Zimmermann / Lexika: Stolberg aus Bramstedt – Am Rande der europäischen Literatur

Auf dieser Seite sind aus mehreren Quellen Beiträge zu den Stolbergs gesammelt.
Viel zu den Stolbergs ist zu finden auf:
http://webdoc.gwdg.de/ebook/h-k/gbs/gbs_17.pdf


Am Rande der europäischen Literatur

Ein Beitrag von Horst Zimmermann in „300 Jahre Bramstedter Heilquellen“, Bad Bramstedt 1981.
Abdruck mit frdl. Genehmigung der Rheumaklinik Bad Bramstedt
(Die Bilder sind dem ursprünglichen Artikel hinzugefügt)

stolberg_christian1760_200stolberg_christiane1760_200Christian Günther Graf zu STOLBERG war Kammer­herr und Amtmann des Amtes Segeberg. Das adlige Gut Bramstedt besaß er von 1751-1755. Der fortschrittliche Mann hob als Musterbeispiel späterer Bauern­befrei­ungen auf dem Gut die Leibeigen­schaft auf.

Durch seine drei Kinder gelangt „Bramstedt im 18. Jahrhundert an den Rand europäischer Literatur“. Der älteste Sohn Christian Graf zu STOLBERG wurde am 15. Oktober 1748 in Hamburg geboren, in Bramstedt Friedrich Leopold Graf zu STOLBERG am 7. November 1750. Auguste Louise Gräfin zu STOLBERG erblickte am 7. Januar 1753 ebenfalls in Bramstedt das Licht der Welt.

Die Grafen STOLBERG waren mehr Übersetzer griechischer Epen als Dichter. Beide studierten in Göttingen und traten dort einem Zusammenschluß junger Dichter, dem „Hainbund“ bei. Es kam zu verschiedenen Begegnungen mit Johann Wolfgang GOETHE.

Mit dem Dichterfürsten unternahmen sie 1775 eine Reise in die Schweiz. Mit dabei war der gemeinsame Freund HAUGWITZ. Die jungen Menschen standen ganz unter dem Einfluß des Zivilisationskritikers ROUSSEAU „Zurück zur Natur“. Es ging darum, die Gesundheit zu erhalten, die heilsamen Kräfte des Wassers zu suchen, sich von der zu „Faszination des Wassers“ gefangen nehmen zu lassen.

Wegen der Badelust GOETHES und der Grafen STOLBERG kommt es am Züricher See zu einem Skandal. Darüber schreibt GOETHE in „Dichtung und Wahrheit“ im 19. Buch: „Ich selbst will nicht leugnen, daß ich mich im klaren See zu baden mit meinen Gesellen vereinte, und wie es schien, weit genug von allen menschlichen Blicken. Nackte Körper jedoch leuchteten weit, und wer es auch mochte gesehen haben, nahm Ärgernis daran.“ Die vier nackt Badenden wurden kurz darauf an einer abgelegenen Stelle mit Steinen beworfen.

Beide Grafen STOLBERG hatten sehr enge Beziehungen zu KLOPSTOCK, dem Dichter des Messias. Ihre Schwester Auguste Louise Gräfin zu STOLBERG, ein „Bramstedter Kind“, ging auch in die Literaturgeschichte ein. Sie war die Vertraute GOETHES in der Zeit des Verlöbnisses mit Lili aus der Bankiersfamilie SCHÖNEMANN. Vor der Verlobung um 1775 schreibt GOETHE der „fremden Freundin Gustchen STOLBERG aufgewühlte Bekenntnisbriefe“ Die Gräfin heiratete 1783 den dänischen Minister Peter Graf Ernst zu BERNSTORFF Drei Mitglieder der Familie Graf STOLBERG – eng verwachsen mit Bramstedt: Begleiter des großen Dichterfürsten Goethe.

Auguste zu Stolberg

Auguste zu Stolberg

Peter Graf Ernst zu Bernstorff

 

 

 

 

 

 

 

 


Hier ist ein wenig mehr zu Goethe und Augustes Briefwechseln zu finden:http://www.jgoethe.uni-muenchen.de/leben/auguste.html


Soweit Horst Zimmermann.
Ausführliche Nachrichten zu den Stolbergs sind zu finden in:
http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/h-k/gbs/gbs_17.pdf bzw. als Ausdruck


Literatur Lexikon, Autoren und Werke deutscher Sprache, Bertelsmann Lexikon Verlag

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Agnes Gräfin zu Stolberg Stolberg

Stolberg Stolberg, Agnes Gräfin zu, geb. von Witzleben
* 9.10.1761 im Oldenburgischen,
+ 15.11.1788 Neuenburg bei Oldenburg.
Almanachautorin.


Von Goethe als »Engel-Grazioso« apostrophiert, heiratete die vielseitig gebildete und musisch interessierte Hofdame an der fürstbischöflichen Residenz in Eutin am 11.6.1782
Friedrich Leopold Graf zu Stolberg Stolberg. Neben einzelnen Beiträgen für den von Voß redigierten »Hamburger Musenalmanach« ( Wiegenlied; An ihren Stolberg) hinterließ die wenige Monate nach der Geburt ihres dritten Kindes verstorbene Gelegenheitsdichterin die empfindsam geprägte Prosaerzählung Aura, die von ihrem Ehemann unter der Verfasserangabe »Psyche« in seinen utopisch-idyllischen Roman Die Insel aufgenommen wurde, der 1788 bei Göschen in Leipzig erschien . S.s Literaturbegeisterung wurde von anderen Frauen des nordelbischen Adels (u. a. Frederike Juliane Gräfin von Reventlow, Friederike Luise Gräfin zu Stolberg Stolberg) geteilt.

Literatur: Brigitte Schubert-Riese: Das literarische Leben in Eutin im 18. Jh. Neumünster 1975.

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Christian Graf zu Stolberg

Christian
Graf zu Stolberg

Stolberg Stolberg, Christian Graf zu,
* 15.10.1748 Hamburg,
+ 18.1.1821 Windeby bei Eckernförde; Grabstätte: Kirche von Horslunde auf Lolland.
Lyriker, Dramatiker, Übersetzer.

Als ältester Sohn Christian Günthers Grafen zu Stolberg Stolberg verbrachte S. zusammen mit seinem Bruder eine ungewöhnlich freie Kindheit in Holstein und auf Seeland. Nach der standesgemäßen Erziehung durch frz. u. dt. Hofmeister ging er, der pietistischen Tradition seines Elternhauses gemäß, mit seinem Bruder 1770 nach Halle, um Rechtswissenschaften zu studieren. Im Oktober 1772 wechselten die Brüder an die Göttinger Universität, wo sie durch die Vermittlung Boies mit den Mitgliedern des Göttinger Hains in enge Verbindung traten und am 19.12.1772 in den Dichterbund aufgenommen wurden. Im April 1773 überbrachten sie Klopstock als persönliche Huldigung des Bundes den handschriftliche Sammelband Für Klopstock, der 91 Oden, Lieder, Balladen u. Übersetzungsproben enthielt und das Interesse des Hamburgers an der Dichtergemeinschaft weckte. Nach Beendigung des Studiums (u. a. bei Johann Stephan Pütter) kehrte S. mit seinem Bruder im September 1773 nach Altona zurück. 1774 nahmen sie über Boie Beziehungen zu Goethe auf und reisten im Mai zusammen mit ihm und dem späteren preußischen Staats- u. Kabinettsminister Heinrich Christian Kurt Graf von Haugwitz durch Süddeutschland und die Schweiz. Im Juli trennten sie sich in Zürich von Goethe und brachen zu einer Tour durch den Tessin nach Genf auf, wo sie Voltaire trafen. Im November trat S. mit seinem Bruder die Rückreise an, die sie über Ulm, Weimar, Dessau u. Berlin nach Kopenhagen führte. 1777 trennten sich die Lebenswege der Brüder: S. heiratete die 30jährige Witwe Friederike Luise von Gramm, geb. Gräfin von Reventlow, und ließ sich in Tremsbüttel nieder, wo er eine Stelle als Amtmann annahm. Es war vor allem das Verdienst von S.s literarisch interessierter Frau, daß Tremsbüttel ein Ort regen geistigen Austauschs wurde. Ähnlich wie Frederike Juliane Gräfin von Reventlow, Hausherrin auf Emkendorf, unterhielt sie enge Kontakte zu Baggesen, Boie, Claudius, Herder, Klopstock, Matthisson, Öhlenschläger, Anna Amalia von Sachsen-Weimar u. Voß. 1784 traf S. zusammen mit seinem Bruder während einer Erholungsreise nach Karlsbad und Teplitz noch einmal in Weimar mit Goethe zusammen. 1800 verkaufte S. seinen Besitz in Tremsbüttel und erwarb das Gut Windeby bei Eckernförde. 1815 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Kiel verliehen. 1816 sah er seinen Bruder, den er kaum mehr als ein Jahr überlebte und dessen Tod ihm sehr nahe ging, ein letztes Mal.
Als Schriftsteller u. Übersetzer stand S. im Schatten seines Bruders. Er hinterließ etwa 50 Gedichte, einen Balladenzyklus (Die weiße Frau. Bln. 1814), dramatische. Werke und Übersetzungsproben. Die meisten lyrischen Texte S.s sind Casualcarmina; die wenigen, nicht aus äußeren Anlässen entstandenen Gedichte lassen Einflüsse von Bürger (Elise von Mannsfeld. Eine Ballade aus dem zehnten Jahrhundert; Der wahre Tratin: Eine Ballade), Hölty (An die Unbekannte; Die Blicke. An Dora) oder Voß (Chorgesang aus einem unvollendeten Singspieles Eros und Pßche) erkennen. Ähnlich pointiert wie die dramatischen Versuche seines Bruders reflektieren S.s Schauspiele mit Chören (Lpz. 1787) die Frage der gerechten Herrschaft und Staatsordnung. Ebenso wie in seinem biblischen Trauerspiel Belsazer (»Aus ist‘s, Treiber, mit dir! Siehe, zerbrochen ist / Deine Geißel des Frohns, und in dem Staube liegt / Deiner wüthenden Herrschaft / Völkervertilgender Königsstab!«), das er Klopstock widmete, schreckte S. auch in dem der Gräfin von Reventlow zugeeigneten, zusammen mit seiner Frau verfaßten Schauspiel Otanes (»Ein Unding ist es, wenn ein Einziger / Zum Herrn der ganzen Menge sich erhebt, / Sie stolz mit Fersen stampft, und ungestraft / Verübt, was ihn sein Wille lehrt!«) nicht vor deutlicher Kritik am höfischen Absolutismus zurück. Unter seinen zahlreichen Übersetzungsproben (Anakreon, Bion, Horaz, Moschos, Musaios, Theokrit, die Batrachomyomachie sowie homerische Hymnen) ist die mit seinem Bruder abgesprochene Übersetzung der Chöre des Sophokles in Odenform (Lpz. 1787) hervorzuheben. Einen Teil seiner epigrammatischen Dichtungen hat S. offenbar selbst vernichtet (vgl. An eine nicht kleine Schaar von dem Verfasser vertilgter Epigramme). 1805 ergriff er in einer anonymen Schrift Partei für den von den Altonaer Aufklärern um Nicolaus Funk befehdeten Kurator der Kieler Universität, Friedrich Karl Graf von Reventlow. Anders als sein Bruder hielt S. sein Leben lang an den literarästhetischen Prämissen der Göttinger Hainbündler fest. Seinem Werk kommt heute nur noch historisches Interesse zu.

WEITERE WERKE: Ges. Werke der Brüder C. u. Friedrich Leopold Grafen zu S. 20 Bde., Hbg. 1820-25. Neudruck Hildesheim 1974. – Briefwechsel. zwischen Klopstock und den Grafen C. u. Friedrich Leopold zu S. Hg. Jürgen Behrens. Neumünster 1964 (Anhang: Briefwechsel zwischen Klopstock u. Herder).

LITERATUR: Otto Brandt: Geistesleben u. Politik in Schleswig-Holstein um die Wende des 18. Jh. Bln./Lpz. 1925. -Dieter Lohmeier: Herder u. der Emkendorfer Kreis. In: Nordelbingen 35 (1966), S. 103-132. 36 (1967), S. 39-62. – Brigitte Schubert-Riese: Das literarische Leben in Eutin im 18. Jh. Neumünster 1975.

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Friedrich Leopold Graf zu Stolberg Stolberg

Stolberg Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu,
* 7.11.1750 Bramstedt/Holstein,
+ 5.12.1819 Sondermühlen bei Osnabrück; Grabstätte: Friedhof Stockkämpen bei Tatenhausen.
Lyriker, Dramatiker, Romanautor, Essayist u. Übersetzer; Historiograph.

S. erlebte als zweiter Sohn des aufklärerisch gesinnten Oberhofmeisters der dänischen Königinwitwe, Christian Günther Graf zu Stolberg Stolberg, u. seiner pietistisch-schwärmerischen Ehefrau Christiane, geborene Gräfin zu Castell-Remlingen, eine für einen Standesherrn ungewöhnlich zwanglose Kindheit und Jugend in Dänemark und Schleswig-Holstein. Zum Freundeskreis der Familie zählten die aufgeklärten Adelskreise Nordelbingens ebenso wie die Dichter Johann Arnold Ebert und Klopstock oder die Theologen Johann Andreas Cramer u. Balthasar Münter.
Nach der häuslichen Erziehung durch frz. u. dt. Hofmeister bezog S. mit seinem älteren Bruder Christian 1770 die Universität Halle, um Rechtswissenschaften zu studieren. 1772 wechselten beide an die Universität Göttingen, wo Boie sie mit den Hainbündlern bekannt machte. Noch im selben Jahr als Mitglieder aufgenommen, stellten sie 1773 die Verbindung zu Klopstock her, der den Dichterkreis als Verbündeten bei der Verwirklichung einer Gelehrtenrepublik ansah. Im Herbst 1773 in den Norden zurückgekehrt, unternahmen die Brüder 1775 gemeinsam mit Heinrich Christian Kurt Graf von Haugwitz und Goethe eine früher verabredete Bildungsreise in die Schweiz, auf der sie mit Bodmer, Gessner, Klinger, Lavater, Lenz, Merck, Schlosser und Voltaire zusammentrafen. Die Rückreise führte über Ulm, Gotha, Erfurt, Weimar, Dessau, Berlin und Hamburg und machte die Brüder mit Schubart, Ekhof, Carl Theodor Anton Maria von Dalberg, Wieland, Basedow und Nicolai bekannt. Im Sommer 1776 schlug S. eine von Karl August von Sachsen -Weimar-Eisenach angetragene Stelle als Kammerherr aus und ging als Gesandter des Fürstbischofs von Lübeck und Herzogs von Oldenburg an den dänischen Hof nach Kopenhagen. Nach dem Sturz seines Schwagers Andreas Peter von Bernstorff bekleidete er 1781-1783 das Hofamt eines Obermundschenken an der Eutiner Residenz. 1782 heiratete er Agnes von Witzleben (vgl. Artikel »Agnes von Stolberg Stolberg«). Längere Reisen führten ihn nach Weimar, wo er erneut mit Goethe zusammentraf, nach Karlsbad und Teplitz sowie in diplomatischer Mission nach St. Petersburg. 1786-1788 war S. als Amtmann in Neuenburg bei Oldenburg tätig. Nach dem plötzlichen Tod seiner Frau ging er 1789 als dänischer Gesandter nach Berlin, wo er seine zweite Frau, Sophie Charlotte Eleonore von Redern, kennenlernte, die er 1790 heiratete. Mit ihr, seinem Sohn Ernst und dem Hofmeister Georg Heinrich Ludwig Nicolovius brach er 1791 zu einer Reise in die Schweiz und nach Italien auf, von der er 1793 zurückkehrte, um das Amt eines fürstbischöflichen Kammerpräsidenten in Eutin anzutreten. Seine Konversion zum kath. Glauben 1800 veranlaßte ihn, sein Entlassungsgesuch beim Fürstbischof Peter Friedrich Ludwig einzureichen und sich nach heftigen Kontroversen mit dem Eutiner Kreis (Friedrich Heinrich Jacobi, Nicolovius, Voß) in Münster u. dem nahen Lütkenbeck niederzulassen. Durch seine zweite Heirat finanziell unabhängig, widmete er sich fortan ohne Amt seinen religionsgeschichtlichen Interessen. 1812—1816 lebte S. auf Schloß Tatenhausen bei Bielefeld, danach, bis zu seinem Tod, auf Schloß Sondermühlen bei Osnabrück.
S.s frühe, Freiheit, Vaterland und Natur huldigende Odendichtung (Mein Vaterland. An Klopstock; Der Harz; Die Natur; Die Freiheit. An Hahn) stand ganz in der Nachfolge Klopstocks. 1775, während seiner Reise in die Schweiz, löste er sich vom beherrschenden Einfluß seines Vorbilds und wandte sich balladesken Dichtungen, freien Rhythmen und dem Genre des sangbaren, gereimten Lieds zu, das er seit dieser Zeit als seine eigentliche pötische Ausdrucksform ansah. In der Eutiner Zeit nahm S. zunehmend Abstand von der abstrakten Rhetorik der frühen Freiheits- u. Vaterlandsgesänge und entdeckte die heimische Landschaft als eigenständiges literarisches Thema. 1782 gelang ihm mit dem seiner Braut gewidmeten Lied auf dem Wasser zu singen sein bedeutendster u. reifster lyrischer Text. 1823 wurde das Gedicht, das als poetischer Ausdruck seines 1780 entstandenen dithyrambischen Essays Über die Ruhe nach dem Genuß und über den Zustand des Dichters in dieser Ruhe angesehen werden kann, von Schubert vertont. Seine sympathetisch, pantheistisch geprägte Naturauffassung und die Überzeugung, daß Dichtung bar aller pötologischer Einengungen unmittelbarer Begeisterung entspringen müsse, legte S. in seinen 1777 u. 1782 in Boies »Deutschem Museum« veröffentlichten Aufsätzen Über die Fülle des Herzens und Über die Begeisterung dar. Zusammen mit der 1780 entstandenen Betrachtung Vom Dichten und Darstellen müssen die zwischen 1777 u. 1782 publizierten rhapsodischen Essays S.s zu den eigenständigsten Prosazeugnissen des Sturm und Drang gerechnet werden. Mit seiner ebenfalls im »Deutschen Museum« publizierten, streng christlich argumentierenden Verurteilung von Schillers Elegie Die Götter Griechenlands provozierte S. 1788 eine weithin beachtete Debatte über Kunst, Antike, Religion sowie die Gewissens- u. Gedankenfreiheit des Dichters, an der sich neben den Kontrahenten auch Forster, Körner und August Wilhelm Schlegel beteiligten. Im gleichen Jahr veröffentlichte S. bei Göschen in Leipzig den utopisch-idyllischen Roman Die Insel, der, anders als das postum publizierte Hexameterfragment Die Zukunft oder der unvollendete Bildungsroman Numa, das einzige abgeschlossene epische Werk der Neuenburger Zeit blieb. Ähnlich wie Schiller mit seinem Trauerspiel Die Braut von Messina (1803) unternahm auch S. den Versuch, das antike Theater zu aktualisieren. Richtungweisend für die klassizistische Tragödienform waren S.s zwiespältig aufgenommene, antikisierende Chordramen Timoleon (Kopenhagen 1784), Theseus (Lpz. 1787) u. das 1786 entstandene, erst in den Gesammelten Werken publizierte Schauspiel Servius Tullius. S.s Dramen, die eindringlich auf die Tropik Hölderlins bis hin zu wörtlichen Anklängen wirkten, kommt heute allerdings nur noch historisches Interesse zu. Als Resultate seiner intensiven Beschäftigung mit der Antike veröffentlichte S. Übersetzungen von Homers Ilias (Flensburg, Lpz. 1778), mehrerer Dramen von Aischylos (Hbg. 1802) u. ausgewählter Werke Platons (Königsberg 1796/97). Darüber hinaus beschäftigte er sich mit Aristophanes, Diodor, Euripides, Herodot u. Xenophon. Bahnbrechend wirkte vor allem S.s Ilias. In dieser ersten deutschsprachigen Übertragung eines Werks von Homer in Hexametern versuchte S. die homerischen Komposita u. Epitheta nachzubilden, was vielfach zu phantasievollen Wortneuschöpfungen führte. Seine bereits 1783 vollendete Übersetzung der Dramen von Aischylos beeinflusste Schiller nachhaltig bei der Konzeption der Braut von Messina. In der Tradition der Antike sah S. auch seine gesellschaftskritischen Jamben (Lpz. 1784). An diese sich frankophob und aufklärungskritisch gerierenden Zeitsatiren knüpfte S. in seinen antirevolutionären Oden Die Westhunnen (Eutin 1794) u. Kassandra (ebd. 1796) an. Seine Distanz zum Geschichtsoptimismus und zur Religionsskepsis der Spätaufklärer machte er auch in seiner vierbändigen Beschreibung Reise in Deutschland, der Schweiz, Italien und Sicilien in den Jahren 1791-92 (Königsberg, Lpz. 1794) deutlich. Die entschieden christliche Prägung dieses Werks beeinflußte die frühromantische Autorengeneration u. ließ bereits wesentliche Leitgedanken seiner in 15 Bänden veröffentlichten Geschichte der Religion Jesu Christi (Hbg. 1806-18) erkennen. Als letzte Schrift S.s erschien 1820 in Hamburg, vom Bruder postum publiziert, als Replik auf die Angriffe von Voß die Kurze Abfertigung der langen Schmähschrift des Herrn Hofraths Voß. S. hinterließ ein umfangreiches, rhapsodisch anmutendes Werk, das ungeachtet offenkundiger ästhetischer Schwächen in vielfältiger Weise auf die nachfolgende Literatengeneration gewirkt hat.

WEITERE WERKE: Ges. Werke der Brüder Christian u. F.L. Grafen zu S. 20 Bde.. Hbg. 1820-25. Neudruck Hildesheim 1974. – Betrachtungen u. Beherzigungen der Hl. Schrift. z Bde., Hbg. 1819 u. 1821 – Die Zukunft. Ein bisher ungedrucktes Gedicht […]. Hg. Otto Hartwig. In: AfLg 13 (1885). S.82-115. – Numa. Ein Roman. Hg. Jürgen Behrens. Neumünster 1968. – Über die Fülle des Herzens. Frühe Prosa. Hg. ders. Stgt. 1970. – Briefe: Briefe F.L.s Grafen zu S. u. der Seinigen an Johann Heinrich Voß. […]. Hg. Otto Heilinghaus. Münster 1891. – Aus einem frz. Familienarchiv. S.iana u. Gallitziana. Hg. Detlev W. Schumann. In: Westfalen 39 (1961), S. 128-142. – Konvertitenbriefe. Adam Müller u. Dorothea Schlegel an F. L. u. Sophie Stolberg. Hg. den. In: LitJb N. F. 3 (1962), S.67-89. – Briefwechsel zwischen Klopstock u. den Grafen Christian u. F.L. zu S. Hg. J. Behrens. Neumünster 1964 (Anhang: Briefwechsel zwischen Klopstock u. Herder). – Johann Heinrich Voß u. F. L. Graf zu S. Neun bisher unveröffentl. Briefe. Hg. ders. In: JbFDH (1965), S. 49-87. – Briefe. Hg. den. Neumünster 1966.
LITERATUR: Otto Brandt: Geistesleben u. Politik in Schleswig-Holstein um die Wende des 18. Jh. Bln./Lpz. 1925. – Pierre Brachin: Le cercle de Münster (1779-1806) et la pensée religieuse de F. L. S. Lyon/Paris 1951. – Detlev W. Schumann: Aufnahme u. Wirkung v. S.s Übertritt zur kath. Kirche. In: Euph. 50 (1956), S.271-3o6. – P. Brachin: F.L. v. S. u. die dt. Romantik. In: LitJb N. F. t (1960),
S. 117—131. — Jürgen Behrens: Nunia. Ein unveröffentl. Roman v. F. L. Graf zu S. In: Jb. des Wiener goethe -Vereins 69 (1965), S. 103-120. – Ingeborg u. J. Behrens: F. L. Graf zu S. Verz. sämtl. Briefe. Homburg v. d.H. 1968. – Dies.n: Nachtr. zum Verz. sämtl. Briefe […]. In: JbFDH (1971), S. 179-482. – Siegfried Sudhof: Von der Aufklärung zur Romantik. Die Gesch, des ‘Kreises v. Münster’. Bln. 1973. —Brigitte Schubert-Riese: Das literarische Leben in Eutin im 18. Jh. Neumünster 1975. – J. Behrens: F. L. Graf zu S. Porträt eines Standesherrn. In: Christian Degn u. Dieter Lohrneier (Hg.): Staatsdienst u. Menschlichkeit […]. Ebd. 1980. S. 151-165. – Wolfgang Martens: S. u. die Französische Revolution. In: Gonthier-Louis Fink (Hg.): Les romantiques allemands et la
Revolution francaise. Actes du CoIloque international […] Strasbourg 2.-5.11.1988. Straßb. 1989, S. 41-54.

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(Henriette) Katharina Gräfin zu Stolberg Stolberg

(Henriette) Katharina Gräfin zu Stolberg Stolberg

 

Stolberg Stolberg, (Henriette) Katharina Gräfin zu
* 5.12.1751 Bramstedt/Holstein,
+ 22.02.1832 Peterswaldau/Schlesien.
Erzählerin.


S. erlebte im Kreis ihrer Geschwister eine glückliche Kindheit teils in Kopenhagen, teils auf dem Landschloß Rungsted auf Seeland. Sehr früh schon trat S., von Klopstock in das Studium der alten und neuen Sprachen, der antiken u. zeitgenössischen Literatur eingeführt, in Wetteifer mit ihren älteren Brüdern Christian und Friedrich Leopold. Sie knüpfte briefliche Beziehungen zu vielen bekannten Zeitgenossen: u. a. zu Voß, Gleim, Johann Georg Jacobi, zu den Zürcher Theologen Johann Jacob Heß, Johann Konrad Pfenninger, Lavater. Eine lebenslange Freundschaft verband sie mit Claudius und dessen Familie. 1771 kaufte S. sich in das adlige Damenstift Wallé auf Seeland ein, wohin sie sich während ihres langen, unruhigen Lebens immer wieder zurückzog. 1788 übernahm sie die Erziehung der beiden Töchter Friedrich Leopolds, der die Schwester durch seinen Übertritt zur römisch-kath. Kirche in heftige Gewissensqualen stürzte. Die eigene Konversion (1802) machte sie jedoch bald darauf wieder rückgängig. 1806-1817 lebte S. in »Seelenehe« mit Gottlob Friedrich Ernst Schönborn.
Der Ausarbeitung ihrer poetischen Einfälle standen S.s Rastlosigkeit sowie ihre »Scheu vor der großen Mühe des Ordnens« entgegen, so daß sie nur die zwei romantisch-rhapsodische Erzählungen Rosalia u. Emma (in: Deutsches Museum, 1779), das Drama Moses (in: ebd., 1788), die Erzählung Fernando und Miranda (in: Jacobis Taschenbuch für 1795) u. das Gespräch Die Blumen (in: Jacobis Iris. Ein Taschenbuch für 1803) hinterließ.
LITERATUR: Ed. Jacobs: S. In: ADB. – Christian Jenssen: Licht der Liebe, Lebenswege dt. Frauen. Hbg. 1938.

Julei M. Habisreutinger


Im Internet fand ich folgende Liedertexte, verfaßt von

Friedrich Leopold, Graf zu Stolberg-Stolberg (1750-1819)

Lied Texts

Abendlied: Schubert (Groß und rotentflammet schwebet noch die Sonn am Himmelsrand)
Ach, mir ist das Herz so schwer: Schubert
(Lied in der Abwesenheit)
An die Natur:
Löwe, Schubert, Schulz, Vietor
Auf dem Wasser zu singen:
Schubert
Daphne am Bach:
Schubert,Zumsteeg
Des Lebens Tag ist schwer und schwühl
Schubert (
Die Mutter Erde)
Schulz (
Lied)
Die Mädchen: An einen Jüngling:
Zumsteeg
Die Mutter Erde:
Schubert
Groß und rotentflammet schwebet noch die Sonn am Himmelsrand: Schubert (
Abendlied)
Ich hab‘ ein Bächlein funden:
Reichardt
Ich hab‘ ein Bächlein funden
Reichardt (
Ich hab‘ ein Bächlein funden)
Schubert (
Daphne am Bach)
Zumsteeg (
Daphne am Bach)
Ich sehe mit Schmerzen, du kennest die Kerzen: Zumsteeg (
Die Mädchen: An einen Jüngling)
In der Väter Hallen ruhte Ritter Rudolf’s Heldenarm
Schubert (
Romanze)
Zumsteeg (
Romanze)
Lied:
Schulz (Des Lebens Tag ist schwer und schwühl)
Lied auf dem Wasser zu singen:
Kittl
Lied in der Abwesenheit:
Schubert
Meine Selinde! Denn mit Engelsstimme singt die Liebe mir zu: Schubert (
Stimme der Liebe)
Mitten im Schimmer der spiegelnden Wellen
Kittl (
Lied auf dem Wasser zu singen)
Schubert (
Auf dem Wasser zu singen)
Morgenlied:
Schubert (Willkommen, rotes Morgenlicht)
Morgenlied eines Jünglings:
Zumsteeg
Romanze:
Schubert,Zumsteeg (In der Väter Hallen ruhte Ritter Rudolf’s Heldenarm)
Stimme der Liebe:
Schubert (Meine Selinde! Denn mit Engelsstimme singt die Liebe mir zu)
Süße, heilige Natur, laß mich gehn auf deiner Spur: Löwe, Schubert, Schulz, Vietor (
An die Natur)
Wenn Aurora früh mich grüßt: Zumsteeg (
Morgenlied eines Jünglings)
Willkommen, rotes Morgenlicht: Schubert (
Morgenlied)

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F.L. Konversion zum katholischen Glauben erregte seinerzeit sehr viel Aufsehen. Dazu hier ein wissenschaftlicher Beitrag:
http://home.nordwest.net/mueller/text4_w.htm#v2

„Voß contra Stolberg“

Vom Bruch einer Freundschaft in der Goethe–Zeit.

(Vor der Goethe–Gesellschaft in der Landesbibliothek Oldenburg am 13. Juli 1999 gehaltener Vortrag)

Voß contra Stolberg! ein Proceß
Von ganz besonderm Wesen,
Ganz eigner Art; mir ist indeß,
Das hätt‘ ich schon gelesen.
Mir wird unfrei, mir wird unfroh,
Wie zwischen Gluth und Welle,
Als läs‘ ich ein Capitolo
In Dante’s grauser Hölle.(1)

Der Verfasser dieser Verse ist tief enttäuscht, wenn nicht gar entsetzt. „Mir wird unfrei, mir wird unfroh,wie zwischen Gluth und Welle, als läs‘ ich ein Capitolo in Dante’s grauser Hölle“, heißt es in seinem Gedicht! Offenbar geht es um einen Proceß zwischen Voß und Stolberg. Doch um was für einen Proceß handelt es sich? Es soll ein Proceß von ganz besonderm Wesen, ganz eigner Art sein, durch den der Verfasser unfrei und unfroh wird. Ist es ein Gerichtsprozeß? Aber: – Wird einem Außenstehenden, der am Prozeß nicht beteiligt ist, wegen eines Gerichtsverfahrens unfrei und unfroh? Er mag über den Unverstand der Prozeßbeteiligten den Kopf schütteln und sich eine gütliche Einigung wünschen. Wie kommt dann Johann Wolfgang von Goethe – kein anderer steckt hinter dem eingangs zitierten Gedicht — dazu, sich in derart drastischer Weise über einen Prozeß >Voß gegen Stolberg< zu äußern, — als läse er ein Capitolo in Dante’s grauser Hölle?
Die beiden Beteiligten Voß und Stolberg sind ihm von manchen Begegnungen persönlich gut bekannt. Goethe weist in Dichtung und Wahrheit darauf hin, mit Stolberg „in ein gar freundliches Verhältnis geraten“ zu sein, als dieser ihn im Mai 1775 auf seiner Reise in die Schweiz in Frankfurt besucht und veranlaßt hat, ihn dorthin zu begleiten.(2) Es mag ihm nahegehen, einen Freund in einen unerquicklichen Prozeß verwickelt zu sehen. Doch ist Goethes Verhältnis zu Stolberg längst abgekühlt und Stolberg selbst seit einem Monat tot, als er das Gedicht im Januar 1820 schreibt. Seinen Tag- und Jahresheften hat Goethe schon 1801 anvertraut, mit Stolberg bei allen seinen vortrefflichen menschlichen Eigenschaften persönlich nichts mehr gemein zu haben.(3) Demgegenüber hält Goethes hohe Wertschätzung für Johann Heinrich Voß bis zum Lebensende an. Johann Peter Eckermann (1792 bis 1854) überliefert uns, Goethe habe ihm nach Vossens Tod erklärt: „Es haben wenig andere auf die höhere deutsche Cultur einen solchen Einfluß gehabt als er (d. i. Voß). … Wer von seinem Werte durchdrungen ist wie ich, weiß gar nicht, wie er sein Andenken würdig genug ehren soll. … Er war mir sehr wert und ich hätte ihn gern der Akademie und mir erhalten. Allein die Vorteile, die man ihm von Heidelberg her anbot, waren zu bedeutend, als daß wir, bei unseren geringen Mitteln, sie hätten aufwiegen können. Ich mußte ihn mit schmerzlicher Resignation ziehen lassen.(4)
Aufschluß über den Proceß, wie Goethe ihn bezeichnet, geben die Ereignisse unmittelbar vor Entstehen des eingangs zitierten Gedichts. Nur wenige Monate zuvor ist im Herbst 1819 in der vom Heidelberger Professor der Theologie und Philosophie Heinrich Eberhard Gottlob Paulus herausgegebenen Zeitschrift „Sophronizon“ ein Aufsatz mit dem vielsagenden Titel: „Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier? beantwortet von Johann Heinrich Voß“ erschienen. Der aus dem griechischen stammende Name der Zeitschrift „Sophronizon“ bedeutet soviel wie, es solle zur Besonnenheit gemahnt werden. Diese löbliche Absicht wird durch das auf der ersten Seite der Zeitschrift herausgestellte Motto: „Wie soll es besser werden? Werden wir besser. Bald wird alles besser seyn!“ nachdrücklich unterstrichen. Davon, daß der im „Sophronizon“ abgedruckte Beitrag von Johann Heinrich Voß „Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier?“ zur Besonnenheit mahnt und durch eigenes „Besserwerden“ dazu beiträgt, daß bald alles besser sein wird, scheinen sich allerdings die Zeitgenossen nicht so recht überzeugen zu können. Karl Ludwig von Knebel (1744 – 1834) schreibt seinem alten Freund Goethe unter dem 29. Oktober 1819: „Eine neue Schrift des alten Voß kam mir gestern zur Hand, nämlich: >Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier?< Schon aus der Überschrift erkennt man den Mann. Ein solches zusammengehäuftes Geklatsch von Jahren her ist wohl nicht so bald zum Vorschein gekommen! Man wundert sich nur, wie ein Mann solchen Schimmel und Moder so lange buchstäblich hat aufbewahren mögen . Hier streitet der gemeine Philisterstolz mit dem vornehmen Philisterstolz. Indessen scheint der gemeine Bauernkittel sogar mit Stacheln bewaffnet überall hervor.“(5) Durch diesen Brief sieht sich Goethe zur Lektüre von Vossens Schrift veranlaßt und ist peinlich berührt.
Von Knebels Wort vom „zusammengehäuften Geklatsch von Jahren her“ deutet darauf hin, daß es um eine sich über Jahre hin ziehende Geschichte handelt. Und in der Tat ist es eine alte Geschichte, die der berühmte Homer–Übersetzer und Verfasser der idyllischen „Luise“, der frühere Rektor der Lateinschule Eutin und jetzige Heidelberger Professor Johann Heinrich Voß (* 20.02.1751, + 29.03.1826) in seinem Aufsatz >Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier?< über seinen alten Freund aus Studientagen, den Schriftsteller, früheren Diplomaten und Staatsbeamten in holsteinisch–oldenburgischen Diensten und jüngsten Verfasser der Geschichte der Religion Jesu Christi in 15 Bänden, den Reichsgrafen Friedrich Leopold zu Stolberg (* 07.11.1750, + 05.12.1819) vor dem überraschten deutschen Publikum ausbreitet. Es ist die Geschichte einer Freundschaft von ihren Anfängen 1772 bis zu ihrem bitteren Ende im Jahre 1800. Damit ist es die Geschichte einer Entwicklung – wenn auch einer negativen –. In diesem Sinne spricht Goethe zu Recht von einem Proceß, nämlich in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Prozeß als „Verlauf“ oder „Ablauf“.
Doch weshalb berührt dieser Proceß Goethe und auch seinen Freund Karl Ludwig von Knebel so heftig? Der damals in Deutschland hochverehrte Schriftsteller, heute aber leider ganz in Vergessenheit geratene Jean Paul ist von der Schrift >Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier?< recht angetan und sieht in ihr einen Goldbarren für den deutschen Sprachschatz. Er höre „Vossens Deutsch – als Sprache und als Gesinnung – so gern, schreibt er seinem jungen Freund Professor Heinrich Voß jun. in Heidelberg.(6)
Ebenso Heinrich Heine, der in seiner deutschen Literaturgeschichte, der ‘Romantischen Schule’ konkreter wird: „Das war eine famose Geschichte. Friedrich, Graf von Stolberg, war ein Dichter der alten Schule und außerordentlich berühmt in Deutschland, vielleicht minder durch seine pötische Talente als durch den Grafentitel, der damals in der deutschen Literatur viel mehr galt als jetzt. Aber Fritz Stolberg war ein liberaler Mann, von edlem Herzen, und er war ein Freund jener bürgerlichen Jünglinge, die in Göttingen eine pötische Schule stifteten. … Als nun Fritz Stolberg mit Eklat zur katholischen Kirche überging und Vernunft und Freiheitsliebe abschwor und ein Beförderer des Obskurantismus wurde und durch sein vornehmes Beispiel gar viele Schwächlinge nachlockte, da trat Johann Heinrich Voß, der alte siebzigjährige Mann, dem ebenso alten Jugendfreunde öffentlich entgegen und schrieb das Büchlein »Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?« Er analysierte darin dessen ganzes Leben und zeigte, wie die aristokratische Natur in dem verbrüderten Grafen immer lauernd verborgen lag, wie sie nach den Ereignissen der französischen Revolution immer sichtbarer hervortrat, wie Stolberg sich der sogenannten Adelskette, die den französischen Freiheitsprinzipien entgegenwirken wollte, heimlich anschloß, wie diese Adligen sich mit den Jesuiten verbanden; wie man durch die Wiederherstellung des Katholizismus auch die Adelsinteressen zu fördern glaubte, wie überhaupt die Restauration des christkatholischen feudalistischen Mittelalters und der Untergang der protestantischen Denkfreiheit und des politischen Bürgertums betrieben wurden. Die deutsche Demokratie und die deutsche Aristokratie, die sich vor den Revolutionszeiten, als jene noch nichts hoffte und diese nichts befürchtete, so unbefangen jugendlich verbrüdert hatten, diese standen sich jetzt als Greise gegenüber und kämpften den Todeskampf.
Der Teil des deutschen Publikums, der die Bedeutung und die entsetzliche Notwendigkeit dieses Kampfes nicht begriffen, tadelte den armen Voß über die unbarmherzige Enthüllung von häuslichen Verhältnissen, von kleinen Lebensereignissen, die aber in ihrer Zusammenstellung ein beweisendes Ganze bildeten. Da gab es nun auch sogenannte vornehme Seelen, die, mit aller Erhabenheit, über engherzige Kleinigkeitskrämerei schrien und den armen Voß der Klatschsucht bezichtigten. Andere, Spießbürger, die besorgt waren, man möchte von ihrer eigenen Misere auch einmal die Gardine fortziehen, diese eiferten über die Verletzung des literarischen Herkommens, wonach alle Persönlichkeiten, alle Enthüllungen des Privatlebens, streng verboten seien. Als nun Fritz Stolberg in derselben Zeit starb und man diesen Sterbefall dem Kummer zuschrieb und gar nach seinem Tode das »Liebesbüchlein« herauskam, worin er, mit frömmelnd christlichem, verzeihendem, echt jesuitischem Tone, über den armen verblendeten Freund sich aussprach, da flossen die Tränen des deutschen Mitleids, da weinte der deutsche Michel seine dicksten Tropfen, und es sammelte sich viel weichherzige Wut gegen den armen Voß, und die meisten Scheltworte erhielt er von eben denselben Menschen, für deren geistiges und weltliches Heil er gestritten. …
Indessen die Vossische Polemik wirkte mächtig auf das Publikum, und sie zerstörte in der öffentlichen Meinung die grassierende Vorliebe für das Mittelalter. Jene Polemik hatte Deutschland aufgeregt, ein großer Teil des Publikums erklärte sich unbedingt für Voß, ein größerer Teil erklärte sich nur für dessen Sache. Es folgten Schriften und Gegenschriften, und die letzten Lebenstage des alten Mannes wurden durch diese Händel nicht wenig verbittert. Er hatte es mit den schlimmsten Gegnern zu tun, mit den Pfaffen, die ihn unter allen Vermummungen angriffen. Nicht bloß die Kryptokatholiken, sondem auch die Pietisten, die Quietisten, die lutherischen Mystiker, kurz, alle jene supernaturalistischen Sekten der protestantischen Kirche, die untereinander so sehr verschiedene Meinungen hegen, vereinigten sich doch mit gleich großem Haß gegen Johann Heinrich Voß, den Rationalisten.“(7)
Sollte etwa Goethe zu dem Teil des deutschen Publikums gehören, der die Bedeutung der vossischen Schrift nicht begriffen und nur deshalb „den armen Voß“ mit seinem Gedicht ‘Voß contra Stolberg’ getadelt hat.
Nun, es ist alles andere als eine wohlschmeckende literarische Kost, die Johann Heinrich Voß dem gebildeten Publikum des Biedermeier mit „Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier?“ verabreicht. Nicht nur ein Teil des deutschen Publikums schämt sich ihrer, sondern offensichtlich der ganze in Deutschland tonangebende Literaturbetrieb. Denn die Schrift, die sofort vergriffen ist, erfährt erst gut 150 Jahre später – also erst nach dem zweiten Weltkrieg – ihre Zweitauflage und seit den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts auch eine dritte und vierte Auflage.(8) Schon das ihr vorangestellte Motto wird als eine Provokation aufgefaßt: „Dumm machen lassen wir uns nicht! Wir wissen, daß wir’s werden sollen.“
Mit großer Sprachgewalt greift Voß seinen alten Freund Friedrich Leopold von Stolberg an. Schon in der Einleitung der Stolberg–Schrift geht es wortmächtig zur Sache:
„Nicht länger darf Wehmut um einen Jugendfreund mich überwältigen“;, „da er, mit Selbstberuhigung nicht vergnügt, uns Anderen Ruh und Glückseligkeit zu verkümmern fortfährt, und in dem jüngsten Aufsaz über den Zeitgeist sein rastloses Streben für hierarchische und aristokratische Zwangherrschaft unverhohlen bekennt. Zeugen muß ich, und will ich, ein Greis gegen den Greis, eingedenk, daß wir bald jenseits, wo kein Ritter noch Pfaff schaltet, den Gebrauch der anvertraueten Talente verantworten müssen. Nicht frank und getrost für die Wahrheit gezeugt zu haben, wäre das erste, was ich nach dem Erwachen aus dem lezten Schlummer zu bereuen hätte.“
Voß fährt fort: „Wie ein Mann von Friedrich Leopold Stolbergs Geiste,… – wie ein solcher Mann im fünfzigsten Jahre es vermocht habe, den Glauben der Väter … und der nachmaligen Jugendfreunde, .. zu verleugnen und aus dem Lichte des geläuterten Evangeliums in die Nacht Hildebrandischer Verunreinigung überzugehn, aus freier Kindschaft sich zur unwürdigsten Sklaverei zu erniedrigen? Diese Frage hab’ ich seit achtzehn Jahren oft abgelehnt, oft flüchtig beantwortet. Zur genügenden Antwort ist unvermeidlich eine aufrichtige Darstellung, welcher Art Stolbergs Geist sei und wie ein so gearteter Geist auf seinem allmählichen Fortgange zu dem befremdenden Ziele gedacht und gehandelt habe. … Stolberg, der nie in sein Inneres sah, wird auffahren bei dem Bilde, das ich ihm zeigen muß. Sei es ihm ein Gesicht von Gott; und erheb’ er sich zu dem Entschluß, noch hier wieder gutzumachen, was er kann!“
Stolbergs Konversion:
Für Voß ist Stolberg dadurch unfrei geworden, daß er „aus dem Lichte des geläuterten Evangeliums in die Nacht Hildebrandischer Verunreinigung“ übergegangen ist. Mit Hildebrandisch – Hildebrand ist der frühere Name des Papstes Gregor VII., der Kaiser Heinrich IV. zum Gang nach Canossa gezwungen und die Herrschaft und Oberhoheit des Papstes über die weltlichen Mächte durchgesetzt hatte – pflegt Voß kirchliche Despotie und Obskurantismus zu bezeichnen. Vordergründig geht es in Vossens Schrift also um den Abfall Stolbergs von protestantischer Freiheit und der Zuflucht ins katholische Gefängnis. In der Tat war Friedrich Leopold von Stolberg – ein Protestant zinsendorfscher Prägung – gemeinsam mit seiner zweiten Gattin Sophie am 1. Juni 1800 zum katholischen Bekenntnis konvertiert. Wir wundern uns heute darüber, daß Voß die Konversion überhaupt zu einem Thema gemacht hat. Hat Voß etwa die gebotene Toleranz vermissen lassen? Sollte auch wir mit den meisten Zeitgenossen Vossens die peinliche Affäre ruhen lassen? Ich meine nein. Denn diese Affäre ist für die deutsche Geistesgeschichte von großer Bedeutung.
Um Voß gerecht zu werden, ist sein Handeln vor dem Hintergrund seines Zeitverständnisses zu beurteilen. Wir befinden uns im Zeitalter der Aufklärung; – gerade erst hat man entdeckt, daß viele Glaubensvorstellungen nichts als Aberglaube und Wunderglaube sind. Der allseits verehrte Schriftsteller Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719 – 1803) aus Halberstadt, wegen seiner väterlichen Fürsorge für junge Pöten „Vater Gleim“ genannt, hat das religiöse Empfinden des aufgeklärten Bürgers in einem Zwiegespräch eingefangen:

„A. Willst Du nicht auch die Messe hören?
Mit Rauch und Rosenkranz
Den Gott in der Monstranz
nicht auch verehren?

B. Ich danke, danke ganz
Ergebenst! Der in meiner Bibel,
Der Rauch nicht liebt,
und der in Herzensandacht still
Von mir verehrt sein will,
Der nähme mir es übel!“(9)

Sogar der aufgeschlossene Herder vergleicht die römische Kirche mit einer alten Ruine, in die kein neues Leben mehr einziehen kann.(10) Ausgerechnet in eine solche Zeit fällt die Konversion Friedrich Leopold von Stolberg zum Katholizismus. Das aufgeklärte Bürgertum ist zutiefst irritiert und erschüttert. Im späteren Rückblick schreibt Goethe: „Im Öffentlichen machte der Übertritt Stolberg’s … eine unglaubliche Sensation …“. Ebenso Friedrich Schlegel: „Der Übertritt Stolberg’s ist für ganz Deutschland wie ein öffentliches Ereigniß, das Jeden berührt, der an den höheren Fragen in Kirche und Staat irgend einen Antheil nimmt.“ Wie ist es möglich, daß ein doch ganz der Privatsphäre zuzurechnendes Geschehen wie ein Konfessionswechsel eine derartige Beachtung findet? Nun, als privat wird die Konversion einer im öffentlichen Leben stehenden geachteten Persönlichkeit keineswegs empfunden. Für die damalige aufgeklärte geistige Elite in Deutschland, zu der sich auch Voß zählt, bedeutet Stolberg’s Konversion nichts anderes als Verrat an der Vernunft. Kann ein solcher Mann im öffentlichen Leben – und Stolberg hat darin eine große Rolle gespielt – noch weiter ernst genommen werden, wenn er sich dem finsteren Mittelalter verschreibt.
Nicht nur Voß nimmt die Hinwendung zum Katholizismus in diesem Sinne wahr. Der damals in Eutin lebende Philosoph, Schriftsteller und spätere Präsident der Akademie der Wissenschaften Friedrich Heinrich Jacobi (1743 -1819) ist unerbittlich, als Stolbergs Ehefrau Sophie ihn über die gemeinsame Konversion in Kenntnis setzt. Schroff antwortet er Sophie von Stolberg am 2. August 1800: „Ich kann es unmöglich für eine redliche Überzeugung halten, wenn ein Evangelischer Papist wird.“(11) Und dann holt Jacobi – den Fichte immerhin für den tiefsten Denker seiner Zeit erklärt und ihn weit über Kant und sich selbst setzt (12) – aus: Der Papismus sei unbiblisch; wer sich ihm verschreibe, unterwerfe sich einem Tyrannenzepter und einem mechanisch-buchstäblichen Gesetz. Was die Römisch–katholische Religion zu einer besonderen Religion mache, sei rein ungöttliches Wesen. Sie rotte das Gewissen aus und mache den lebendigen Gott zum Lehnsträger ihrer lächerlichen Götzen. Schließlich wird Jakobi – der doch unter den Dichtern und Philosophen als Gentleman gilt – auch noch persönlich: Voller Ekel sehe er einen künftigen Stolberg, der mit Rosenkranz und Kerze, sich mit Weihwasser besprengend, irgend einem Pfaffen die Schleppe tragend, Gebete plappernd und barfuß in einer Prozession das Kreuz schleppe. Er höre nur das Hohngelächter der Hölle, gegen das auch Sophie und Friedrich Leopold vergebens ihre Ohren verstopfen werden. Und dann folgt Jacobis Aufkündigung der Beziehung zum Ehepaar Stolberg: „Keineswegs erwarte ich, mit alledem eine Gesinnungsänderung bei Ihnen herbeizuführen, vielmehr: Ich schreibe Ihnen einzig und allein, damit es Ihnen ebenso schauderhaft bey dem Gedanken werde, mein Angesicht wieder zu sehen, als es mir schauderhaft wird bey dem Gedanken, das Ihrige und Stolbergs wiederzusehen. Ich werde fliehen … Stolbergs Gegenwart würde mich tödten … In andern Armen will ich über ihn weinen, den so tief, tief, tief Gefallenen.“ Mit den Worten: „Wir sehen uns nicht wieder!“ schließt der hemmungslose Erguß. Die peinlichen Ereignisse jener Tage entbehren zuweilen nicht des tragikomischen Elements. Voß berichtet, Stolberg sei trotz Jacobis Verbot nach Erhalt des Briefes sogleich in dessen Haus gestürmt. Jacobi habe jedoch durch den Garten entwischen können.
Keineswegs nur für Voß und Jacobi, auch für den Fürstbischof und Herzog Peter Friedrich Ludwig und selbst für den maßvollen Johann Wolfgang von Goethe bedeutet Stolbergs Konversion das Ende einer persönlichen Beziehung . Täuschen wir uns nicht; – auch Goethe kennt in diesem Punkt keine Toleranz, wenn wir schon die damaligen Vorgänge mit unseren Maßstäben messen wollen. Er billigt in seiner 1804 erschienenen Rezension der lyrischen Gedichte von Johann Heinrich Voß ausdrücklich dessen Protest gegen Stolbergs Rückschritt „in jenes alte, von unseren Vätern mit Kraft bekämpfte, seelenbedrückende Wesen und allgemein gegen Schnellglauben und Aberglauben, gegen alle den Tiefen der Natur und des menschlichen Geistes entsteigenden Wahnbilder, gegen Vernunft verfinsternde, den Verstand beschränkende Satzungen, Macht- und Bannsprüche, gegen Verketzerer, Baalspriester, Hierarchie, Pfaffengezücht, und gegen ihren Urahn, den leibhaftigen Teufel.“ Dreist sei es, heißt es bei Goethe mit deutlicher Spitze gegen den Katholizismus jener Zeit, wenn Intoleranz Toleranz fordere.(13) Unverblümt notiert Goethe 1801 in seinen Tag– und Jahresheften: „Stolbergs öffentlicher Übertritt zum katholischen Kultus zerriß die schönsten früher geknüpften Bande“.
Peter Friedrich Ludwig entläßt gar den von ihm zuvor so geschätzten Grafen unverzüglich aus dem holsteinisch–oldenburgischen Staatsdienst. Im Zeitpunkt seiner Konversion ist Stolberg nicht mehr Landvogt in Neuenburg, als der er uns hier im Oldenburgischen noch in Erinnerung ist. Die Neuenburger Zeit ist 1788 mit dem Tode seiner ersten Frau Agnes zu Ende gegangen. Seitdem ist Stolberg die Karriereleiter emporgeklettert und hat es 1791 in Eutin zum dortigen höchsten Verwaltungsbeamten, zum Kammerpräsidenten des Fürstbistums, gebracht; – heute würde man dazu ‘Regierungspräsident’ sagen. Das Fürstbistum Lübeck ist nach dem Dreißigjährigen Krieg im westfälischen Frieden von 1648 zum einzigen rein evangelischen Bistum erklärt worden. Selbstverständlich ist der Fürstbischof Peter Friedrich Ludwig, der nur im 1773 hinzugewonnenen Oldenburgischen Gebiet als Herzog regiert, ein Protestant, – und zwar ein ganz nüchterner evangelisch–lutherischer Protestant.
Stolberg weiß natürlich, daß er evangelisch–lutherisch sein muß, um Kammerpräsident sein zu können, – zumal mit seinem Amt auch die Aufsicht über die Angelegenheiten der evangelisch–lutherischen Kirche im Fürstbistum verbunden ist. Und deshalb bittet er nach seiner Konversion den Fürstbischof von sich aus um seine Entlassung. In seinem Brief vom 17. Juli 1800 – ein einzigartiges Zeitdokument für den damaligen Umgang mit der Landesherrschaft – heißt es: „Gnädigster Herr! Ich fühle mich sehr beklommen, gnädigster Herr, indem ich Ihnen diese Zeilen schreibe! Je tiefer durchdrungen von Ihrer Gnade, deren ich mich nun schon so lange erfreue, je gerührter ich von den edlen Eigenschaften meines so innig verehrten und innig geliebten Fürsten bin; desto schwerer wird es mir, diesen Schritt zu thun, vor dem mir schauert, Ew. Durchlaucht um gnädige Entlassung aus Ihren Diensten zu bitten. Weit entfernt von irgend einer Art von Unzufriedenheit würd’ ich diese Bitte nicht thun, wenn ich mich nicht in einer Lage befände, welche sie mir zur Pflicht macht.
Schon seit verschiedenen Jahren, gnädigster Herr, ward ich von Religionsskrupeln beunruhigt. Unerschüttert in meinem Glauben an das Evangelium, sah ich das System der Religionspartei, welche sich die evangelische nennet und in welcher ich geboren ward, einstürzen. Ich ward zur Prüfung des wahren Christenthums veranlaßt und fand es in der katholischen Kirche. Ich habe lange geprüft, gnädigster Herr, und spät, mit vollkommenster Überzeugung . .. den großen Schritt gethan, welcher mich zum Mitgliede dieser Kirche macht. Als solches kann und darf ich nicht Präsident … bleiben. Die Stelle Ihnen, gnädigster Herr, persönlich zu Füßen zu legen, wollen Sie mir gnädigst erlauben, …“(14)
Und so geschieht es; – die Entlassung ist nur noch eine Formsache. Schon zwei Wochen später erwidert der Fürstbischof: „Hochgeborener Graf! Ihr Schreiben vom 17. d. Mts. Liegt vor mir; es zu beantworten ist meine wenn gleich traurige Pflicht. Da Sie nach dem Schritt, den Sie thaten, wie Ew. Hochgeboren selbst sagen, nicht Präsident .. . sein können, so ist es freilich eine Selbstfolge das zurückzunehmen, was ich Ihnen anvertraute, dem Sie nicht mehr vorstehen dürfen, und wovon ich hoffte, daß Sie der Tod nur trennen würde.“ Peter Friedrich Ludwig fühlt sich durch Stolbergs Schritt persönlich tief gekränkt und fügt hinzu: “ … erlauben Sie mir hinzu zu setzen, daß Sie mich und die mit mir gleich über Sie denken, ungemein betrübt haben. … ; daß Sie … , mit krankem Herzen zu lebhafter Phantasie und siechem Körper, keinen Freund mehr haben wollten, keinen mehr zu befragen hatten über die vielen Ihnen gewiß selbst noch verborgenen Folgen jenes Schrittes, dessen Billigung Sie gewiß von mir, der ich einer verschiedenenen Überzeugung lebe, nicht erwarten, dies bekümmert mich und Ihre Freunde so wie manchen redlichen Mann ungemein. Gebe Gott, den wir auf verschiedene Weise anbeten, daß Sie die Ruhe finden, von der ich Sie weit entfernt glaube, und die ich und Ihre Freunde Ihnen von so ganzem Herzen wünschen, als wir Ihnen willig die Sorgen verzeihen, die Sie uns verursachen.“(15)
Friedrich Leopold von Stolberg dankt mit den Worten: „Gnädigster Herr! Mit der tiefsten Rührung lege ich mich Ew . Durchlaucht zu Füßen und danke unterthänig für die Erhaltung meiner Entlassung, um welche ich unter anderen Umständen nicht würde gebeten haben. … Nehmen Sie, gnädigster Herr, meinen unterthänigsten und gerührtesten Dank für so viel Gnade, mit welcher Sie mich überhäuft haben, und erlauben Sie mir, ehe ich diesen mir lieben Ort verlasse, mich Ihnen wenigstens noch einmal zu Füßen zu legen.“(16) Wie sehr hat sich doch seitdem der Umgang mit dem Dienstherrn verändert!
Aber kehren wir zu Vossens scheinbarer Intoleranz zurück. Vor dem Hintergrund des damaligen Zeitgefühls, das sich – nur als Beispiel – in den ablehnenden Reaktionen Jacobis, Goethes und Peter Friedrich Ludwigs auf Stolbergs Konversion äußert, erscheint es mir als unredlich, Vossens heftige Ablehnung einseitig auf mangelnde Toleranz zurückzuführen. Es herrscht ein anderer Zeitgeist, den wir nicht nach unseren Maßstäben richten dürfen.
Problematischer an der über 100 Seiten langen Streitschrift „Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier?“ erscheint mir demgegenüber, daß Voß sich die Gelegenheit nicht hat entgehen lassen, die Geschichte der inneren Entwicklung Stolbergs zum Katholiken mit der Geschichte der Entwicklung ihrer gemeinsamen Freundschaft zu verknüpfen. Diese Verknüpfung vor allem stößt auch bei Wohlmeinenden wie bei Goethe — anders als bei Heinrich Heine — auf strikte Abneigung.
Geschichte der Freundschaft:
Grundsätzlich geht eine Freundschaft nur die Freunde an; schon gar nicht hat die Öffentlichkeit ein Informations– oder gar Mitspracherecht, wenn die Freundschaft zerbricht. Voß hat diese Problematik selbst erkannt: In einem Anhang über persönliche Verhältnisse schreibt er: „Sei das alles auch wahr, sagen Gutmütige, doch muß der Freund nicht den Freund verklagen!“ Und Voß gibt sich selbst die rechtfertigende Antwort in Form rhetorischer Fragen: „Auch nicht den Freund, der auf Böses ausgeht? der in arger Verbindung öffentliches und besonderes Wohl gefährdet? der des Freundes Warnung und Flehn abwies mit hartnäckiger Entschlossenheit? der mit gehäufter hohnvoller Beleidigung die Freundschaft vorlängst aufhob?“(17)
Diesem Freundschaftsbund zwischen Voß und Stolberg haftet indes eine Besonderheit an. Die Freundschaft ist aufgrund eines Mißverständnisses zustande gekommen. Während des gemeinsamen Studiums in Göttingen meint Voß, in dem Reichsgrafen Friedrich Leopold von Stolberg einen gleichgesinnten Freiheitsrufer gewonnen zu haben. Nachdem im Dezember 1772 der hochgestellte Reichsgraf aus deutschem Uradel, der überdies mit dem großem Idol Friedrich Gottlob Klopstock (1724 – 1803) in persönlichem Kontakt steht, nachdem gerade dieser Stolberg gemeinsam mit seinem Bruder Christian in den u.a. von Voß und Hölty gegründeten Dichterbund ‘Göttinger Hain’ um Aufnahme bittet, kennt Vossens Begeisterung für Stolberg keine Grenzen und schreibt ihm ein Huldigungsgedicht:

Achl Nah’ ich Hermanns edlem Sohn?
Ich staun’! Umarm’ ich ihn,
Den Freiheitsrufer? Ich? den Mann,
Den Klopstock liebt?
Ich tu’s, und sag’ umarmend ihm,
Nicht fein, nach Höflingsbrauchl
Neinl grad und deutsch: Dich liebt mein Herz,
Und ist dein werthl

Stolberg ist gerührt und reicht Voß die Hand zum Freundschaftsbund, — ohne ihm allerdings das unter den Freunden des Dichterbundes übliche freundschaftliche „Du“ anzubieten. In all den Briefen, die die beiden in den folgenden 28 Jahren austauschen, und trotz aller späteren gegenseitigen Besuche bleibt es stets beim distanzierten „Sie“. Voß nimmt dies hin, zumal Stolberg ihm mit einer Ode dankt:

Im deutschen Herzen wohnet dir
Empfindung, edler Voß!
Sie schaut aus deinem deutschen Blick,
Sie stimmt dein Lied!

Dein Lied, o Sohn der Harmonie,
Das Stand und Fessel höhne,
Und mutig der Unsterblichkeit
Entgegenschwebe,

Wie fühl’ ichs! Aber theuer ist
Mir, Freund, dein deutscher Sinn.
Dich liebt mein ganzes warmes Herz,
Und ist dein werth!(18)

Gravierender als das vorenthaltene ‘Du’ wiegt, daß es Voß — offenbar im Überschwang seiner Gefühle — entgeht, daß Stolberg sein ausgeprägtes Standesbewußtsein bewahrt. Stolberg fühlt sich den regierenden Fürsten rechtlich gleichgestellt. In einem Brief aus jener Zeit an seinen Bruder Christian heißt es: „Ey for shame, was sagst Du von unserm 900jährigen Adel? Waren nicht vor 1000 Jahren unsre Väter Beherrscher von Sachsen? Hör, das ist für kein Gold zu geben, daß alter Adel Gottes Werck ist, nicht durch Menschenwillen, uns hat weder König geadelt, noch Pabst, noch Kaiser, sondern weil unsre Väter starck waren u: tapfer[,] herrschten sie von Natur. Von Natur, das ist das wahre Von Gottes Gnaden.“(19) Und nach Vossens Lobgesang auf die Errungenschaften der französischen Revolution scheut sich Stolberg nicht, in einem persönlichen Gespräch mit Voß klarzustellen, daß „der Adel ein edlerer Menschenstamm von eigenem Ehrgefühl sei, erhaben über die niedrige Denkart der Unadligen und dadurch zu Vorzügen berechtigt.“ „Wer, Teufel!“ ruft Stolberg, „kann uns nehmen, was unser ist?“ — „Wer’s euch gab“, erwidert Voß, „die Meinung“.“ Im Weggehn ruft Stolberg durch die halboffene Tür zurück: „Verzeihn Sie mir meinen Schuh, ich verzeih Ihnen den Barfuß.“ Voß schreibt sich im stillen Kämmerlein mit einem Epigramm seinen Ärger von der Seele:

„Edlere nennst du die Söhne Gewappneter, die in der Vorzeit
Tugend der Dogge vielleicht adelte oder des Wolfs?
Was dich erhob vom Adel, die edlere Menschlichkeit, schmähn sie
Als unadligen Tand. Nenne sie Adlige, Freund.

Tatsächlich ist Stolbergs Freiheitsschwärmerei wenig konkret und eher ständisch geprägt. Zwar verabscheut auch er Willkür der Gewalt und fordert eine wohlgeordnete Verfassung unter gesetzlicher Obrigkeit. Doch stellt er sich dabei eine Rechtsordnung mit adeligem Vorrecht vor. Voß formuliert es in der Streitschrift von 1819 so: „Sie wollten nicht gleiches Gesetz und Recht, sondern was damals in Pohlen und vor 1772 in Schweden Freiheit hieß: Beschränkung der Obermacht durch Geburtsadel, Freiheiten der vornehmen Geschlechter, Oligarchie.“(20) Stolbergs jüngster Biograph Dirk Hempel teilt diese Einschätzung Vossens. In seinem vor zwei Jahren erschienenen Werk „Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750 – 1819) . Staatsmann und politischer Schriftsteller“ weist Hempel im einzelnen nach, daß Stolbergs Kampf gegen die absolutistische Monarchie nicht mißverstanden werden darf als Kampf für Demokratie. Stolberg führt seinen Kampf gegen die Entmachtung des Adels durch den absolut herrschenden Monarchen und strebt wieder die Aristokratie als die Herrschaft der Besten an. Eine Mitwirkung des einfachen Bürgers am staatlichen Leben ist bei Stolberg nicht vorgesehen.(21) Als aus Stolbergs Sicht durch die französische Revolution nach 1789 die Gefahr einer Volksherrschaft droht, zieht er es vor, sich doch lieber auf die Seite der Monarchie zu schlagen. Dazu schreibt er 1794: „Derjenige muß noch am ABC der Politik studieren, der die Tyrannei nur im Mißbrauch der monarchischen Gewalt findet. … Des Volkes Despotismus ist der fürchterlichste von allen, hat aber keinen Bestand. Der Pöbel ist immer unmündig. … Demokratischer Depotismus [ist] das schrecklichste aller politischen Übel.“(22) Der oldenburgische Kammerherr von Hennings hat Stolbergs Haltung selbst erlebt; — wir erfahren davon aus einem Bericht von Hennings an den Oldenburger Justiz– und Kanzleirat Gerhard Anton von Halem: Als von Hennings im Juli 1794 in Eutin mit Stolberg und Voß zusammentrifft, kommen sie auch auf die Kämpfe Österreichs und Preußens gegen das revolutionäre Frankreich zu sprechen. Ohne Partei nehmen zu wollen, bemerkt von Hennings, es sei ja der Anschein da, daß wir Frieden bekommen werden. Kaum hat er ausgeredet, eilt Stolberg eiligst ohne Abschiedsgruß zur Tür hinaus. Erstaunt fragt von Hennings den zurückbleibenden Voß: „Mein Gott, was ist nur geschehen, daß Stolberg so eilig davonläuft?“ — „Es war genug“, antwortet Voß, „um ihn außer Fassung zu bringen, daß Sie von der Möglichkeit eines Friedens mit den Kannibalen redeten. Er fühlte, daß er nicht Herr seines Zornes war, und entfloh, um ihn nicht ausbrechen zu lassen“. Von Hennings schließt seinen Brief an von Halem mit den Worten: „Es thut mir leid um den sonst so braven und ehrlichen Mann, den ich schätze und liebe. Aber sein Fanatismus gränzt an Raserei.“(23)
Bruch der Freundschaft zwischen Voß und Stolberg.
Und so arbeitet die französische Revolution auch im Stillen und trägt an der Zerstörung der Freundschaft zwischen Voß und Stolberg bei. Jeder der beiden nimmt auf seine Weise Partei. Johann Heinrich Voß beobachtet völlig zu Recht, daß aus dem scheinbaren Freiheitskämpfer Stolberg ein Feind bürgerlicher Freiheit geworden ist.
Einen objektiven Beleg dafür haben wir hier in Oldenburg. Noch bevor die Freundschaft mit Voß zerbricht, beendet Friedrich Leopold von Stolberg sein freundschaftliches Verhältnis zu Gerhard Anton von Halem — das doch während Stolbergs Neuenburger Zeit als Landvogt (1785 – 1788) so herzlich war — schroff und unwiderruflich. Stolberg ist zu Ohren gekommen, daß von Halem zum Tode des Freundes Adolph Freiherr von Knigge 1796 einen ehrenden Nachruf verfaßt hat. Der in die Form einer Ode gegossene Nachruf rühmt Adolph Knigge als mutigen Kämpfer für Wahrheit und Verfolger des Trugs. Bei von Halem heißt es, Knigge habe nur den Adel anerkannt, der bewährt sei durch das Verdienst, fürstliche Thorheit habe Knigge nicht für heilig erklärt.(24)
In seinem letzten Brief an von Halem begründet Stolberg die Aufkündigung der Freundschaft mit den Worten: „Gleiche Denkart in den wichtigsten Dingen verbindet die Menschen. In Verbindung mit dem ernsten Bestreben, dieser Denkart gemäß zu wirken, wo man kann, ist sie die Basis der Freundschaft unter Männern. — Wenige haben mein moralisches Gefühl so empört, sind mir so zum Abscheu gewesen, wie der verstorbene Knigge. Warum? Das bedarf ich Ihnen nicht zu sagen. — Sie haben ihn öffentlich gelobt, den Mann, dessen ganzes Dichten und Trachten nur Eine Tendenz hatte, eine Tendenz, welche Ihnen am wenigsten unbekannt war, und welche! — Alles was mir heilig ist, war dem Manne zuwider. Was er zu befördern suchte, war mir Gräuel, und wird es immer sein. Wie könnte ich mit seinem Schatten einen Freund in Gemeinschaft haben?“(25)
Um die Zeit von Knigges Tod häuften sich auch zwischen Voß und Stolberg heftige Szenen. Nach einem ersten Höhepunkt der Krise im Winter 1794/95 geht es mit der Beziehung immer weiter bergab. Der Schlußstrich wird praktisch schon 1798 gezogen. Stolberg wirft Voß vor, im Schulunterricht seine Söhne vor der Klasse aufgefordert zu haben mitzuteilen, wie viele Sklaven ihr Vater habe; – mit ‘Sklaven’ sind die häuslichen Bedienten Stolbergs gemeint. Voß weist die Anschuldigung nachdrücklich zurück und stellt klar, stets die Überzeugung vertreten zu haben, daß Geburtsadel allein kein Vorrecht vor anderen gebe, man müsse sich selbst hervortun. (26) Für Stolberg reicht dies; er macht seine schon länger gehegte Absicht wahr, nimmt seine Söhne aus Vossens Unterricht und läßt sie privat unterrichten. Seine Motive werden in einem Brief deutlich, den er der Fürstin Gallitzin schreibt: „Voß und auch sein Gehilfe sind so angesteckt vom Gifte der Zeit, daß sie ihn ohne natürlichen Anlaß in den Unterricht einfließen lassen. Jesus Christus sehen sie nur als einen von Gott mit besonderen Gaben ausgerüsteten Mann an, die Geschichten der Heiligen Schrift sind ihnen nur Fabeln.“ Voß zeige „politischen Aberwitz“, „blinde Parteilichkeit für die Franzosen“, habe „citoyen Sinn“. Voß ist erschüttert, sich selbst aber keiner Schuld bewußt. In einem Brief an ‘Vater Gleim’ versichert er, nichts falsches unterrichtet zu haben und nennt Stolberg — bereits zwei Jahre vor dessen Konversion — einen ‘ächtkatholischen Christen’.(27) In den noch verbleibenden zwei Jahren bis zur Konversion Stolbergs haben sich die beiden Freunde nicht mehr viel zu sagen. Die Form wird gewahrt. Doch die Gegensätze sind nicht mehr zu überbrücken. Voß, der Rationalist, der die orthodoxe Kirchenpraxis und –lehre aufklärerisch reinigen will, immer noch ein Anhänger der Ideen der französischen Revolution trotz aller aufgetretenen Scheußlichkeiten, — Stolberg dagegen der erklärte Feind der Revolution, der mehr und mehr Umgang mit den katholischen Freunden der Fürstin Gallitzin aus Münster pflegt. So erscheint Stolberg der Vossischen Familie nur noch als „ein Gemisch von Wärme und starrer Kälte“, bei dessen Miene, „auch wenn der Mund warm spricht, das Herz einen Frostschauer empfindet.“ Als Stolberg unmittelbar nach der Konversion aus Eutin nach Münster übersiedelt, kommentiert Voß den Wegzug mit Erleichterung und Trauer: „Unsere Stürme sind überstanden; aber die Gestade liegen voll Wrack, und ein Freund ist verloren! Nicht bloß abgestorben, nein, Unfreund geworden, mit den Seinigen. … Nach sieben qualvollen Jahren fanden wir unsere alte Ruhe im Innern und Äußern wieder.“
daß Voß dann doch wider alles Erwarten diesen qualvollen Prozeß achtzehn Jahre später mit seiner Streitschrift „Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier?“ aufwärmt, erklärt sich aus seiner Befürchtung, die Romantik könne vielleicht doch über die Aufklärung siegen. Auf evangelischer Seite ist die Erweckungsbewegung in vollem Gang und dem Katholizismus strömen alle möglichen prominenten und halbprominenten Geister nur so zu. Vossens ältester Sohn, der Heidelberger Professor Heinrich Voß jun., beantwortet dem väterlichen Freund Jean Paul die Frage: ‘Warum jetzo diese Schrift nach 18 langen Jahren?’: „Der Hauptgrund liegt in der gegenwärtigen Zeit; mein Vater hat sich innerlich aufgefordert gefühlt zu reden, wo die Theologen schweigen; Nacht und Tag nicht hat er Ruhe.“ (28)
Und in der Tat; — 1818 ist Stolberg’s Schrift „Über den Zeitgeist“ erschienen, in dem der Reichsgraf vor hochtönenden Worten wie Freiheit, Recht und Gleichheit warnt, da mancher diese Begriffe falsch deute. Er empfiehlt zum Schutz dagegen die allein wahre Religion, die er die Kirche Deutschlands nennt. Stolberg hält den Zeitgeist für gottlos, weil er Gott vergessen und Gott daraufhin von uns sein Antlitz abgewandt und die Völker ihrem bösen Schwindel überlassen habe, auf daß sie durch Elend ermürben möchten. „Aber der Zeitgeist würde sich lieber dem Aberglauben der olympischen Götterverehrung fügen, als den Vorschriften des Evangeliums. Jener ließ den Lüsten, der Herrschsucht, der Eitelkeit, der Habsucht freyes Spiel, und die Ausübung politischer Tugend belohnte sich durch des Stolzes selbstgefälligen Genuß. Was aber auf solcher Grundlage beruhete, hatte mehr Glanz als Würde, hatte keinen dauernden Bestand. Die ganze alte Geschichte ist ein zwar sehr unterhaltendes, lehrreiches und großes, aber grauenvolles Gemählde von Umwälzungen der Reiche, Unterjochung der Völker, Vertilgung ganzer Nationen.“ (29)
Wie konnte Voß da ruhig bleiben? Einen Grund für seine Befürchtungen um den Bestand errungener bürgerlicher Freiheiten hat Stolberg ihm geliefert.
Goethe hat in seiner Nachbetrachtung von 1820 über ‘Voß und Stolberg’ weniger diese gesellschaftspolitischen Ängste Vossens im Auge, sondern ordnet den Prozeß einer langsam, aber stetigen Aushöhlung einer Freundschaft ebenso wie eine Ehescheidung ganz der Privatspäre zu:
„Man erlebt wohl, daß nach einem zwanzigjährigen Ehestand ein im geheimen rnißhelliges Ehepaar auf Scheidung klagt, und jedermann ruft aus: warum habt ihr das so lange geduldet, und warum duldet ihr’s nicht bis ans Ende? Allein dieser Vorwurf ist höchst ungerecht. Wer den hohen würdigen Stand, den die eheliche Verbindung in gesetzlich gebildeter Gesellschaft einnimmt, in seinem ganzen Werte bedenkt, wird eingestehen wie gefährlich es sei, sich einer solchen Würde zu entkleiden; er wird die Frage aufwerfen: ob man nicht lieber die einzelnen Unannehmlichkeiten des Tags, denen man sich meist noch gewachsen fühlt, übertragen und ein verdrießliches Dasein hinschleifen solle, anstatt übereilt sich zu einem Resultat zu entschließen, das denn leider wohl zuletzt, wenn das Fazit allzulästig wird, gewaltsam von selbst hervorspringt.
Mit einer jugendlich eingegangenen Freundschaft ist es ein ähnlicher Fall. Indem man sich in ersten, hoffnungsreich sich entwickelnden Tagen einer solchen Verbindung hingibt, geschieht es ganz unbedingt; an einen Zwiespalt ist jetzt und in aller Ewigkeit nicht zu denken. Dieses erste Hingeben steht viel höher als das von leidenschaftlich Liebenden am Altar ausgesprochene Bündnis, denn es ist ganz rein, von keiner Begierde, deren Befriedigung einen Rückschritt befürchten läßt, gesteigert. Und daher scheint es unmöglich einen in der Jugend geschlossenen Freundschaftsbund aufzugeben, wenn auch die hervortretenden Differenzen mehr als einmal ihn zu zerreißen bedrohlich obwalten.
Bedenkt man die Beschwerden von Voß gegen Stolberg genau, so findet sich gleich bei ihrem ersten Bekanntwerden eine Differenz ausgesprochen, welche keine Ausgleichung hoffen läßt: Zwei gräfliche Gebrüder, die sich beim Studentenkaffee schon durch besseres Geschirr und Backwerk hervortun, deren Ahnenreihe sich auf mancherlei Weise im Hintergrunde hin und her bewegt, wie kann mit solchen ein tüchtiger, derber, isolierter Autochthon in wahre dauernde Verbindung treten? Auch ist der beiderseitige Bezug höchst lose; eine gewisse jugendliche liberale Gutmütigkeit, bei obwaltender ästhetischer Tendenz, versammelt sie ohne zu vereinigen: denn was will ein biß–chen Meinen und Dichten gegen angeborne Eigenheiten, Lebenswege und Zustände! …
Die Möglichkeit aber, daß eine solche Quälerei so lange geduldet, eine solche Verzweiflung fortgesetzt werden konnte , ist nicht einem jeden erklärbar … . Stolberg mit etwas mehr Kraft, Voß mit etwas weniger Tenazität (d.i. Hartnäckigkeit) hätten die Sache nicht so weit kommen lassen. Wäre auch eine Vereinigung nicht möglich gewesen, eine Trennung würde doch leidlicher und läßlicher geworden sein.
Beide waren auf alle Fälle zu bedauern; sie wollten den früheren Freundschaftseindruck nicht fahren lassen, nicht bedenkend, daß Freunde, die am Scheidewege sich noch die Hand reichen, schon voneinander meilenweit entfernt sind. Nehmen die Gesinnungen einmal eine entgegengesetzte Richtung, wie soll man sich vertraulich das Eigenste bekennen! (30)
Die beiden Großen, Johann Wolfgang von Goethe und Harry Heine, haben den Vossisch–Stolbergschen Kampf zutreffend analysiert; – jeder spiegelbildlich zum eigenen Naturell. Während Goethe mehr die private Seite im Blick hat, hebt Heine die gesellschafts–politische Bedeutung des Kampfes hervor. Und so muß jeder für sich zu einer eigenen Bewertung dieser Auseinandersetzung gelangen. Von der Bedeutung dieser Auseinandersetzung für die deutsche Geistesgeschichte jedenfalls legt die Vielzahl der Kommentare, von denen ich nur einen kleinen Bruchteil zitieren konnte, ein beredtes Zeugnis ab.(31) Fremd sind uns die unterschiedlichen Positionen von Voß und Stolberg zumindest in ihrem Kern nicht; — dieser begnügt sich mit dem Bewährten und läßt daran nur die notwendigen Korrekturen zu, jener will das ganz Neue in der Hoffnung um grundlegende Verbesserung wagen und will sich darin nicht aufhalten lassen. Und so spiegelt sich in dem Kampf der beiden alten Freunde die gesellschaftliche Auseinandersetzung wider. Ganz gewiß war es so vor 200 Jahren, von der Epoche der Aufklärung zu jener der Romantik.

Anmerkungen:
(1) J. W. v. Goethe, Voß contra Stolberg (1820), In: Gesamtausgabe Bd. 4, S. 96
(2) J. W. v. Goethe, Dichtung und Wahrheit, 4. Teil, 18. Buch
(3) J. W. v. Goethe, Tag- und Jahreshefte (Ende des Abschnitts 1801)
(4) Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 24. Aufl., Wiesbaden, 1949, S. 516/517, Gespräch im Oktober 1827
(5) Knebel II. S. 262
(6) in: Die Briefe Jean Pauls, Band IV, München 1926, 28, 51 f., 189, hrsg. von Ed. Berend; Briefe von Heinrich Voß, hrsg. von Abraham Voß, Heidelberg, 1833-1838, Bd. I, S. 69, 87, 111
(7) Heinrich Heine’s sämmtliche Werke. Über Deutschland. Zweiter Theil. Die Romantische Schule, 1868, Band VI, S. 62 – 67
(8) in: Streitschriften über Stolbergs Konversion, Bern und Frankfurt/M, 1973, als Faksimile, S. 1 – 113, in: VOSS, Werke, Berlin und Weimar, 5. Aufl., 1976, S. 297 – 399, mit Anmerkungen, und in: „Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier? beantwortet von Johann Heinrich Voß“, mit Index nominum und Nachwort, hrsg. von Jürgen Manger, Heidelberg 1984, als Faksimile
(9) in: Streitschriften über Stolbergs Konversion (Anm. 8), S. 193
(10) Nachweise bei Detlev W. Schumann: Aufnahme und Wirkung von Friedrich Leopold Stolberg’s Übertritt zur Katholischen Kirche, Euphorion, 50. Bd, 1956, S. 271/272
(11) Aus: F.H.Jacobi’s Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an F.H.Jacobi und Andere, Hrsg. von R. Zöppritz, 2 Bände, Leipzig 1869, Bd. 2 S. 223 ff.
(12) Brigitte Schubert–Riese: Das literarische Leben in Eutin im 18. Jahrhundert, Neumünster 1975, S. 218
(13) Johann Wolfgang von Goethe: Lyrische Gedichte von Johann Heinrich Voß – Eine Besprechung –, Jenaische Allgemeine Literaturzeitung vom 16./17. April 1804, in: Gesamtausgabe Bd. 31, Schriften zur Literatur, Erster Teil, S. 113 ff., insbes. S. 117
(14) Schreiben vom 17. Juli 1800, abgedr. bei J. H. Hennes, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg und Herzog Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg. Aus ihren Briefen und andern archivalischen Quellen, Mainz 1870, Nachdr. Bern 1971, S. 520, und bei G. Jansen: Aus vergangenen Tagen – Oldenburg’s literarische und gesellschaftliche Zustände während des Zeitraums von 1773 bis 1811, Oldenburg, 1877, S. 159 f.
(15) Brief vom 31. Juli 1800, Hennes (Anm. 14), a.a.O., S. 520/521; Jansen (Anm. 14), a.a.O., S. 160/161
(16) Brief vom 20. Aug. 1800, Hennes (Anm. 14), a.a.O., S. 521; Jansen (Anm. 14), a.a.O., S. 161/162
(17) in: Streitschriften über Stolbergs Konversion, Bern und Frankfurt/M, 1973, (Anm. 8), Bestätigung der Stolbergischen Umtriebe, nebst einem Anhang über persönliche Verhältnisse, S. 132 ff.
(18) in: Streitschriften über Stolbergs Konversion, Bern und Frankfurt/M, 1973, (Anm. 8), im Anhang über persönliche Verhältnisse, S. 134 f
(19) Brief Stolbergs an seinen Bruder aus dem Jahre 1777, in: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Briefe, hrsg. Von Jürgen Behrens, Neumünster, 1966, S. 96
(20) „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier? beantwortet von Johann Heinrich Voß“, S. 7
(21) Dirk Hempel: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750 – 1819) . Staatsmann und politischer Schriftsteller, Weimar . Köln . Wien, 1997, S. 258
(22) Hempel, a.a.O. (Anm. 19), S. 174
(23) G. Jansen: Aus vergangenen Tagen – Oldenburg’s literarische und gesellschaftliche Zustände während des Zeitraums von 1773 bis 1811, Oldenburg, 1877, S. 150; Gerhard Anton von Halem’s Selbstbiographie nebst einer Sammlung von Briefen an ihn, Zweiter Teil . Briefe, Oldenburg 1840, (Nachdruck Bern 1970), 155. Brief, S. 170
(24) Adolph Freiherr Knigge in Bremen . Texte und Briefe . Bremen 1996, S. 134
(25) Brief vom 1. Mai 1800 in: G. Jansen: Aus vergangenen Tagen . Oldenburg’s literarische und gesellschaftliche Zustände während des Zeitraums von 1773 bis 1811, Oldenburg, 1877, (Anm. 24), S. 155 f.
(26) in: Streitschriften über Stolbergs Konversion, Bern und Frankfurt/M, 1973, (Anm. 8), im Anhang über persönliche Verhältnisse, S. 215
(27) Brief an Gleim vom 23. Sept. 1798, abgedr. in: Briefe von Johann Heinrich Voß nebst erläuternden Beilagen, hrsg. von Abraham Voß, Zweiter Band, Halberstadt, 1830, (Nachdruck Hildesheim . New York, 1971 ), S. 346 ff.
(28) in: Briefe von Heinrich Voß, hrsg. von Abraham Voß, Heidelberg, 1833-1838, Bd. I, S. 81
(29) Drey kleine Schriften von Friedrich Leopold von Stolberg, darin S. 70 – 105: „Ueber den Zeitgeist“, Münster 1818
(30) Johann Wolfgang von Goethe, Gesamtwerkausgabe, Bd. 29, 154 – 156
(31) Nachweise bei Detlev W. Schumann, Aufnahme und Wirkung von Friedrich Leopold Stolberg’s Übertritt zur Katholischen Kirche, Euphorion, 50. Bd, 1956, S. 271 ff.

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