Dorothea Freudenthal (1889-1963) – Berlins erste Kriminalkommissarin

Frau Dr. jur. Susanne Benöhr-Laqueur, Professorin an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Standort Münster (Homepage: www.sblq.de)  stellte mir freundlicherweise diese Forschungsarbeit zur Erstveröffentlichung zur Verfügung.
Dafür danke ich herzlich.


Bild: Deutsche Digitale Bibliothek/Newspaper – Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Dorothea Freudenthal (1889-1963)

Bürgermeistertochter * Leiterin des Wohlfahrtamtes in Segeberg *

Berlins erste Kriminalkommissarin

 

I. „Die Spur“

Im Jahre 2024 publizierte Nils Hauser seine juristische Dissertation mit dem Titel: „Die Berliner Kriminalpolizei in Republik und Nationalsozialismus“[1]. Im Zuge seiner Recherchen präsentiert er diverse Namen von Kriminalkommissaren, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 ihren Dienst nicht mehr antraten. Diese Liste umfasst 17 Männer und eine Frau, deren Name wie folgt lautete: Dorothea Sommerfeld[2]. Die Vermutung, dass es sich angesichts des Nachnamens um eine „Nichtarierin“ gehandelt haben könnte, die infolge einer „Säuberungsaktion“[3] aus dem Dienst entfernt wurde[4], bewahrheitet sich indes nicht. Dorothea Sommerfelds Mädchenname lautete Freudenthal[5]. Sie stammte aus Bramstedt und war die älteste Tochter des Bürgermeisters Gottlieb Freudenthal[6]. Auf einem Familienbild[7], welches im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts aufgenommen worden sein dürfte, steht sie neben ihrer Mutter. Ein dunkelhaariges, dunkeläugiges, ernstes junges Mädchen, das den Fotografen mit einem sehr wachen Blick aufmerksam taxierte.

II. Die „neue Frau“ in der Weimarer Republik: Unabhängig und berufstätig

Am Ende des Ersten Weltkrieges war Dorothea Freudenthal bereits 28 Jahre alt[8] und leitete seit circa einem Jahr das Wohlfahrtsamt – heute würde man wohl sagen das Jugendamt – in Segeberg[9]. In einem Zeitungsinterview aus dem Jahre 1929 erzählte sie, dass sie einen Einblick in die Aufgaben der Wohlfahrtspflege durch ihre Mutter erhalten habe, die im Vaterländischen Frauenverein tätig gewesen sei[10]:

„Schon früh interessierte ich mich für alle Fragen des sozialen Lebens,. Als junges Mädchen erhielt ich zuerst Einblick in die Aufgaben der Wohlfahrtspflege – durch meine Mutter, die im Vaterländischen Frauenverein tätig war, und die ich auf so manchem Gang begleiten durfte. So lag mir mein Berufsweg schon jung deutlich vor Augen.“[11]

Dass Dorothea Freudenthal sowohl in der Lage als auch Willens war, ihre beruflichen Vorstellungen noch in der Kaiserzeit umzusetzen, zeigte sich daran, dass sie sich im immerhin über 500 km entfernten Frankfurt/ Main zur Jugendpflegerin in der Sozialen Frauenschule[12] ausbilden ließ. Das Frauenseminar für soziale Berufsarbeit in Frankfurt/Main – so der vollständige Name der Institution[13] – war im Jahre 1913 gegründet worden, avancierte aber bereits 1914 zur „Fachschule für soziale Berufsarbeit“[14]. Die 2 ½ jährigen Ausbildung befähigte Frauen in sozialen Bereichen staatlicher, kommunaler und privater Organisationen eine Arbeitsstelle zu finden.[15] Angesichts ihrer Qualifikation übertrug man ihr ab dem Jahre 1917 die Leitung des Wohlfahrtamtes in Segeberg. Dass sich Dorothea Freudenthal ihrer norddeutschen Heimat sehr verbunden fühlte, wird 1929 deutlich, als sie schwärmte:

„Danach war ich neun Jahre hindurch Leiterin des Leiterin des Wohlfahrtsamtes der Stadt Segeberg, in meinem lieben Holsteiner Land.“ [16]

Angesichts dieses Berufsweges ist es nicht verfehlt, sie als willens- und durchsetzungsstark zu charakterisieren[17]. Sie entsprach mithin während der „Goldenen Zwanziger Jahre – obwohl nicht mehr ganz jung – vollumfänglich dem Bild der „neuen Frau“ in der Weimarer Republik, die aufgrund ihrer Berufstätigkeit ein unabhängiges Leben führen konnte. Die neuen Möglichkeiten nutzte sie geschickt. Denn als sie im Jahre 1926 die Stelle einer Kriminalsekretärin in der Millionenstadt Berlin annahm, entschloss sich ihr „eine neue Welt“[18].

III. Die Weibliche Kriminalpolizei in Berlin

Bereits die Etablierung einer „Frauenwohlfahrtpolizei“, mit der Zielrichtung Kinder, Jugendliche und (junge) Frauen vor Gefahren wie Straffälligkeit, Verwahrlosung und/oder Zwangsprostitution zu schützen, war in der Weimarer Republik durchaus umstritten[19]. Während z.B. in Köln das Projekt der Frauenwohlfahrtspolizei 1925 scheiterte, beschritten Baden, Sachsen, Preußen und Hamburg eigene Wege[20]. Am Fortschrittlichsten agierte Preußen, mit der Überlegung eine Weibliche Kriminalpolizei zu etablieren[21]. Die Anwärterinnen mussten eine abgeschlossene Ausbildung als staatliche Wohlfahrtspflegerin vorweisen, zwischen 25 und 39 Jahre alt sein und arbeiteten ausschließlich unter der weiblicher Leitung des Frauendezernates. Sie hatten sich um den Schutz von Frauen und Kindern zu kümmern, sowie um gefährdete Personen. Den Frauen war das Tragen einer Dienstwaffe untersagt[22]. Des Weiteren durchliefen sie eine neunmonatige praktische und theoretische Ausbildung an deren Ende sie zu Kriminalsekretärinnen ernannt und einer Polizeibehörde zugeordnet wurden[23]. Aufstiegschancen boten sich nach weiteren zwei Jahren. Die Dezernatsleitung der Weiblichen Kriminalpolizei oblag der Kriminalrätin Friederike Wieking[24], die Dorothea Freudenthal massiv protegierte[25]. So avancierte sie im Jahre 1929 zur ersten weiblichen Kriminalkommissarin in Berlin, deren Danksagung unüberhörbar ihrer Förderin galt:

„Frau Polizeirat Wieking wurde mir zur verehrten Führerin. Sie war es, die als erste die Bedeutung der weiblichen Polizei auf dem Gebiet der Gefährdetenfürsorge erkannte.“[26]

IV. „Fräulein Sherlock Holmes“, „Detective Supenindendent“, „Frau Kriminalkommissar“oder „Fräulein Kommissär“

Die Ernennung von Dorothea Freudenthal zur ersten Kriminalkommissarin in Berlin fungierte der Auslöser für eine weltweite Berichterstattung. Berlin war, nach New York und London, mit seinen über vier Millionen Einwohnern (sic!) die drittgrößte Stadt der Welt: Eine boomende Metropole mit einer hocheffizient agierende Kriminalpolizei[27], die globale Maßstäbe setzte. Das internationale Interesse an der Berliner Polizeiarbeit im Allgemeinen und an Dorothea Freudenthal im Besonderen, förderten zielsicher ihre Vorgesetzten. Dazu gehörte nicht nur eine ganze Fotoserie im weißen Kleid mit schwarzer Schleife[28] sondern auch eine Fotografie am Schreibtisch, die von der Berliner Polizei bis zum heutigen Tage auf ihrer Website verwendet wird[29]. Dorothea Freudenthal war, daran besteht kein Zweifel, medienwirksam präsentabel. Unisono wird sie als zugänglich, freundlich und mütterlich beschrieben[30]. Darüber hinaus war sie fotogen. Das Stuttgarter Neue Tagblatt und das Neue Wiener Journal entsandten eigens Reporter bzw. eine Reporterin, denen sie Rede und Antwort stand bzw. die sie sogar als Ermittlerin begleiten durften. Darüber hinaus berichteten zahlreiche kurze aber auch ausführliche Artikel in den USA[31], Australien[32], Österreich[33] sowie im gesamte Reichsgebiet[34], dass Deutschland in puncto Gleichberechtigung keineswegs rückständig sei, sondern vielmehr wie New York und London eine Kriminalkommissarin vorweisen könnte[35]. Dabei wurde ihre gesamte Erscheinung einer dezidierten kritischen Berichterstattung unterworfen. So fand René Kraus als Reporter des Neuen Wiener Journals[36] – außerordentlich charmant – die folgenden Worte:

„Dieser jungen Dame ein Geständnis zu machen, muss wirklich ein Vergnügen sein.“[37]

Minni Vrieslander[38] vom Stuttgarter neuen Tagblatt bemerkte zu Dorothea Freudenthal:

“ …zum brünetten Teint stehen die lebhaften schwarzen Augen in harmonischer Verbindung. Charakteristisch die kräftige Nackenlinie – sie deutet auf viel Willenskraft, verrät die Fähigkeit, im Leben energisch zuzugreifen. Das kurz geschnittene Haar in der Mitte gescheitelt, lässt die freie klare Stirn hervortreten.“[39]

Insbesondere die Beschreibung von Teint, Augenfarbe und Haarschnitt gepaart mit einem jüdische klingenden Nachnamen „Freudenthal“ erwies sich als Fehler.

V. Offener Antisemitismus

 Die Kombination von Name, Aussehen und Eloquenz befeuerte die hasserfüllte antisemitische und frauenverachtende Hetze der Nationalsozialisten. So titelte „Der Eiserne Besen“, der in Innsbruck verlegt wurde, im Juli 1929:

„Die Weltpest. Eine Jüdin als Kriminalkommissarin! Das Berliner Polizeipräsidium (Genosse Zörgiebel) hat Fräulein Dorothea Freudenthal zum Kriminalkommissar befördert. Ursprünglich war Frl. Freudenthal in Schleswig=Holstein mehrere Jahre lang Leiterin eines Jugendheimes und dann als Privatsekretärin tätig. Wie man sieht, machen die Jüdinnen Karriere, dieweil christliche deutsche Familienväter stempeln gehen.“[40]

Dass sich Dorothea Freudenthal von diesen Schlagzeilen keineswegs einschüchtern ließ, wird bereits daran deutlich, dass sie in den Jahren 1929/1930 nicht nur in Fachjournalen publizierte[41] sondern auch auf internationalen Kongressen auftrat[42] und dort über die Arbeit der Weibliche Kriminalpolizei referierte. Im Übrigen sind jüdische Vorfahren nicht ersichtlich.

VI. „Frau Sommerfeld“

Im Frühsommer 1930 heiratete Dorothea Freudenthal auf dem Standesamt in Berlin-Spandau ihren sieben Jahre jüngeren Kollegen, den Kriminalkommissar Dr. phil. Herbert Sommerfeld. Das Paar wohnte sodann in den Stadtteilen Berlin-Wilmersdorf und Berlin-Schöneberg[43]. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verließ sie den Kriminaldienst während ihr Ehemann, befördert zum Kriminalrat, als Referatsleiter die „Zentralstelle für kriminalistische Sippenschaftsforschung“ beim Reichskriminalpolizeiamt leitete[44]. Ob ihre enorme nationale und internationale Strahlkraft als erste weibliche Kriminalpolizistin in Berlin für ihr Ausscheiden aus dem Polizeidienst den Ausschlag gab, oder Gerüchte über ihre „rassische“ Herkunft, oder ob das Ehepaar Sommerfeld dem Vorwurf der „Doppelverdienerehe“ entgehen wollte, oder das Verhältnis zu ihrer Vorgesetzten Friederike Wieking schlechter war als kolportiert, bleibt abzuklären. Als im Jahre 1938 ihr Vater im Alter von 90 Jahren verstarb, regelte sie jedenfalls den Nachlass in Bramstedt[45]. Das Ehepaar Sommerfeld dürfte Berlin nach Kriegsende zügig verlassen und in Hamburg seinen Wohnsitz genommen haben. Das geht zumindest aus der Sterbeurkunde von Dr. Herbert Sommerfeld aus dem Oktober 1947 hervor[46]. Dorothea Sommerfeld zog ihrerseits nach Niedersachsen, wo sie 1963 in Goslar verstarb[47].

VII. Forschungslücke

Der Fall „Dorothea Freudenthal-Sommerfeld“ ist in rechtshistorischer, frauenpolitischer und nicht zuletzt kriminalistischer Hinsicht hochinteressant. Völlig ungeklärt ist nicht nur, ob und welcher Tätigkeit sie während der NS-Zeit nachging, sondern auch, wie das Ehepaar nach Hamburg gelangte und unter welchen Umständen Dr. Herbert Sommerfeld zu Tode kam und warum es Dorothea Sommerfeld schließlich bis in den Harz verschlug.


Beitrag von Dr. jur. Susanne Benöhr-Laqueur, Professorin an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Standort Münster (Homepage: www.sblq.de)

[1]Hauser, Nils: Die Berliner Kriminalpolizei in Republik und Nationalsozialismus. Eine rechtshistorische Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Polizeirecht, Strafrecht und Kriminalpolizeipraxis in den Jahren 1925 bis 1937, Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin 2023, Tübingen 2024.

[2]Hauser (Fn 1), S. 216, 217.

[3]Hauser (Fn 1), S. 216.

[4]Hauser (Fn 1), S. 216.

[5]Beweisquelle: Heiratsurkunde Paar Dr. Sommerfeld/Freudenthal vom 14.6.1930, Standesamt Berlin-Spandau, Registereintrag Nr. 292.

[6]Bramstedter Nachrichten: Nachruf auf Bürgermeister Gottlieb Freudenthal, 16.9.1938 in: alt-bramstedt.de, https://www.alt-bramstedt.de/buergermeister-gottlieb-freudenthal (letzter Zugriff am 1.3.2025).

[7]Bramstedter Nachrichten (Fn 6).

[8]Sophia Dorothea Freudenthal (11.4.1889 – 6.10.1963).

[9]Vrieslander, Minni: Frau Kriminalkommissarin erzählt, in: Stuttgarter neues Tageblatt, Beiblatt „Die Frau“, Nummer 12, 19.6.1929, S. 2.

[10]Vrieslander (Fn 9).

[11]Vrieslander (Fn 9).

[12]Vrieslander (Fn 9), Reinicke, Peter: Die Ausbildungsstätten der sozialen Arbeit in Deutschland 1899–1945, Berlin 2012, S. 232 ff.

[13]Reinicke (Fn 9).

[14]Reinicke (Fn 9).

[15]Archivinformationssystem Hessen, https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/showFondsDetails?fondsId=12208 (letzter Zugriff am 1.3.2025).

[16]Vrieslander (Fn 9).

[17]“Freudenthal als ehemalige Leiterin eines Jugendamtes war dominant und durchsetzungsstark”, so die zutreffende Einschätzung von Sören Groß in seiner Dissertation: Friederike Wieking. Fürsorgerin, Polizeiführerin und KZ-Leiterin, Nordhorn 2020, vgl. ders.: Sören Groß: Von der Säuglingsfürsorge zur Leitung der Jugendkonzentrationslager: Friederike Wieking (1891-1958) und die Entwicklung der Weiblichen Kriminalpolizei bis 1945, Dissertation Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena 2021.

[18]Vrieslander (Fn 9).

[19]Blum, Bettina: „Frauenwohlfahrtspolizei“ – „Emma Peels“ – „Winkermiezen“. Frauen in der deutschen Polizei 1903-1970, in: .SIAK-Journal – Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis (Österreich), 2012, S. 74 ff (S. 76), https://www.bmi.gv.at/104/Wissenschaft_und_Forschung/SIAK-Journal/SIAK-Journal-Ausgaben/Jahrgang_2012/files/Blum_2_2012.pdf (letzter Zugriff am 1.3.2025).

[20]Blum (Fn 19).

[21]Blum (Fn 19).

[22]Nienhaus, Ursula: Einsatz für die Sittlichkeit: Die Anfänge der weiblichen Polizei im Wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Lüdtke, Alf (Hrsg.):,Sicherheit‘ und ,Wohlfahrt‘. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1992, S. 243 ff, S. 252.

[23]Nienhaus (Fn 22), S. 260.

[24]Groß (Fn 17), S. 185 ff.

[25]Vrieslander (Fn 9).

[26]Vieslander (Fn 9).

[27]An dieser Stelle wäre insbesondere die Tätigkeit von Ernst Gennat, der Leiter der Mordkommission, zu nennen, vgl.: z.B. Müller, Bettina: Ein echtes Vorbild, in: taz, 18.1.2020, https://taz.de/!5655412/ (letzter Zugriff am 1.3.2025).

[28]Die Bilderserie von Dorothea Freudenthal aus dem Jahre 1929 wurde offenbar von einem Fotografen des Verlagshauses Ullstein erstellt, https://www.gettyimages.com.au/detail/news-photo/dorothea-freudenthal-detective-superindendent-at-the-berlin-news-photo/537148229 (letzter Zugriff am 1.3.2025).

[29]Polizei Berlin (o.J.), Weimarer Republik von 1918-1933, “Kommissarin um 1926”, https://www.berlin.de/polizei/verschiedenes/historie/artikel.88912.php. Die Jahresangabe dürfte verfehlt sein, sie müsste lauten: 1929. (letzter Zugriff am 1.3.2025).

[30]Vrieslander (Fn 9) aber auch Kraus, René: Fräulein Sherlock Holmes, in: Neues Wiener Journal, 28.6.1929.

[31]“Dorothea Freudenthal”,in: The Reading Eagle/ Pennsylvania, 2.7.1929, S. 2; “Berlin´s first women prosecutor”, in: The Salt Lake Tribune/ Utah, 23.6.1929, S. 8 ; “Fraulein Heads Police”, in: The Salt Lake Tribune/ Utah, 5.7.1929, S. 19; “is named commissioner”, in: “St Joseph Gazette/ Missouri, 14.7.1929, S. 8A; “First Women Prosecutor”, in: The Boston Herald/ Massachusetts, 30.6.1929, o.S. statt dessen Rotogravure Section; “Dorothea Freudenthal”, in: The Pocatello Tribune/ Idaho, 30.6.1929, S.8; “Berlin´s Woman cop”, in: The Spokesman Review/ Washington, 30.6.1929, S. 2.

[32]“Dorothea Freudenthal”, in: The World´s News/ Sydney, 21.8.1929, S. 15.

[33]Kraus (Fn 30); “Deutschlands erste Kriminalkommissarin”, in: Neuigkeits-Welt-Blatt/ Wien, 13.6.1929, S. 13 (mit Foto); “Berlin hat seinen ersten weiblichen Kriminalkommissar”, in: Illustrierte-Kronen-Zeitung, 26.7.1929, S. 12; “Fräulein Polizeikommissar”, in: Neues Wiener Tagblatt, 30.7.1929, S. 5 (mit Foto).

[34]“Dorothea Freudenthal”, in: Morgen-Zeitung, 5.6.1929, S. 1 (mit Foto); “Deutschlands erste Kriminalkommissarin”, in: Dortmunder Zeitung, 3.6.1929, S. 1 (mit Foto); “Der erste weibliche Kriminalkommissar, in: Mannheimer Frauen-zeitung, 5.6.1929, S. 5 (mit Foto); “Dorothea Freudenthal”, in: Frauen-Zeitung”, 8.6.1929, S. 1 (mit Foto); “Deutschlands erste Kriminalkommissarin”, in: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 3.6.1929, Drittes Blatt (Mit Foto); “Berlin hat seinen ersten weiblichen Kriminalkommissar”, in: Westfälische Neueste Nachrichten, 4.6.1929, S. 10 (mit Foto); “Fräulein Kriminalkommissar”, in: Westfälische Zeitung, 4.6.1929, S. 1 (mit Foto).

[35]Dr. W.: Weibliche Polizei, in: Hildener Rundschau, 30.7.1929, S. 5 (mit Foto).

[36]Kraus (Fn 30).

[37]Kraus (Fn 30).

[38]Vrieslander (Fn 9).

[39]Vrieslander (Fn 9).

[40]Lüng, Pidder: “Die Weltpest. Eine Jüdin als Kriminalkommissar!, in: Der Eiserne Besen”/ Innsbruck, 13.7.1929, S. 2.

[41]Freudenthal, Dorothea: Zur Täterpsychologie, in: Kriminalistische Monatschrift 1929, Band 3, Heft 4, S. 77-79.

[42]Generalversammlung Internationale Frauenbund, 1930, S. 482.

[43]Dr. phil. Kriminalkommissar Herbert Sommerfeld, Wilmersdorf, Geisenheimer Strasse 35 (T), in: Adressbuch Berlin 1939, S. 2821, https://digital.zlb.de/viewer/image/34115495_1939/2857/ (letzter Zugriff am 1.3.2025) und im Jahre 1941: Dr. phil. Kriminalrat Herberrt Sommerfeld, Eisenacher Strasse 83, in: Adressbuch Berlin 1941, S. 2976, https://digital.zlb.de/viewer/image/34115495_1941/3003/ (letzter Zugriff am 1.3.2025).

[44]Wagner, Patrick: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeption und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1995 u.d.T.: Wagner, Patrick: Kommissar Sisyphus träumt vom letzten Fall, Hamburg 1996, S. 271.

[45]Thomsen, Werner: Der Maienbeeck, in: “www.alt-bramstedt.de”, 9.1.2004, https://www.alt-bramstedt.de/thomsen-der-maienbeeck (letzter Zugriff am 1.3.2025).

[46]Hansestadt Hamburg, Sterbeurkunde vom 3.11.1947, Nr. 783 für Dr. Hubert Herbert Franz Sommerfeld, Sterbedatum: 13.10.1947.

[47]Stadt Goslar, Sterbebucheintrag Nr. 573/1963 für Sophia Dorothea Sommerfeld, geb. Freudenthal, Stadt Goslar, Sterbedatum: 6.10.1963.

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Johann Reimer Struve – Beamter und Dichter

Der Maler und Photograph Julius Struve ist in Bad Bramstedt in guter Erinnerung, ist er doch für die meisten Photographien verantwortlich, die uns heute an das Bramstedt des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts erinnern.

Sein Vater, Johann Reimer Struve, war im damaligen Bramstedt beim Amtsgericht als Sekretär beschäftigt und starb schon in der Mitte seines Lebens im Jahre 1878.

Er verfasste viele Gedichte, die zum Zeitpunkt seines Todes zum Teil veröffentich waren, zum Teil dessen noch harrten.
Seine engsten Freunde trugen diesen Nachlaß zusammen und brachten diese „Kinder seiner Muße“ wie es im Vorwort heißt in Buchform.
Der Erlös war für die Witwe und ihre 5 Kinder gedacht.

Ein Exemplar dieses Buches habe ich vor einigen Jahren antiquariosch erwerben können und es nun gescannt und es ist hier zu lesen.  (eine große Datei 58 MB)

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Stöhr-Bote – Streit in der kommunalen Politik

Bad Bramstedt. Nach dem II. Weltkrieg wurde die Bad Bramstedter Verewaltung von Stadtdirektoren geführt bis zum 23.6.1950 als Heinrich Gebhardt aus Itzehoe zum ersten hauptamtlichen Bürgermeister gewählt wurde.

Im Vorfeld dieser Wahl und der Wahlen zum kommunalen Parlament gab es seinerzeit erheblliche Auseinandersetzungen im Orte.
Auch die Auseinandersetzungen zwischen den alteingesessenen Bewohnern und den vielen Flüchtlingen spielten eine große Rolle.

Das ganze Geschehen habe ich noch nicht ergründen und bearbeiten können, aber allein der 1950 in der Stadt verteilte „Stöhr-Bote“ spricht Bände über den damaligen Riss quer durch die Bad Bramstedter Bevölkerung.
Die Gründung eines „Bürgerschutzbund“ allein ist schon bemerkenswert und ruft nach weiteren Recherchen.

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Ein Bad Bramstedter Rechtsanwalt im Nazi-Regime

Bad Bramstedt. Im Jahr 2021 wurde dem Landtag in Scheswig-Holstein eine Studie übergeben (Drucksache 19/2953) mit dem Titel: Folgestudie: Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität nach 1945 in der schleswig-holsteinischen Legislative und Exekutive – Drucksache 19/684.

Darin wird auch der Lebenslauf des Bad Bramstedter Rechtsanwalts Piepgras dargestellt, der kurz vor Beginn der Nazi-Herrschaft eine Praxis am Ort übernommen hatte (vorher RA Rademacher, Maienbeeck 19). Auch dieser Fall zeigt, wie schnell die Bundesrepublik gerade im öffentlichen Dienst aktive Nazis wieder übernommen hat – bis in höchste Ämter.

Wenn Piepgras in dem Artikel zitiert wird mit den Worten, dass „er sich dem
Druck in einer Kleinstadt wie Bad Bramstedt nicht mehr entziehen können“ , dann sagt das viel über die Zeit und die Bedeutung der Nazis auch in unserem Ort.

In der Studie heißt es:
Heinz-Rudolf Piepgras wurde am 17. Februar 1902 in Neumünster geboren und studierte in Kiel und Freiburg bis 1924 Rechtswissenschaften.408 Seinen Vorbereitungsdienst absolvierte er beim Oberlandesgericht Kiel, arbeitete dann als selbständiger Rechtsanwalt 1928 bis
1936 in Neumünster und Bad Bramstedt. Über seine politische Orientierung in der Weimarer Republik ist nichts bekannt, einer Partei gehörte Piepgras nach eigenen Angaben nicht an.
1933 wurde der Jurist Mitglied der NSDAP und SA, ab 1936 im Rang eines Scharführers. Im November 1936 trat Piepgras in den Staatsdienst ein, wirkte bis 1938 im Reichsarbeitsministerium, danach ein Jahr beim Arbeitsamt in Heide. Mit seinem Wechsel 1939 in das Reichsprotektorat Prag wurde Piepgras zum „Besatzungsakteur“. Bis 1942 leitete er hier die Arbeitsämter Pardubitz und Kladur, bis im Rahmen einer Abordnung die Versetzung in das Ostministerium nach Reval (Estland) erfolgte, wo der Jurist als Referent für den „Arbeitseinsatz“ beim Generalkommissariat wirkte. In dieser Stellung verantwortete Piepgras unter anderem den „Arbeitseinsatz“ estnischer Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen. Im Oktober 1944 trat er als Leiter des Arbeitsamtes Litzmannstadt seine letzte Stellung bis zum Kriegsende an.

Wir ordnen Piepgras aufgrund seiner Besatzungstätigkeit als „in seinem Handeln ausgewiesenen Nationalsozialisten“409 der Grundorientierung „exponiert / nationalsozialistisch“ und hier dem Typen „Besatzungsakteur“ zu.

Piepgras flüchtete 1945 nach Schleswig-Holstein. Hier entließ ihn die Britische Militärregierung aus dem öffentlichen Dienst. Sechs Jahre schlug er sich als Musiker und Gelegenheitsarbeiter durch. Da er einen „Sonderausweis für Kulturschaffende“ benötigte, beantragte Piepgras die Entnazifizierung, erhielt – ausdrücklich nicht für die Tätigkeit als Rechtsanwalt – die Überprüfung und Eingruppierung in Kategorie IV, „Mitläufer“. Zwei Jahre später erfolgte die Umwandlung in Kategorie V, „entlastet“. Im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens gab Piepgras in, wie wir meinen, „abwehrender Distanzierung“410 an, schon 1932 zum Eintritt in die Partei gedrängt worden zu sein. Damals sei er, trotz finanzieller Schwierigkeiten, standhaft geblieben. Nach 1933 habe er sich dem Druck in einer Kleinstadt wie Bad Bramstedt nicht mehr entziehen können. Der Eintritt in die SA sei erfolgt, weil der Leiter der Ortsgruppe ihn ohne Zugehörigkeit zu einer Gliederung nicht in die NSDAP habe aufnehmen wollen.

Im Dezember 1949 lehnte das Landesarbeitsamt seine Wiederverwendung ab. Piepgras wurde in den Wartestand, im November 1951 sogar kurzzeitig in den Ruhestand versetzt, die zweijährige Frist war abgelaufen. Etwa zum gleichen Zeitpunkt erreichte Piepgras eine Anstellung beim Landesversorgungsamt als Vorsitzender eines Beschwerdeausschusses.
Am 18. Mai 1953 wechselte er zum Oberversicherungsamt – später Landessozialgericht – Schleswig. Am 1. August 1956 erfolgte die Ernennung zum Senatspräsidenten. In dieser Funktion wurde Piepgras 1959 zum Fall Heye / Sawade befragt. Er gab an, nur einmal in dienstlicher Beziehung zu dem Gutachter gestanden zu haben. In seiner Dienststelle sei zwar gerüchteweise bekannt gewesen, dass der Mediziner unter falschem Namen lebte, im Fokus hätten aber eher Beschwerden über säumige Gutachten gestanden. Der Untersuchungsausschuss glaubte dem ehemaligen „Besatzungsakteur“: Von der wahren Identität Heydes wollte Piepgras nichts gewusst haben.411

Die von uns aus spezifischen Teilgruppen und Institutionen konstruierte, kombinierte Untersuchungsgruppe „Landessozialverwaltung“ vereint Akteure gesellschaftlicher Oberschichten unterschiedlicher Milieus, nämlich Elitenangehörige aus Verwaltung, Justiz, Wissenschaft und Medizin.
In unserer Typisierung treten die Farbtöne Grau, Grün und Braun fast gleichverteilt auf; das oppositionelle Blau ist kaum erkennbar. Vergleichsweise heterogen erscheinend überwiegt in dieser Gruppe bezogen auf die NS-Zeit eine angepasste, karrieristisch ausgelegte, staatstragende Mitwirkung, die vor allem auch für die größte Teilgruppe – die medizinischen Sachverständigen – gilt.

Der fokussierende Blick auf einzelne Institutionen wie das Sozialministerium und das Landesentschädigungsamt lässt ein ganz anderes Bild entstehen: In diesem dominieren die Ränder. Es sind Spreizungen in die beiden Extreme biografischer NS-Erfahrungen. Sie spiegeln engagierte demokratische Neuanfänge wie ein bereits ab 1950 eintretendes personelles Rollback der belasteten „131er“. Diese gemeinsame Anstellung in den benannten Einrichtungen zwang Menschen mit gegensätzlicher biografischer NS-Erfahrung zur Kooperation. Die Entwicklung drückte sich auch politisch aus: Bildeten anfangs Entschädigung und Wiedergutmachung für erlittenes NS-Unrecht ein Zentrum der Arbeit in der Landessozialverwaltung, so galt in den 1950er Jahren das sozialpolitische Engagement der Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen und nicht zuletzt auch der breiten Reintegration der „131er“.

Der Wandel lässt sich an biografischen Beispielen verdeutlichen, wir haben es anhand des Wechsels auf der ministeriellen Spitze von Kurt Pohle (1946–1949) zu Hans-Adolf Asbach (1950–1957) und seinem Staatssekretär Hans-Werner Otto (1950–1967), die beide hochverstrickt in den Holocaust und Besatzungsmaßnahmen waren, deutlich gemacht. Auch der Konflikt um den engagierten Leiter des Landesentschädigungsamts Hans Sievers und dessen Ablösung durch Karl-August Zornig, einen „Verfolgungsakteur Variante B“, kann als Symbol stehen. Schließlich hat ein kursorischer biografischer Blick in das Tableau des Landessozialgerichtes deutlich werden lassen, welch ein Milieu den Ausgangspunkt der Heyde-Sawade-Affäre bildete.

Der in der Forschung betonte „Sieg der Sparsamkeit“ (Scharffenberg) im Umgang mit ehemaligen NS-Opfern wurde verantwortet von einschlägigen Personalkörpern in Ministerium und Verwaltung und von medizinischen Gutachtern und Gutachterinnen sowie nicht zuletzt auch vom Landessozialgericht selbst. Die in dieser Studie gesondert vorgenommene Betrachtung von Gutachtertätigkeiten412 korrespondiert mit dem kollektivbiografischen Befund. Eingehendere Analysen für diesen Bereich, so müssen wir annehmen, dürften die These bestätigen, dass in diesem Fall biografische Vorerfahrungen während der NS-Zeit tatsächlich auch Folgen im professionellen Handeln zeitigten.

In diesen Kreisen fand auch die Heyde-Sawade-Affäre ihre Bühne und gesellschaftliche Einbettung: Der Medizinprofessor und Massenmörder konnte sich über ein Jahrzehnt des Schutzes seiner verdeckten Identität sicher sein; das verorten wir als Kern des Skandals. Bei genauerer Betrachtung passt der Befund unserer Typisierung erkennbar zur Affäre, ja kann sogar teilweise zur Erklärung für das kaum glaubhafte Geschehen dienen. Die berufsbiografisch übereinstimmenden oder doch ähnlichen Erfahrungen dieser Elitenangehörigen aus Medizin, Wissenschaft, Justiz und Verwaltung verhinderten, gegen einen aus ihren Kreisen vorzugehen.

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408 Piepgras, Heinz-Rudolf, geb. am 17.02.1902, U.-Gruppe: Landessozialgericht, Beruf: Richter, GO: exponiert nationalsozialistisch, Typ: Besatzungsakteur_in, Pol. Orient. WR: Unklar/keine Infos/zu jung, Bruch 1945: Behinderung im Fortkommen, Quellendichte: Befriedigend.
409 Vgl. Legende der Datenbank im Anhang, S. L14f.
410 Vgl. Legende der Datenbank im Anhang, S. L33.
411 Vgl. Godau-Schüttke: Heyde/Sawade-Affäre (Anm. 49), S. 171
412 Vgl. Waitzmann: Medizinische Sachverständige; Beitrag in dieser Studie.

Personennachweise: LASH Abt. 786/Nr. 203; BArch R 3001/70787; BArch R 9361-VIII Kartei/15610109; LASH
Abt. 460.21/Nr. 163; BStU MfS AP 839/65; BArch R Neuer Bestand/ZD I 3414; BArch B 162/5106.

 

 

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Vor meinem Vaterhaus steht keine Linde.

In der Bad Bramstedter Mühlenstraße steht das Haus der Familie Stammerjohann, in dem Herr Professor Harro Stammerjohann große Teile seiner Kindheit und Jugend verbracht hat. Auf alten Fotos ist noch sein Vorfahr, der Gefängniswärter Stammerjohann zu sehen.
Heute lebt er mit seiner Frau in Frankfurt, und er hat sich in seinem Berufsleben große Anerkennung als Romanist, Linguist und Wissenschaftshistoriker erworben.
Mit ihm verbindet mich eine nette Freudschaft und ihm verdanke ich viele Informationen zum alten Bramstedt.
Seinen durchaus kritischen Blick auf die Stadt seiner Vorväter hat er zu Papier gebracht und mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Bad Bramstedt, im Januar 2024 / Oktober 2024


In Deutschland soll nach dem Krieg mehr historische Bausubstanz zerstört worden sein als durch den Krieg. Das stimmt jedenfalls für Bad Bramstedt, das vom Bombenkrieg kaum betroffen war (so zerstörerisch der einzige Bombenabwurf und die Explosion eines englischen Munitionsdepots auf dem Schäferberg im Sommer 1945 auch waren) und das doch heute ein typisches Nachkriegsstadtbild bietet. Wolfgang Platte spricht in seiner Geschichte Bramstedts (1988) von der „Zeit der Abbruchsanierung und damit […] jener Bausünden, die dem heutigen Betrachter des Bad Bramstedter Stadtbildes recht schmerzlich ins Auge stechen.“ Sieht man von der Kirche mit der restaurierten Bilderbibel, dem „Schloß“  ̶  ursprünglich das Torhaus eines nicht mehr bestehenden Schlosses  ̶  und der Roland-Statue auf dem Bleeck ab, ist da nichts historisch Gewachsenes mehr. Das Schloickasche Haus im Landweg, angeblich das älteste Haus der Stadt, hätte gewiß nicht wegen seiner Schönheit, vielleicht aber doch wegen seines Alters verdient gehabt, erhalten zu werden. Man hat es verfallen lassen und schließlich abgerissen. Ein Freund, dem ich die Stadt meiner Kindheit zeigte, fand, sie wirke auf ihn kolonial.

Nicht, daß Bad Bramstedt an architektonischen Reizen jemals reich gewesen wäre. Umso mehr hätten das Ensemble aus „Holsteinischem Haus“, dem Paustianschen Wohnhaus (dessen Unscheinbarkeit im Sommer durch blauen Glycinienbewuchs buchstäblich verschleiert wurde) und der Mühle sowie die „Sparkassenvilla“ an der Beeckerbrücke erhaltenbleiben müssen, statt durch ein Hochhaus mit Parkplatz ersetzt zu werden. Dieser Klotz ist die größte Kränkung des Stadtbilds, aber nicht die einzige, denn noch so ein Klotz steht in der Glückstädter Straße und ein dritter gegenüber der Kirche am Kirchenbleeck. Auch das „Rolandseck“, an der Ecke Bleeck und Glückstädter Straße, ist nur noch eine Ahnung dessen, was es einmal war, nachdem aller architektonischer Schmuck wegmodernisiert worden ist, von dem unpassenden nördlichen Anbau gar nicht zu sprechen. Dasselbe Schicksal hat eine einst geradezu märchenhafte Villa in der Rosenstraße erlitten. Auch sie ist bis zur Unkenntlichkeit modernisiert worden, so daß ich sie heute nicht wiederfinde. Alle Zeichen einstigen Bürgerstolzes sind geschleift; die Versatzstücke der Nachkriegsarchitektur, die die Städte (und Landschaften) von Kiel bis Konstanz verschandelt haben, haben auch Bad Bramstedt nicht verschont.

Die Kreisstadt Bad Segeberg, nicht viel größer als Bad Bramstedt, hat ein repräsentatives Kurviertel mit vielen guterhaltenen Villen. Mag sein, daß Bad Segeberg auch durch die Natur begünstigt ist: hügelig, mit zwei Seen und dem Kalkberg und mit den Kuranlagen in der Stadt, nicht außerhalb wie hingegen das Kurhaus Bad Bramstedt. Eine Attraktion, die Bad Segeberg zugutekommt, sind die alljährlichen Karl-May-Festspiele. Was Bad Bramstedt für sich reklamieren kann, sind seine Auen, Gewässer, an denen Spazierwege angelegt sind, und an „Events“ das sommerliche internationale Musikfest und die neuerdings veranstalteten Konzerte airprobt, die die brache Fläche hinter dem Schloß beleben. 

Alles aber, was eine Stadt zur Stadt macht, gibt es in Bad Bramstedt nicht mehr: den Bahnhof, dessen Funktion eine Art Straßenbahnhaltestelle übernommen hat; das Amtsgericht, eine eigene Zeitung, ein Kino, das Postamt – auch das Krankenhaus, denn die Rheumaheilstätte ist nicht das Krankenhaus der Stadt. Zur Verödung der Innenstadt hat auch beigetragen, daß man den „ZOB“, in Wahrheit wieder eine bloße Bushaltestelle, vom Bleeck an den ehemaligen Bahnhof verlegt hat. Hätte man das nicht getan, gäbe es das Traditionsrestaurant „Zum Bramstedter Wappen“ vielleicht noch, in dem man auf einen Bus warten konnte. Ein „systematische[r] Ausbau der bestehenden Fremdenverkehrseinrichtungen“ (Platte) ist für den gelegentlichen Besucher nicht offensichtlich. Wer in der Festschrift 275 Jahre Fleckensgilde Bramstedt von 1949 den Anzeigenteil durchblättert, wundert sich, welche Geschäfte und Dienstleistungen es in Bad Bramstedt einmal gab und heute nicht mehr gibt.

War es Rücksicht auf die Fahrschüler, daß man den Neubau der Jürgen-Fuhlendorf-Schule hinter dem (ehemaligen) Bahnhof versteckt hat? Vom Bahnhof in die Stadt läuft ein junger Mensch nur ein paar Minuten! Wäre auf dem Gelände zwischen Maienbeek und Wiesensteig, wo schon andere Schulen sind, nicht Platz für den Neubau gewesen? Die Jürgen-Fuhlendorf-Schüler hätten zur Belebung der Stadt beigetragen und Buchhandlungen und Schreibwarengeschäfte ernährt. Daß man mit der „Umnutzung“ einer Wiese auch sonst nicht zimperlich war, sieht man an dem Einkaufszentrum am Lohstückerweg.

Die Restaurants, die es noch gibt, schließen früh ihre Küche; von einer Café-Kultur, die diesen Namen verdiente, kann keine Rede sein. Es gibt nicht einmal einen Kiosk, an dem man auch sonntags Zeitungen kaufen könnte. Bad Bramstedt hat ein Kurhaus, aber ein Kurort ist es nicht; tatsächlich ist das 1910 verliehene Attribut „Bad“ postalisch begründet, um Bramstedt von Barmstedt unterscheiden  ̶  nicht medizinisch, denn die Rheumaheilstätte wurde Jahrzehnte danach gebaut. Die Linden, die den holsteinischen Straßen die Anmutung von Alleen gaben, sind durch das Engagement des Stadtchronisten Jan-Uwe Schadendorf in der Altonaer Straße erhaltengeblieben, aber nur dort; auch in der bescheidenen Mühlenstraße, in der ich aufgewachsen bin, wurden sie dem Autoverkehr geopfert, den es dort bis heute kaum gibt.

Die alljährlich erscheinenden, ebenfalls von Schadendorf zusammengestellten Bildkalender Bad Bramstedt in alten Ansichten eignen sich zur Verklärung der Vergangenheit. Sie suggerieren eine kleinstädtische Idylle, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Auch, ob es die Umzüge, Feste und Gelage, von denen diese Kalender zeugen, heute noch gibt, entzieht sich dem nur gelegentlichen Besucher der Stadt. 

Nicht, daß alles so bleiben konnte, wie es war. Die Beeckerbrücke, auf der im November 1945 meine Schwester von einem englischen Besatzungsfahrzeug überfahren wurde und ums Leben kam, wurde später verbreitert, was wiederum den Durchgangsverkehr vermehrte, unter dem das Städtchen bis heute leidet  ̶  trotz Umgehungsstraße. Kurz davor, im August jenen Jahres, war durch einen Spielunfall ein Kind der Familie Soth ums Leben gekommen; die ganze Stadt soll Anteil an der Trauer der Familien genommen haben. Kinder lebten sowieso gefährlich, sei es durch in den Wäldern herumliegende Munition, sei es durch die durch Unterernährung begünstigte Ansteckung mit Tuberkulose.

Meine Erinnerungen an das Kriegsende sind unklar. Was ich erinnere, ist, daß eines Morgens überall Aluminiumstreifen herumlagen, vielleicht 12 cm lang und 4 cm breit. Da niemand wußte, was das war, verboten die Mütter  ̶  Väter gab es nicht mehr, die waren im Krieg  ̶  den Kindern, diese Streifen anzurühren: sie würden explodieren. Das taten sie nicht. Sie wurden von englischen Fliegern abgeworfen, um das Radar der Abwehr zu stören, und wer das wußte, sprach mit Galgenhumor von „Lametta“. Meine Familie, die keinen eigenen Luftschutzkeller hatte, mußte gegen Ende des Krieges in den dicken Mauern des Gefängnisses, das auf der anderen Straßenseite stand, vor den Tieffliegern (deren Ziel gar nicht Bad Bramstedt war, sondern Hamburg) Schutz suchten. Auch nachts, und ich erinnere mich, wie ich einmal die Erwachsenen damit gegen mich aufbrachte, daß ich auf dem Weg zum Gefängnis mit der Taschenlampe spielte und sie befürchteten, daß ich Tiefflieger auf uns aufmerksam machen könnte. Im Gefängnis lief ein Radio, in dem schließlich eine sonore Nachrichtenstimme verkündete: „Morgen früh um 8 werden die Kampfhandlungen eingestellt.“ So oder ähnlich. Das muß am 7. Mai 1945 gewesen sein, denn als Datum der Kapitulation gilt der 8. Mai. Tatsächlich war Bad Bramstedt spätestens seit Anfang Mai von britischen Truppen besetzt. Die Schulen, die die letzten Wochen oder Monate geschlossen gewesen waren, nahmen den Unterricht wieder auf, und Kinder durften wieder draußen spielen.

Und nicht alles, was an Kriegsmaterial in Feld und Wald herumlag, war für Kinder gefährlich, z.B. Benzinkanister nicht. Leer und geschlossen schwammen sie, und Jungen aus der Mühlenstraße waren darauf gekommen, daß man mit ihnen auf der Osterau herumschippern konnte  ̶  bis zu den Schleusengärten, einer schon Anfang des 20. Jahrhunderts angelegten Kleingartenidylle, von der heute um den Kanuanleger herum nicht mehr viel zu sehen ist. Die Kanister band man mit Draht zusammen, befestigte darauf Bretter und stakte mit einer Bohnenstange im Wasser. Schon vier Kanister trugen ein kleineres Kind, aber sechs Kanister waren die Regel. Schwimmen konnte niemand, aber ich erinnere mich an kein Unglück. Das Spiel wurde den Kindern verleidet, als die Kanister sich im aufkommenden Schrotthandel zu Geld machen ließen und die Väter sie den Kindern abschwätzten.

Allem, was in den Auen schwamm, besonders Aalen, wurde nachgestellt: mit selbstgebastelten Angelruten, mit sog. Grundangeln und sogar mit Reusen. Kinder versuchten, vom Ufer aus mit der Hand Neunaugen zu greifen  ̶  aalähnliche, jedenfalls aalglatte Fische, die sich nur mithilfe eines Taschentuchs, das man in die Handfläche legte, greifen ließen.

Ich bin noch vor Kriegsende eingeschult worden. Aus der Fibel habe ich die Parole in Erinnerung: „Heil, Heil, Heil! Heil, Führer, Heil!“ Das Hakenkreuz in den Zeugnisheften wurde nach dem Krieg überklebt. Die pädagogischen Sitten waren auch in den ersten Nachkriegsjahren noch rauh. An und zwischen Kindern gab es Gewalt, die heute nicht mehr zugelassen würde; im Unterricht gehörte der Stock so selbstverständlich zu den Lehrmitteln wie Kreide und Tafellappen, wobei Mädchen weniger zu befürchten hatten als Jungen, die sich in den Pausen auch gegenseitig die Nasen blutig schlugen. Unvergeßlich ist mir ein Konrektor, der den Schulhof mit einem Kasernenhof zu verwechseln schien, wenn er am Ende der Pause die Kinder in Zweierreihen antreten ließ und mit wutrotem Kopf zurück in ihre Klassenräume kommandierte. Glück hatte eine Klasse, die von einer Lehrerin unterrichtet wurde, aber Lehrerinnen waren damals so selten wie heute Lehrer. 

Zu denen, die ich ausnehme, gehört Johannes Daniel. Er war nicht nur ein empathischer Lehrer, sondern auch Organist und Kantor der Kirche und ein weit über Bad Bramstedt hinaus wirkender Kirchenmusiker. In der sog. schlechten Zeit mußte, wer bei ihm Klavierunterricht hatte, im Winter zur Stunde ein paar Briketts mitbringen, damit die Stube geheizt werden konnte. Ist nach Johannes Daniel schon eine Straße oder ein Platz benannt worden? Oder nach Karl Lagerfeld? Nobelpreisträger hat Bad Bramstedt bisher nicht hervorgebracht, aber wenn es einen Nobelpreis für Mode gäbe, hätte Lagerfeld ihn bekommen müssen, der, nachdem die Familie in Hamburg ausgebombt war, einige Jahre in Bissenmoor wohnte und in Bad Bramstedt zur Schule ging. Das Herrenhaus von Gut Bissenmoor, das die Familie Lagerfeld erworben hatte, gibt es nicht mehr; die Abbildung auf Schadendorfs diesjährigem (1924) Kalender zeigt, von welch architektonischen Reiz auch dieses Haus war.   

Als Deutschland besetzt wurde, Norddeutschland von den Engländern, verschwanden die Hitlerbilder von den Wänden, und aus dem roten Tuch der Hakenkreuz-Fahnen, die überall geweht hatten, nähten die Mütter Blusen und Röcke für ihre Kinder. Am Fenster mußte man eine Liste mit den Namen der Hausbewohner aushängen, und Jagdgewehre, Ferngläser und Fotoapparate waren abzuliefern. Vielleicht waren es die konfiszierten Jagdgewehre, mit denen englische Besatzungssoldaten auf Krähen schossen, die in den Bäumen jenseits der Mühlenbrücke saßen und beim ersten Schuß aufflogen.

Nur die englischen Beatzungssoldaten hatten Zigaretten, und Tabak und auch Bohnenkaffee wurden zur Ersatzwährung, als die Reichsmark nichts mehr wert war. Es gab Kinder, die von den Engländern weggeworfene Zigarettenkippen aufsammelten und die Tabakreste ihren Vätern mitbrachten, die sie sich in die Pfeife stopften. 

Flüchtlingstrecks erreichten Bad Bramstedt schon vor Kriegsende. Ich erinnere mich an mit Hausrat beladene Pferdegespanne – Leiterwagen im Unterschied zu den ortsüblichen Kastenwagen –, die eines Morgens parallel nebeneinander vorm Schloß aufgestellt waren. An einige war hinten noch eine Ziege angebunden, die mitgelaufen war. Das Schloß muß allererste Zuflucht gewesen sein. Ich erinnere mich an durch den Raum gespannte Wäscheleinen, an denen Wolldecken hingen, um die Schlafstätten gegeneinander abzuschirmen. Die Einheimischen taten anfangs so, als ginge sie das alles nichts an. „Flichlinge“ nannten sie die Fremden in gehässiger Anspielung auf die Mundarten, in denen ü wie i (und ö wie e) klang. Von den Vorurteilen der Erwachsenen waren die Kinder frei und schlossen schnell Freundschaften mit den Neuen. Bis zu 75 Kinder waren wir vorübergehend in meiner Klasse.

Es kamen nicht nur Bauern und Landarbeiter, sondern auch Ausgebombte und Vertriebene aus großen Städten, die ein urbanes Leben gekannt hatten. Daß sie in ihren Zufluchtsorten zur Entprovinzialisierung beigetragen haben, gilt auch für Bad Bramstedt. Nirgends ist das so deutlich wie im Rückgang des Plattdeutschen, das bis zum Krieg verbreitete Haussprache war und heute nur noch in Floskeln zu hören ist: „So’n Schiet!“ Man spricht Hochdeutsch, norddeutsches Hochdeutsch, und wenn man sich über etwas wundert, sagt man „Dascha gediegen!“. Die Flüchtlinge, die als Erwachsene nach Bad Bramstedt kamen, leben nicht mehr, und ihre Nachkommen sprechen wie alle hier. 

Zu den anderen Mundarten der Flüchtlinge kam die andere Konfession. Bad Bramstedt war evangelisch, die Flüchtlinge z.T. katholisch, und nun waren es Ehen zwischen evangelischen Einheimischen und katholischen Flüchtlingen, die man als Mischehen bezeichnete. Eigens  ̶  und auch gerne namentlich  ̶  erwähne ich die Familie Ewert, die in unser Haus eingewiesen wurde: eine Landarbeiterfamlie aus Westpreußen mit zwei halbwüchsigen Söhnen. Frau Ewert  – Herr Ewert starb bald – begegnete uns Kindern mit einer Zugewandtheit, die wir nicht kannten und die vielleicht auch in ihrem Katholizismus gründete.

Aber traditionell war Bad Bramstedt evangelisch. Wiederum namentlich genannt zu werden verdienen die Diakonissinnen Schwester Anna und Schwester Dora: zwei Gemeindeschwestern, die mit vollkommener Hingabe in Familien halfen, wo Hilfe nötig war: Müttern, Kindern, Alten und Kranken. Zur Kirche ging auch damals nicht mehr jeder jeden Sonntag, nur an christlichen Feiertagen war die Kirche voll. Den Kirchenbesuch ergänzte ein Gang auf den Friedhof zum Gedenken an die Toten der Familie. Damals war Erdbestattung noch die überlieferte Form der Beerdigung, seitdem überwiegt auch in Bad Bramstedt die Urnenbestattung, und immer mehr Gräber sind ganz aufgelöst. Der Friedhof ist kein verläßliches Archiv der Einwohnerschaft mehr.

In der Provinz des Landes, das sich zwölf Jahre lang für die Speerspitze der Zivilisation gehalten hatte, waren die hygienischen Verhältnisse auch nach dem Krieg noch mehr die des 19. Jahrhunderts als des 20. Kanalisation gab es nicht, und die wenigsten Häuser hatten eine eigene sog. Sickergrube. Die Schultoiletten lernte man, nie aufsuchen zu müssen. Auch an eine städtische Müllabfuhr kann ich mich nicht erinnern. Abfälle landeten auf dem Misthaufen im Garten oder wurden in die nächste Au entsorgt. Als wollte sie sich rächen, überspülte die Osterau bei Hochwasser das Ufer vor der Mühle mit massenhaften glitschigen Wollhandkrabben, einer invasiven Art aus China, die dort als Delikatesse gilt, in Europa als Pest. So selten wie Spültoiletten und, meistens in denselben Haushalten, waren Telefone.

Es herrschte eine heute nicht mehr vorstellbare soziale Kontrolle. Jeder wußte, was sich gehörte, und erst recht, was nicht. Tätowiert waren nur Matrosen. Frauen trugen keine Hosen, rauchten nicht und schminkten sich nicht, um nicht als „Tuschkasten“ verrufen zu werden; Männer trugen keinen Zopf, schoben keinen Kinderwagen und kauften nicht ein, jedenfalls nicht im „Kolonialwarenladen“, wie Lebensmittelgeschäfte mitunter noch hießen. Ehescheidungen und uneheliche Geburten waren Katastrophen. Homosexualität gab es nicht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Über manche Umgangsformen lacht man heute. Die Ehefrau des Arztes G. wurde mit Frau (plattdeutsch Fru) Dokter angeredet, und diejenige des Malermeisters B. war Fr(a)u  Malermeister B. Mit dem Arzt G. meine ich Dr. med. Grund, der in einem alten Haus am Anfang der Glückstädter Straße, das nicht mehr steht, wohnte und praktizierte. Telefonische Voranmeldung gab es nicht, und ich erinnere mich an ein ständig überfülltes Wartezimmer und eine heute nicht mehr vorstellbare Verfügbarkeit des Arztes, der noch im wahren Sinne dieses Wortes Hausarzt war. In der Praxis wurden Kinder unter die „Höhensonne“ gelegt, was dem Knochenwachstum bekommen sollte. Wie von vielen Ärzten, die sich für ihre Patienten verausgabten  ̶  von Streß und Burnout sprach man noch nicht  ̶ , hieß es auch von Dr. Grund, er sei Morphinist.

 Die Bezeichnung „Original“ ist gewöhnlich liebevoll gemeint, und in dem Sinne kann ich mich an keine Originale erinnern. Aber stadtbekannte Typen, gab es, z.B. in unserer Nachbarschaft einen Wüterich, der mit der Peitsche nicht nur seine Pferde malträtierte, sondern mitunter auch die Ziehtochter, die in seinem Haus aufwuchs. Stadtbekannt war ein Mann aus dem Butendoor, der auf seinen Botengängen alle paar Meter innehielt, wild mit den Armen fuchtelte, dabei Obszönitäten ausstieß und dann weiterging bis zum nächsten Anfall. Uns Kindern machte er Angst, aber die Erwachsenen wußten, daß er krank war (vermutlich das Tourette-Syndrom), und hatten uns eingeschärft, ihn nicht zu hänseln. Noch eines Mannes sei gedacht, der unter seinem italienischen Vornamen Angelo bekannt war. Er war wohl als Terrazzoleger vor dem Ersten Weltkrieg aus dem Veneto nach Bad Bramstedt gekommen, jedenfalls sprach er, als ich ihn in den 1960er Jahren kennenlernte, plattdeutsch wie alle älteren Bramstedter. Italienische Eisdielen oder gar Restaurants gab es damals in Bad Bramstedt noch nicht, und als ich ihn kennenlernte und ins Italienische wechselte, das er vielleicht Jahrzehnte nicht mehr gehört hatte, kamen ihm Tränen.

 Die Stadt sollte, statt ins Grüne auszuufern und vollends zur Schlafstadt von Hamburg zu werden, Identität zurückgewinnen. Sie muß etwas anbieten, das es woanders nicht gibt: vielleicht einen Musikpavillon hinter dem Schloß, in dem im Sommer sowohl Kammerkonzerte veranstaltet als auch Popmusik aufgeführt würden. Die airprobt-Konzerte gibt es schon. Denkbar wäre auch ein Handwerksmuseum, das bei Aufgabe eines traditionellen Handwerksbetriebs das Werkzeug, das sonst achtlos entsorgt würde, sammelte und ausstellte. Denkbar wäre schließlich ein alljährliches plattdeutsches (akademisch: niederdeutsches) Literaturfest, das nicht nur lebenden Autoren eine Bühne böte, sondern auch das Bewußtsein von der Eigenart und Bedeutung des Plattdeutschen wachhielte, das einmal internationale Amtssprache der Hanse war und auch in der Stadtgeschichte von Bad Bramstedt präsent und für einige, immer weniger, noch die Sprache des Herzens ist.

 

 

 

 

 

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Todesmarsch April 1945 vom KZ Hamburg-Fuhlsbüttel

Gegen Ende des Krieges vom 12. bis 15. April des Jahres 1945 mussten etwa 800 Menschen am Todesmarsch aus dem Konzentrationslager Hamburg-Fuhlsbüttel in das  Arbeitserziehungslager Nordmark“ in Kiel-Hassee teilnehmen. Die SS erschoss auf diesem Todesmarsch mindestens 8 Marschteilnehmer am Wegesrand … einen davon an den Mergelkuhlen in Bad Bramstedt, der heute einen Grabstein auf dem alten Friedhof in Bad Bramstedt hat.

Im den letzten Jahren ist es Mitgliedern  der Biografie-Arbeitsgruppe und dem Schleswig-Holsteinischem Heimatbund gelungen, zur Erinnerung mehrere Gedenktafeln zur diesen Ereignissen zu installieren. Eine davon steht an den Mergelkuhlen.

Der leider viel zu früh verstorbene Heinrich Kautzky war der Motor dieser Aufarbeitung entlang der Chaussee und es war mir eine Freude, ein Stück dieses Weges mit ihm gehen zu können. Zudem hat er mich animiert an dem Buch über die Altona-Kieler-Chaussee mitzuwirken. Diese Straße war Schauplatz vieler Ereignisse des Todesmarsches.

Zu diesem furchtbaren Teil unserer deutschen Geschichte gibt es mehrere Ausarbeitungen und Fundstellen im Netz.

Uwe Fentsahm „Der Evakuierungsmarsch“

Rundbrief 2 der Arbeitsgruppe

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Broschüre 75 Jahre Bad Bramstedt ( 1985 )

Bad Bramstedt. Zum 75 jährigen Stadtjubiläum druckte die Roland-Werbung (Herausgeber des „Donnerstags-Anzeiger“ ) einen Sonderdruck, der an alle Haushalte verteilt wurde.

Die Broschüre als pdf findet sich hier zum Herunterladen.

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Einweihung des Rathaus(anbau)es 1989 – Festschrift

Im Jahre 1989 wurde der hofseitige Anbau an das Rathaus am Bleeck fertiggestellt und ebenso die Modernisierung des Altbaues.
Aus diesem Anlass wurde eine Festschrift erstellt. die den Werdegang deutlich macht. Sie ist hier als pdf verknüpft.

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Wolfgang Platte: Das Bramstedter Rathaus — Spiegelbild der Geschichte der regionalen Selbstverwaltung im Herzogtum Holstein

aus dem Heimatkundlichen Jahrbuch des Kreises Segeberg 1989 S. 29ff

In der ältesten Bramstedter Fleckensurkunde aus dem Jahre 1448 taucht die Bezeich­nung „Bürgermeister und Ratmänner des Wickbildes Bramstedt“ erstmals auf. Mit Hilfe dieser Amts- bzw. Ortsbezeichnung kann der Status Bramstedt als Fleckensge­meinde, oder, wie häufig auch in der Literatur zu lesen ist, als Minderstadt hergeleitet werden, ein Status, den der Ort bis zum Jahre 1910 beibehalten sollte.

In der Folgezeit werden den Bramstedtern ihre, ansonsten nirgendwo sonst schriftlich niedergelegten und somit mehr als gewohnheitsrechtlich anzusehenden Fleckensprivi­legien durch den Landesherrn mehrfach bestätigt. Mit diesen Fleckensprivilegien ist die Wahrnehmung von vergleichsweise umfangreichen Selbstverwaltungsaufgaben ver­bunden, die anfangs in erster Linie im Zusammenhang mit der Abwicklung der Ochsen­märkte standen.

Wichtigstes Verfassungsorgan der Fleckensgemeinde war die Hauptversammlung der Fleckensleute, die alljährlich am Fastnachtsmontag abgehalten wurde. Fleckensleute waren lediglich die Bewohner des Bleecks, nur für diesen Teil des Ortes galten die

Fleckensprivilegien. Die Hauptversammlung der Fleckensleute diente der Beschluß­fassung über allgemeinde Fleckensangelegenheiten, war somit Selbstverwaltungsorgan des Ortes. Beschlüsse der Hauptversammlung wurden in einem besonderen Fleckensbuch protokolliert, andere Dokumente und Schriftstücke wurden in der sogenannten Fleckenslade, einer größeren tragbaren hölzernen Truhe aufbewahrt, die sich jeweils im Besitze eines Ratmannes befand.

Die Hauptversammlung tagte auf der Diele des jeweils beherbergenden Ratmannes, wobei das Versammlungslokal reihum unter den Ratmännern wechselte ebenso wie der Besitz der Fleckenslade. Die Fleckensversammlung wählte aus ihrer Mitte das 16köp-fige Achtmännerkollegium sowie das 4köpfige Ratmännerkollegium. Das Achtmänner­kollegium ist sowohl Gesetzgebungs- als auch Appellationsorgan; die Ratmänner sind dem Bereich der Exekutive zuzuordnen. Während die Eintragungen im Fleckensbuch von Anfang an das Achtmännerkollegium als Beschlußorgan herausstellen, werden die Aufgaben der Ratmänner erst in der Fleckensordnung des Jahres 1749 klar umrissen und dem Bereich der örtlichen Exekutive zugeordnet. Die Ratmänner sind insbesondere verantwortlich für die Fleckensrechnung, das Polizeiwesen, die genaue Ordnung bei der Einteilung und Ansagung von Fuhren und der Hand- und Spanndienste, dem Zu­stand der Landstraßen, Wege und Gräben sowie die Führung des Fleckensregisters und Fleckensarchivs.

Beide Gremien wurden nach dem Prinzip der Kollegialität gemeinsam gewählt bzw. abberufen, wobei die Amtszeit der Ratmänner anfänglich 3, später dann 2 Jahre, be­tragen hat. In der Rangfolge der Ämter ist der Ratmann höher angesiedelt, denn nur ge­wesene Achtmänner können in das Ratmännerkollegium gewählt werden. Zu Acht­- bzw. Ratmännern können grundsätzlich nur Hufner gewählt werden, d. h. freie und keiner Grundherrschaft verpflichtete Bauern.

Diese mehr genossenschaftlich geprägte örtliche Selbstverwaltung benötigte keinen Verwaltungsapparat, auch kein Verwaltungsgebäude. Lediglich eine hölzerne Truhe diente der Aufbewahrung des zahlenmäßig nicht sehr umfangreichen Aktenbestandes.

Neben der örtlichen Selbstverwaltung standen als Repräsentanten der landesherr­lichen

Zentralgewalt die Kirchspielvogtei und der Amtmann. Während die Kirchspielvogtei den Landesherrn auf unterster Ebene, d. h. in den zum Kirchspiel gehörenden Orten vertrat, repräsentierte der Amtmann die landesherrliche Verwaltung auf regiona­ler Ebene. Dieser Aufgabe entsprechend hatte er seine Residenz in Segeberg.

Im Jahre 1706 erwirbt der Dänenkönig Friedrich IV. in Bramstedt die auf dem südöst­lichen Bleeck nahe dem Butendoor gelegenen Grundstücke dreier Freikaten und läßt sie zusammenlegen. Auf ihnen entsteht noch im gleichen Jahr ein repräsentatives Amts­haus für das Segeberger Amt. Der damalige Amtsinhaber, Hans von Rantzau, hatte auf der Grundlage eines von ihm erwirkten königlichen Privilegs seinen Amtssitz nach Bramstedt verlegt. Begründet wurde dieser Schritt von Rantzau mit der ihm besonders zusagenden landschaftlich schönen Lage Bramstedts (u. a. erhoffte er sich hier eine bessere Jagd als in Segeberg), wie auch dem Umstand, daß Bramstedt sowohl für die Amtsinsassen als auch für die aus Glückstadt anreisenden Regierungsbediensteten und Anwälte günstiger zu erreichen sei.

Im Jahre 1744 tritt Graf Christian Günter zu Stolberg die Nachfolge von Rantzaus an und erhält ebenfalls die königliche Sondervollmacht, in Bramstedt zu residieren. Er be­zieht zunächst gegen Zahlung einer Ablösesumme das unter von Rantzau errichtete Ge­bäude, das den Ansprüchen seiner großen Familie offensichtlich dann doch nicht zu ge­nügen schien, denn bereits 1750 erwirbt er das adelige Gut Bramstedt, hauptsächlich in der Absicht, sich hier einen repräsentativen Wohnsitz zu schaffen.

Nach der Ernennung Stolbergs zum Oberhofmeister der Königinmutter am Kopen­hagener Hof im Jahre 1755 wird das inzwischen verwaiste Amtshaus erneut zum Dienst­sitz eines Segeberger Amtmannes: Im Jahre 1762 verlegt der Nachfolger Stolbergs aufgrund eines königlichen Privilegs seine Residenz erneut nach Bramstedt und bezieht das Amtshaus auf dem Bleeck. Bis zum Jahre 1782 sollte der Flecken Bramstedt somit Resi­denz des Segeberger Amtmannes bleiben und eine durchaus bedeutsame zentralörtliche Bedeutung besitzen.

Nach der endgültigen Rückverlegung des Dienstsitzes des Amtmannes nach Sege­berg wird in dem inzwischen funktionslos gewordenen Gebäude ein Krug errichtet, der den traditionsreichen Namen „Stadt Hamburg“ trug. Nach mehreren Eigentümer- und Funktionswechseln wird er schließlich vom Verwalter des Bramstedter Gutes, Reimers, erworben, der das inzwischen baufällig gewordene Gebäude im Jahre 1841 weitgehend einreißen und zu dem bekannten Doppelhaus umbauen ließ. Dieses bewohnte er ge­meinsam mit dem derzeitigen Zollverwalter Herzog, womit das Gebäude erneut eine teilweise öffentliche Funktion erhielt, denn Herzog erledigte seine Amtsgeschäfte, wie zu jener Zeit durchaus üblich, von zu Hause aus.

Reimers, der Eigentümer der anderen Hälfte, ist nicht lange mehr am Orte geblieben; er verkaufte seine Hälfte an den Chausseeinspektorkapitän Bruhn. Später ging erst die rechte, danach auch die linke Hälfte käuflich in den Besitz des Apothekers Lindemann über. In der letztgenannten Hälfte hat lange Jahre die Gräfin Holmer, deren Tochter sich mit dem Grafen von Luckner zu Bimöhlen verehelichte, gewohnt.

Nach der Einverleibung der Herzogtümer Schleswig und Holstein in den preußischen Staat wurde der Flecken Bramstedts Sitz eines Amtsgerichtes, das seine Diensträume im Obergeschoß des linken Gebäudeteiles bezog. Hiermit wird, auch räumlich gesehen, an die traditionelle Funktion des Amtshauses angeknüpft, denn zu den vornehmsten Aufgaben des Amtmannes gehörten u. a. die Ausübung der niederen Gerichtsbarkeit.

Die rechte Gebäudehälfte wurde regelmäßig bis zum Jahre 1929 vom einzigen Richter des Bramstedter Amtsgerichtes bewohnt. Das Erdgeschoß der linken Gebäudehälfte diente zeitweise als Dienstraum der kaiserlichen Post, bis diese in den 80ger Jahren des vorigen Jahrhunderts in ein Gebäude auf der anderen Seite des Bleecks übersiedelte, das „Hesebecksche Haus“.

Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts hält schließlich die Gemeindeverwaltung Einzug in die ehemals der Post dienenden Räume im Erdgeschoß des linken Gebäudeteils, um sich fortan Schritt für Schritt die restlichen Gebäudeteile anzueignen. Im Jahr der Stadtwerdung Bad Bramstedts, 1910, erwirbt die Stadt schließlich beide Gebäudehälften, um einerseits die Räumlichkeiten des Amtsgerichtes zu vergrößern, andererseits um dem Bürgermeisteramt eine vernünftige Bleibe zu schaffen. Seit dem Jahre 1929, dem Jahr des Übersiedeins des Amtsgerichtes in seine jetzigen Diensträume am Maienbeeck, ist die Stadtverwaltung Bad Bramstedt alleinige Hausherrin dieses Gebäudes.

Neben dieser recht bewegten Vergangenheit des Rathausgebäudes zeigt sich gleich­zeitig ein weiterer bedeutsamer Entwicklungsgang der Ortsgeschichte: die zunehmende Ausdehnung und Intensivierung der Verwaltung und ihres räumlichen und personellen Bedarfs, aber auch der von ihr zu bewältigenden Anforderungen.

Konnte die örtliche Verwaltung bis hinein in das späte 19. Jahrhundert weitgehend von der Privatwohnung der Amtsträger aus abgewickelt werden, so ändert sich dies mit dem Vorgang der Stadtwerdung Bad Bramstedt nachhaltig. Ein Blick in das Ortsstatut in das Jahr 1910 sagt die intensiver gewordene Verwaltungstätigkeit deutlich: unter anderen Verwaltungseinrichtungen werden hier z. B. aufgeführt: eine Finanzkommission, die Schuldeputation, die Bau- und Straßenkommission, die Einquartierungskommission, eine Kommission für Landstraßen, eine Feldwegkommission, eine Kommission zur Schauung der Abzugsgräben, die Gesundheitskommission, Kommission für die ge­werbliche Fortbildungsschule, Kommission zur Vertretung im Kollegium des Gesamt­armenverbandes sowie eine Beleuchtungskommission.

Diese Aufgaben wurden zu Beginn der Stadtgeschichte Bad Bramstedts von 11 Be­diensteten einschließlich Bürgermeister wahrgenommen. Heute, im Jahre 1989, umfaßt die Stadtverwaltung einen Personalbestand von dreiunddreißig Mitarbeitern. Der drastische Anstieg der Einwohnerzahl Bad Bramstedts nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch wachsendes Anspruchsdenken der Öffentlichkeit, die in einem immer stärke­ren Maße nach öffentlicher Daseinsfürsorge verlangt, hat mit zu dieser expansiven Aus­dehnung der örtlichen Selbstverwaltung am Ende des 20. Jahrhunderts geführt.

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1861/62 – Müllerin Wichmann zieht gegen den Weddelbrooker Müller vor Gericht

In den „Hosteinischen Anzeigen“ von 1862 fand ich zufällig zwie Urteile aus den Jahren 1861/2 zur Bramstedter Wassermühle und zur Weddelbrooker Mühle. (https://archive.org/details/bub_gb_qboOAAAAYAAJ/page/244/mode/2up?q=bramstedter+nachrichten)

Nach Aufhebung des Mühlenzwanges war der Weddelbrooker Müller (Name nicht genannt) offenbar in den Augen der Bramstedter Müllerin zu umtriebig und zu erfolgreich und sie verlangte vom Staat, der den Mühlenzwang einige Jahre vorher abgeschafft hatte, eine Entschädigung.

Interessant, dass sie hier als Klägerin auftritt und als Besitzerin der Mühle genannt wird. Seit Jahren war sie mit Nicolaus Friedrich Paustian verheiratet, den wir in der Bramstedter Geschichte als den Müller Paustian kennen. Formaljuristisch war die Mühle aber immer noch der Familie Wichmann zuordnet, die auf der Mühle schon seit dem 17. Jahrhundert genannt wird.

Interessant ferner, dass das Glückstädter Obergericht und das Kieler Oberappelationsgericht mit unterschiedlichen Begründungen die Klage(n) ablweisen.

 

 

Allerhöchst privilegirte holsteinische Anzeigen.

Redigirt von den Obergerichtsräthen Etatsrath Henrici und Lucht.
Gedruckt bei Augustin in Glückstadt.

32. Stück.  –  Den 14. August 1862,

 

Entscheidungen.


Ueber die bei Ermittelung der Entschädigung für den aufgehobenen Mühlenzwang zu
beobachtenden Grundsätze.

In Sachen des Müllers Nic. Fr. Paustian, uxor [Ehefrau]. noie (genannt]. Metta Elisabeth Paustian, geb. Wichmann, in
Bramstedt, als Besitzerin der Bramstedter Mühle, Klägers,

wider

das Königl. Commissariat zur Leitung des die Aufhebung des Mühlenzwanges im Herzogthum Holstein betreffenden Entschädigungsverfahrens, Beklagten,

  • wegen verweigerter Entschädigung für die Aufhebung des mit der Bramstedter Mühle verbunden gewesenen Zwangsrechtes s. w. d. a.,

hat Kläger vortragen lassen, wie behufs Ermittelung der von dem Kläger beanspruchten von dem Commissariat verweigerten Entschädigung für die Aufhebung des mit der Bramstedter Mühle verbunden gewesenen Zwangsrechtes bereits zwei Taxationen [Wertschätzungen] stattgefunden. In beiden Fällen hätten die gegnerischen Taratoren, welchen der Obmann schließlich beigetreten, das Vorhandensein irgend welchen Schadens verneint, während die Taxatoren des Klägers die Entschädigung das erste Mal auf 3,572 [?] 88 ß R.-M., das zweite Mal auf 5,745 [?] 30 ß R.-M. berechnet hätten. Kläger sei demnach genöthigt gewesen, den Rechtsweg einzuschlagen.

In der Klage sind sodann die Umstände hervorgehoben, welche den ungünstigen Ausfall der Taxationen bewirkt hätten und ist besonders darauf hingewiesen, daß die für den Kläger besonders gefährliche Concurrenz der Wassermühle zu Weddelbrock nicht gehörig in Rechnung gebracht worden sei. Diese Mühle sei nämlich nur als Schrotmühle concessionirt und hätten daher die Taxatoren nur den durch den freigegebenen Mehlhandel erwachsenen Schaden veranschlagt. Dabei sei jedoch übersehen, daß in solchen Fällen Contraventionen [Verstöße, Zuwiderhandlungen] schwerlich nachweisbar sein würden, indem die Mahlgäste dem Müller ihr Korn verkauften und das Mehl wieder kauften. Eine Schrotmühle sei überhaupt zu jeder Concurrenz berechtigt, da eine feste Grenze zwischen Mehlmahlen und Schroten nicht existire.

Von dem Kläger ist dann eine Berechnung sowohl über den Abgang als den Zugang von Kundschaft angestellt und dabei des Weiteren ausgeführt, daß es eben nur auf den Unterschied in der Zahl der regelmäßigen Mahlgäste und auswärtigen Mehlconsumenten, so wie auf die Haltung etwaniger Mehllager ankommen könne, eine anderweitige Mehlausfuhr aber außer Berücksichtigung bleiben müsse.

Auf Grundlage dieser Berechnung hat Kläger dann seinen Verlust, je nachdem die Weddelbrocker Mühle mit in Berücksichtigung gezogen werde oder nicht, auf 8,110 [?] 90 ß R.-M. event. auf 4,573 [?] 67 ß R.⸗M. angegeben und gebeten, das beklagte Commissariat schuldig zu erkennen, diese Summen in Gemäßheit des Gesetzes vom 10. Mai 1854, namentlich auch mit Zinsen vom 1. Juli f. J. an den Kläger auszuzahlen, ref. exp.

Excipiendo [durch Einrede] hat der Beklagte es in Abrede gestellt, daß der Kläger durch die Aufhebung des Zwangsrechts der Bramstedter Mühle Schaden erlitten habe, und ist die aufgestellte Berechnung ald unrichtig bestritten worden, Was insbesondere die Weddelbrocker Mühle betreffe, so dürfe dieselbe nach wie vor nicht mit der Mühle des Klägers concurriren und nur durch den dem Weddelbrocker Müller freigestellten Mehlhandel sei eine Einbuße von Seiten des Klägers denkbar. Ein Verfahren wie das, welches in der Klage den Mahlgästen untergeschoben werde, wäre eine klare Umgehung des Gesetzes und daher eine offenbare Gewerbecontravention. Daß Mehlmahlen und Schroten dasselbe bedeute, sei vollständig verkehrt. Bei dem Gewinn, den der Kläger durch die allgemeine Aufhebung des Mühlenzwangs gehabt, müsse endlich nicht allein die Kundschaft, sondern auch die Mehlausfuhr, wie der Kläger sie besonders nach Neumünster in bedeutendem Umfange betreibe, mit berechnet werden und ist demnach, da der gehabte Vortheil den Verlust weit überwiege, auf Abweisung der Klage ref. exp. angetragen.

Nach stattgehabter mündlicher Verhandlung der Re- und Duplik steht solchemnach nunmehr zur Frage, wie zu erkennen.

     In Erwägung nun, daß, da Kläger behauptet hat, durch die Aufhebung des Zwangsrechts der Bramstedter Mühle einen näher angegebenen Schaden erlitten zu haben, von dem Beklagten aber das Vorhandensein irgend welcher Verlüste geleugnet worden ist, der Kläger den Nachweis seiner Behauptung zu führen haben wird;
     in Erwägung, daß dabei jedoch die Nachtheile, welche der Kläger aus der Concurrenz der Weddelbrocker Mühle herleitet, nur in so weit zu berücksichtigen sind, als diefelben durch den dem Weddelbrocker Müller freisstehenden Mehlhandel hervorgerufen worden, indem es zwischen den Parteien nicht streitig ist, daß die fragliche Mühle durch die Verordnung vom 10. Mai 1854, betreffend die Aufhebung des Mühlenzwanges, nicht das Recht erworben hat, mit dem Kläger hinsichtlich des Mehlmahlens zu concurriren, und die größere und geringere Leichtigkeit, gegen dbie gesetzlichen Vorschriften zu contraveniren oder dieselben zu umgehen, bei der Ermittelung der Entschädigungsansprüche keine Beachtung finden kann, wie es denn auch irrig ist, daß Mahlen und Schroten dasselbe sei;
     in Erwägung endlich, daß bei der Berechnung der dem Kläger durch die Aufhebung des Mühlenzwanges etwa erwachsenen Vortheile, wie auch in einem frühren Falle bereits entschieden worden,
                cf. Anz. pro 1861, Stück 39,
die Wahrscheinlichkeit eines Gewinnes durch die Mehlausfuhr in anderweitige frühere Zwangsdistricte mit in Berücksichtigung zu ziehen ist, wird auf eingelegte Recesse, nach stattgehabter mündlicher Verbandlung, hiedurch für Recht erkannt:

Könnte und würde Kläger, unter Vorbehalt des Gegenbeweises und der Eide, binnen Ordnungsfrist darthun und erweisen, daß ihm durch die Aufhebung des mit der Bramstedter Mühle verbunden gewesenen Zwangsrechts ein Schaden von 4573 [?] 67 ß R.-M. oder wie viel weniger entstanden sei, so würde nach solchen geführten oder nicht geführten Beweisen weiter ergeben, was den Rechten gemäß.
Wie denn solchergestalt hiedurch erkannt wird

V. R. W.

Urkundlich ꝛc. Publicatum im Königl. Holsteinischen Obergericht zu Glückstadt, den 5. December 1861.


Auf die von der Klägerin zur Hand genommene Oberappellation gegen dieses Erkenntniß erging der folgende abschlägige Bescheid:

Namens Sr. Königl. Majestät.

Auf die unterm 13. März d. J. hieselbst eingereichte Appellationschrift für die Besitzerin der früheren Zwangsmühle zu Bramstedt, Ehefrau Metta Elisabeth Paustian, geb. Wichmann, cum cur. mar., Klägerin und Appellantin,

wider

das Königl. Commissariat zur Leitung des die Aufhebung des Mühlenzwangs im. Herzogthum Holstein betreffenden Entschädigungsverfahrens, Namens und im Auftrag des Königl. Ministeriums für die Herzogthümer Holstein und Lauenburg, Beklagten und Appellaten,

  • wegen verweigerter Entschädigung, jetzt Appellation wider das Erkenntniß des Holfteinischen Obergerichts vom 5. December 1861, wird,

     in Erwägung, daß, da der Appellantin vor dem Gesetze vom 10. Mai 1854, betreffend die Aufhebung des Mühlenzwangsrechts, ein Zwangsrecht auf Schroten nicht zugestanden hat, der Weddelbrocker Müller schon vor Aufhebung des Mühlenzwangs für die Eingesessenen des früher zu der Mühle des Appellanten gehörigen Zwangsdistricts Korn zu schroten befugt war, mithin daraus, daß der Weddelbrocker Müller nach Aufhebung des Mühlenzwangsrechts für die Eingesessenen des früheren Zwangsdistricts der Bramstedter Mühle Korn zu schroten fortfährt, von der Appellantin ein Entschädigungsanspruch nicht hergeleitet werden kann, und zwar selbst auch dann nicht, wenn, wie Appellantin behauptet, der Unterschied zwischen seinem Schrot und grobem Mehl nicht mit der genügenden Bestimmtheit sollte festgestellt werden können, weil der Weddelbrocker Müller auch schon vor Aufhebung des Mühlenzwangsrechts in demselben Maaße wie jetzt schroten durfte und die jetzt etwa eingetretene größere Schwierigkeit der Ermittelung einer Ueberschreitung der dem Weddelbrocker Müller ertheilten Concession einen Entschädigungstitel nicht bildet,

hiemit
                         ein abschlägiger Bescheid
ertheilt.

Die Rechnung des Anwalts und Procurators ist auf 27 [?] 5 ß bestimmt.

Urkundlich ꝛc. Gegeben im Königlichen Oberappellationsgericht zu Kiel, den 28. Juni 1862.

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