademisch: niederdeutsches) Literaturfest, das nicht nur lebenden Autoren eine Bühne böte, sondern auch das Bewußtsein von der Eigenart und Bedeutung des Plattdeutschen wachhielte, das einmal internationale Amtssprache der Hanse war und auch in der Stadtgeschichte von Bad Bramstedt präsent und für einige, immer weniger, noch die Sprache des Herzens ist.

 

 

 

 

 

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