Gernot Neumann: Unser Weg nach Westen (Flucht aus Ostpreußen)

Bad Bramstedt (15.4.2021). Gernot Neumann, dessen Familie am Kriegsende aus Ostpreußen flüchtete und mehrere Jahre in Bad Bramstedt Zuflucht fand, hatte bereits seine Bad Bramstedter Erinnerungen für eine Veröffentlichung bereit gestellt. Hier folgen seine Erinnerungen an die Flucht, die viele Leser mit ähnlichem Schicksal sicherlich an die eigenen Familienberichte erinnern werden.
Vielen Dank an Gernot Neumann dafür.

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Ich wurde im Mai 1941 in Königsberg (Pr.) geboren, war also zur Zeit der zu beschreibenden Ereignisse in den Jahren 1944 und 45 3½ bis knapp 4 Jahre alt. Soweit ich eigenes Erleben schildere, handelt es sich also um früheste Kindheits-erinnerungen. Trotzdem habe ich einige Bilder noch deutlich vor Augen, wobei diese aber auch nebensächliche Dinge zum Inhalt haben, die mir niemand erzählt hat, was ich als Indiz für die Richtigkeit der Erinnerung nehme. Außerdem haben wir später noch jahrelang über die Flucht gesprochen, was meine Erinnerung offenbar gefestigt hat. Viele Einzelheiten habe ich allerdings nach Schilderungen meiner Mutter aufgeschrieben. Schließlich habe ich mich bemüht, möglichst viele Daten und Fakten durch Literaturrecherchen zu erhärten (dazu habe ich entsprechende Anmerkungen angefügt).

Frühling, Sommer und Herbst 1944 verbrachte meine Mutter mit meinem Bruder Wolfram und mir zeitweise auf dem Bauernhof meiner Großmutter Ida Grau in Kaschen (bis 1938 Kaschemeken, um 1908 Kaszemeken) Kr. Goldap, der Mutter meiner Mutter. Während in Königsberg Bomben fielen, war dort (für mich) vom Krieg kaum etwas zu spüren. Mein Vater war zur gleichen Zeit ca. 1500 km weiter westlich als Soldat in Holland.

Mit dem Bauernhof meiner Großmutter verbindet sich auch meine älteste in etwa datierbare Erinnerung: Es muß im April 1944 gewesen sein, als die Störche zurückkamen. Auf dem Scheunendach befand sich ein seit Generationen benutztes Storchennest, daß offenbar immer vom gleichen Brutpaar besetzt wurde. In diesem Frühjahr gab es einen Kampf zwischen zwei rivalisierenden Paaren um dieses Nest. Christa und Siegfried, die Zwillingskinder meiner Großtante Martha waren gerade bei uns. Sie hatten mich in der kleinen Stube mit Fenster zum Hof auf einen kleinen runden Tisch gestellt und wollten mich nach dem Mittagsschlaf anziehen, während gegenüber die Störche wild umeinander kreisten, aufeinander ein hackten und sich mit Flügelschlägen wehrten. Der Kampf war so heftig, daß ein Ei aus dem Nest fiel, oder absichtlich aus dem Nest geworfen worden war, daß das zuerst angekommene Paar offenbar bereits gelegt hatte. Wir fanden es später zerbrochen an der Giebelwand  der Scheune im Gras. Ich erinnere mich noch deutlich daran, wie es mir Mühe machte, über die etwas matschige, mit Grasbüscheln bestandene Weide zu gehen. Welches von den Storchenpaaren gesiegt hat, kann ich nicht sagen.

Aber zurück zum Herbst 1944. Wir sind im Frühherbst zeitweise auch in Königsberg gewesen, denn mein Vater hatte Heimaturlaub bekommen aus Anlaß der Ausbombung der väterlichen Tischlerwerkstatt. Sie befand sich Alter Garten 16, im 2. Hinterhaus, unsere Wohnung im Seitenflügel des Vorderhauses mit Zugang vom Hof. Unsere Wohnung war bei dem Bombenangriff, vermutlich war es der vom 29.8.44, nicht beschädigt worden. Wir waren zu der Zeit in Kaschen. Ich erinnere mich, wie wir meinen Vater zum Zug brachten, an die große Bahnhofshalle und den Zug mit altmodischen Waggons mit vielen Türen.

Stadtplan: Ausschnitt aus dem Stadtplan von 1930.
Hier etwa war die Lage unserer Wohnung in Königsberg.

Durch den Vormarsch der Roten Armee war der Kreis Goldap durch seine Lage nahe der deutschen Ostgrenze ab Spätsommer 1944 akut bedroht. Trotzdem sind wir dorthin ca. Ende September / Anfang Oktober zurückgekehrt und verlebten noch einige ruhige Wochen. Die Front rückte aber immer näher. Gelegentlich war ein Flugzeug am Himmel zu sehen. An irgendwelche Fluchtvorbereitungen kann ich mich nicht erinnern, wohl aber an die Fahrt mit dem Leiterwagen.

Am Nachmittag vermutlich des 19. Oktober wurden wir Kinder auf den schon beladenen Pferdewagen mit provisorischem Verdeck zwischen Federbetten gesetzt. Es kam noch ein lebendes Schaf mit auf den Wagen, dann ging es los. Der Aufbruch kam wohl auch für die Erwachsenen überraschend, denn die vorbereiteten Brote blieben ungebacken in der Küche zurück. Wir fuhren zunächst allein, weil der Hof nicht im Dorf, sondern einzeln lag. Außerdem waren die nächsten Nachbarn offenbar schon früher gefahren. Die Erwachsenen mußten zunächst zu Fuß gehen, weil die Wege durch heftige Regenfälle an den Vortagen, sehr aufgeweicht waren. Trotzdem schafften die starken Pferde es kaum, den hoch beladenen Wagen über den Lehmberg in Richtung Dorf zu ziehen. Außerdem war noch ein kleiner 2-rädriger Wagen mit Geflügel in einem Drahtkäfig angehängt. Es war ein sehr nebeliger Tag. Der Nebel war so dicht, daß man keine anderen Wagen sehen konnte als wir später zu mehreren fuhren, nur deren Geräusche waren zu hören. Der Aufbruch war für das ganze Dorf für diesen Tag befohlen worden, der genaue Zeitpunkt aber den Einzelnen überlassen.

Der Wagen wurde von Alexander, einem weißrussischen sogenannten Hilfswilligen kutschiert, der meiner Großmutter vor längerer Zeit zugeteilt worden war, und der freiwillig geblieben war und auch weiter bei ihr blieb. Außerdem gab es noch ein polnisches Mädchen „Pela“ aus der Gegend von Suwalki, daß aber verschwunden war. Französische Kriegsgefangene, die aber nur tagsüber zur Arbeit auf den Hof kamen, waren abgezogen worden.

Nov. 1944: Letztes Foto in Königsberg. Das Foto hat mein Vater bei seinem letzten Urlaub in Königsberg aufgenommen. Es zeigt meine Mutter, meinen Bruder und mich.

Ca. 1942: Hof Alter Garten 16. Das Bild zeigt einen Blick aus unserem Wohnzimmer auf den Hof. An der Teppichklopfstange steht mein Bruder. Durch das Tor geht es auf den 2. Hinterhof mit der Tischlerwerkstatt.

Ca. 1940: Haberberger Kirche. Das Bild zeigt die Haberberger Kirche ganz in unserer Nähe in der ich getauft worden bin. Die Grünanlagen in ihrer Nähe waren das bevorzugte  Spaziergangsgebiet meiner Mutter.

Ca. 1940: Garten. Das Bild zeigt einen Teil des Gartens mit dem Sommerhaus meiner Großeltern im Vorort Königsberg Metgethen. Hier haben wir oft gespielt.

Als wir am Hof der Familie Jaquet vorbeifuhren, (übrigens Nachkommen von Einwanderern aus dem Schweizer Jura) in Kaschen „Jeck“ ausgesprochen, kam der Opa Jaquet heraus und bat mitgenommen zu werden. Seine Familie war schon getreckt und hatte ihn zurückgelassen. Meine Großmutter sagte: „Gut, wir nehmen dich mit, du mußt aber bis zum Dorf zu Fuß gehen, wir kommen ja so schon kaum durch“ und lud seinen Bettsack auf. Er wollte wohl noch etwas holen und dann nachkommen. Im Dorf angekommen, wo die Wege besser wurden, warteten wir lange, er kam aber nicht. Daraufhin ist meine Großmutter mit einem Pferd mit dem Geflügelwagen zurückgefahren und hat den Bettsack bei Jaquet vor die Tür gestellt, weil der Alte nicht zu finden war und sich auch im Haus nicht meldete.  Dann fuhr sie zurück bis zum Hof und ließ das Geflügel frei. Sie hatte eingesehen, daß es mit dem angehängten Wagen auf die Dauer nicht ging. Als sie zurückkam war es Abend geworden. Wir hatten mehrere Stunden verloren, als es endlich langsam weiterging.

Ca. 1940: Hof in Kaschen. Das Bild zeigt den Bauernhof meiner Großmutter Ida Grau in Kaschen Kr. Goldap.  Hier ist meine Mutter aufgewachsen. Hier begann unsere Flucht mit Pferd und Wagen.

Vermutlich mußten die befestigten Straßen für das Militär freigehalten werden. Es soll ständig ferner Kanonendonner zu hören gewesen sein, woran ich mich aber nicht erinnern kann. Übernachtet haben wir einmal auf Wolldecken auf dem Fußboden eines Tanzsaals im Dorf Wilhelmsburg und einmal alleine in einem Heuschober. Meine Mutter erzählt, es war ihr etwas unheimlich, nur mit uns Kindern und Alexander allein im Heuschober, denn seitdem ihr in der ersten Nacht die Pferdedecken vom Rücken der Pferde gestohlen worden waren, blieb meine Großmutter auch in der Nacht auf dem Wagen. Zusätzlich wurden die Ersatzdecken dann mit Bindfäden angebunden. Das erste Ziel der Flucht war die Kreisstadt Angerapp (bis 1938 Darkehmen, am Angerapp-Fluß). Von dort wurden die Trecks aus dem Kreis Goldap zum Kreis Rößel weitergeleitet, wo sie bis zur Rückeroberung der verlorenen Gebiete abwarten sollten.

Während dieser Tage unserer Treckflucht hatten russische Panzer nördlich von uns die deutsche Abwehrfront durchbrochen und waren weit nach Westen vorgestoßen. Dies war offenbar nicht genau bekannt, denn wir bewegten uns parallel hierzu westwärts. Der Endpunkt dieses Vorstoßes war Nemmersdorf, wo es am 21.10. zu einem Massaker an der Bevölkerung kam. Außerdem sollen Panzerspitzen bei diesem Vorstoß auch nach Südwesten in Richtung Angerapp abgeschwenkt und bis auf ca. 4 km an die Stadt herangekommen sein.1) Wir trafen wohl am 21.10. oder in der Nacht zum 22.10. in Angerapp ein. Am 22.10. sollen die russischen Truppen sogar unseren Fluchtweg gekreuzt haben, den wir vermutlich am Vortag befahren hatten.2) Ab dem 22.10. erfolgte ein deutscher Gegenvorstoß, der den Gegner ein Stück zurückwarf, wodurch die Übergriffen in Nemmersdorf und Umgebung bekannt wurden.

In Angerapp war die Eisenbahn noch in Betrieb. Daraufhin trennten wir uns von unserer Großmutter um mit dem Zug nach Königsberg zu fahren. Meine Mutter meinte, „dort habe ich meine Wohnung und hier muß ich mit den Kindern in eine Notunterkunft.“ Vermutlich hat Alexander uns und unser Gepäck mit dem Pferdewagen zum Westbahnhof Angerapp kutschiert. Der Zug mußte dann einen Umweg über Angerburg und vermutlich Gerdauen und Friedland nach Königsberg nehmen. Die direkte Linie ab Angerapp Ostbahnhof über Insterburg war offenbar eingestellt worden, weil sie die Gegend von Nemmersdorf berührte.3) Vermutlich am 23.10.44 sind wir wieder in Königsberg eingetroffen. Dort war der Bahnhofsbetrieb noch friedensmäßig. Meine Mutter konnte ihre Koffer bei der Gepäckaufbewahrung aufgeben und sie später mit einem Handwagen abholen.

Meine Großmutter ist mit ihrem Alexander weiter bis in den Kreis Rößel getreckt, dort auf einem Bauernhof oder Gut einquartiert worden und wartete zunächst ab. Sie ist später, vermutlich im November, zusammen mit Frau Meder, einer Nachbarin sogar kurz nach Kaschen zurückgekehrt. Sie hatte die Gelegenheit genutzt, sich Soldaten anzuschließen, die an die Front verlegt wurden. Ihr Bauernhof stand noch. Es hatten sich dort deutsche Soldaten in unmittelbarer Frontnähe verschanzt. Sie lebten offenbar nicht schlecht, denn sie hatten Schweine geschlachtet, aber die Köpfe unverwertet hinter die Scheune geworfen. Die Besucherinnen wurden zu Putenbraten eingeladen und konnten auf dem Fußboden schlafen.

An die Eisenbahnfahrt zurück nach Königsberg kann ich mich nicht erinnern. Aber ich erinnere mich an das große Bahngelände von Insterburg, daß wir normalerweise  auf jeder Fahrt von und nach Kaschen passieren mußten. Außerdem haben wir einmal, offenbar bei einem längeren Aufenthalt zwischen 2 Zügen, eine Kahnpartie gemacht. Dies muß in Gumbinnen auf dem Bach Pissa, bei Onkel Herrmann gewesen sein, vermutlich bei unserer letzten Fahrt nach Kaschen, denn es war kühl und ich war dick angezogen.

Deutlich erinnern kann ich mich aber an Besuche an der Ostsee (meistens im Seebad Cranz) im Sommer 1944 und an Bahnfahrten zum Königsberger Vorort Metgethen, wo meine Großeltern väterlicherseits einen großen Garten mit einem Sommerhaus hatten. Einmal mußten wir quer über die Gleise laufen, um zu dem Triebwagen zu kommen, der außerhalb des Bahnhofs hielt. In dem Häuschen gab es einen Keller, der über eine Klappe im Fußboden und eine Leiter zu erreichen war

1) E. G. Lass; Die Flucht, Seite 56: „Die Russen dringen bis zur Linie Gut Königsfelde – Gut Wilhelmsburg – Gut Weedern – Altdingelau vor.“
Zu Nemmersdorf siehe: B. Fisch; Nemmersdorf Oktober 1944.

2) E. G. Lass; Die Flucht, Seite 57: „22.10. ..daß sich der Russe auf der Linie Nemmersdorf – Gut Kieselkehmen – Balsken – Brenndenwalde und Friedrichsberg festgesetzt und eingegraben hat.“ [Friedrichsberg lag eindeutig südlich unseres Weges nach Angerapp]

3) E. G. Lass; Die Flucht: Die Bevölkerung von Angerapp wurde auch in diesen Tagen über den Westbahnhof evakuiert. (Obwohl die Stadt erst am 22.1.1945 eingenommen wurde, siehe 5))

Deutlich  entsinnen  kann  ich  mich auch an unsere Wohnung in Königsberg.  Es war eine Zweizimmerwohnung mit einem größeren Wohnzimmer und einem kleineren Schlafzimmer im 1. Obergeschoß. Unter uns wohnte die Frau Groß, die als Kinderfrau „Gogo“ schon meinen Vater und später zeitweise uns Kinder betreut hat. Ihr Ehemann war gestorben. Sie hatte eine erwachsene Enkelin, Grete. Über eine steile Treppe kam man am WC vorbei in unsere Küche mit dem Gasherd, dann rechts ins Wohnzimmer mit einem Kachelofen und durch dieses ins Schlafzimmer. An dem Ofen habe ich mir als sehr kleines Kind die Hände verbrannt, woran ich mich aber natürlich nicht erinnern kann, wohl aber an einen anderen Arztbesuch. Ich hatte mir in Opas Tischlerwerkstatt unbemerkt ein Stück Leder in die Nase gesteckt, wo es zu stinken anfing. Dies hat dann der HNO-Arzt (Prof. Streit) entfernt.

Obwohl wir bei den beiden großen Bombenangriffen im August nicht in der Stadt waren, haben wir in der Folgezeit noch öfter „Fliegeralarm“ erlebt und waren auch im Luftschutzraum im Keller einer Volksschule. Sie lag in unserer Straße einige 100 Meter stadteinwärts gegenüber der Einmündung Knochenstraße. Schwierigkeiten hatte ich mit der Gasmaske, die man eigentlich tragen sollte, ich bekam nicht ausreichend Luft und fing an zu schreien. Im November kam mein Vater überraschend noch einmal zu Besuch. Er hatte niederländische Freiwillige zu einem Ausbildungslager an der Ostsee in Pommern begleitet und konnte vor der Rückreise einen kurzen Abstecher machen. Er war natürlich in Sorge um uns. Er hatte vermutet, daß wir wegen der Kämpfe um Goldap von Kaschen geflüchtet waren, wo wir uns eigentlich aufhalten wollten, wußte aber nicht, daß wir nach Königsberg zurückgekehrt waren.

Im Spätherbst wurden Fluchtvorbereitungen getroffen. Eine Kiste mit eingemachtem Fleisch und Kleidern meines Vaters und meines Onkel Otto, der zeitweise bei uns gelebt hatte, wurde per Bahnfracht zur Frau Herrmann, der Stiefmutter unserer Tante Else nach Bad Bramstedt in Holstein in Marsch gesetzt. Unser Großvater vergrub unser Feiertagsporzellan in einer Zinkwanne im Garten in Metgethen.

An Weihnachten 1944 kann ich mich nicht erinnern. Es passierte weiter nichts Bemerkenswertes, nur einmal hatte ein Lieferwagen vor unserem Haus einen Verkehrsunfall und verbeulte Marmeladeneimer mit der üblichen Vierfrucht-marmelade, lagen auf der Straße, die aber schnell verschwanden.

Im Januar rückten die russischen Truppen näher und beschossen die Stadt zeitweise mit Artillerie. Meine Mutter ist dann nicht mit uns in den Luftschutzkeller gegangen, dazu war keine Zeit, sondern wir blieben in der Wohnung und saßen im Wohnzimmer, möglichst weit von den verdunkelten Fenstern entfernt beim Schein einer kleinen Wandlampe. Einmal gab es einen Einschlag in der Nähe, die Fenster sprangen auf und das Verdunklungspapier wurde ins Zimmer geweht. Ich soll sehr geschrien haben und war schwer zu beruhigen, es gab aber keine Schäden bei uns. In dem getroffenen Haus war ein Loch in der Außenwand über 2 Stockwerke  entstanden. Ich weiß nicht, ob dabei jemand verletzt wurde.

Meine Mutter merkte nun, daß die Lage bedrohlich wurde und besorgte Eisenbahnfahrkarten für einen D-Zug nach Berlin mit Hilfe eines Bekannten, der als verwundeter Soldat am Bahnschalter bevorzugt bedient wurde. Es war Sonntag der 21.1.45 gegen Abend, als wir in einem überfüllten Zug den Hauptbahnhof verließen. Nach einigen Stunden, die Bahn fuhr offenbar nicht sehr schnell, hielten wir auf freier Strecke. Es war stockdunkel und nichts zu sehen oder zu hören, aber es hieß: „Die Strecke liegt unter Beschuß.“4)  Was war passiert?  Russische  Panzerspitzen  waren überraschend westlich von uns von Süden her in Richtung Elbing vorgestoßen und drohten, Ostpreußen vom übrigen Deutschland abzutrennen. (Die Eisenbahn verläuft östlich von Elbing nicht nahe der Küste, sondern beschreibt einen Bogen nach Süden und obwohl die russischen Panzer die Trasse erst am 23.1. erreicht haben, mag in der Nacht vom 21. zum 22.1. schon eine Bedrohung vorgelegen haben.) 5) Der Zug stand jedenfalls bis gegen Mittag des 22.1. Es war sehr kalt und es bildeten sich Eiszapfen an den Waggons, dann wurde er zurückgezogen und fuhr nach Cranz an der Ostsee, wo wir provisorisch untergebracht wurden. (Es müssen vor uns noch weitere Züge in der gleichen Lage gewesen sein. Diese sollen bis zu drei Tage auf der Strecke gestanden haben.) Nach drei Tagen kehrten wir nach Königsberg und in unsere Wohnung zurück, wir erreichten die Stadt nun über den Nordbahnhof.

 4) Th. Schieder; Die Vertreibung .. Band I/1, Seite 34E: „Am 21. Januar fuhren die letzten Flüchtlingszüge aus Königsberg ab, von denen einige aber bereits nicht mehr nach Elbing durchkamen und von Braunsberg nach Königsberg zurückgeleitet werden mußten.“

5) Diekert – Grossmann; Der Kampf um Ostpreußen: Anhang, Karte des russischen Vormarsches.
Abwehrkämpfe .. Seite 308: „Der 23. Januar brachte der sowjetischen Hauptangriffsspitze besonders hervorragende Erfolge. Bei Güldenboden, 13 km südöstlich von Elbing überschritten sie am frühen Nachmittag die letzte Eisenbahnlinie zwischen Ost- und Westpreußen.“

Von dem russischen Panzervorstoß waren auch die meisten mit Pferd und Wagen Flüchtenden betroffen, so auch meine Großmutter. Niemand hatte die Menschen aus den östlichen Kreisen, die ihre vorgesehenen Ziele in der Mitte oder im Westen von Ostpreußen erreicht hatten, aufgefordert, rechtzeitig weiter nach Westen zu fliehen. Es war im Gegenteil für sie und die Ansässigen sogar verboten! Ebenso galt jede Fluchtvorbereitung als Wehrkraftzersetzung. Offenbar konnte sich die Führung nicht vorstellen, daß Ostpreußen vom Gegner erobert werden könnte. Nun setzten sich die Trecks auch ohne Erlaubnis wieder in Bewegung, vermehrt durch zusätzliche neue, aber der Weg nach Westen war nach wenigen Tagen versperrt, die russischen Truppen hatten östlich von Elbing das Frische Haff erreicht. 6)  Die Trecks wendeten sich nach Norden, die Front rückte von Süden nach, es bildete sich der Kessel von Heiligenbeil. Zunächst unbesetzt blieben ein Küstenstreifen nördlich von Elbing, Danzig und die Frische Nehrung.

Da es in diesen Tagen sehr kalt war, -25 Grad und darunter, hatte sich bald eine tragfähige Eisdecke auf dem Frischen Haff gebildet, über das die Flüchtlingtrecks auf abgesteckten Routen die 10-15 km zur Nehrung hinüberfahren konnten. Allerdings wurde aus militärischen Gründen bis in den Februar hinein durch Eisbrecher eine Fahrrinne von Pillau zum Ende des Haffs nördlich von Elbing freigehalten, die die Fahrwege der Trecks kreuzte und damit unterbrach. Hier half man sich mit provisorischen hölzernen Schwimmbrücken, die bei Bedarf zurück geschwenkt werden konnten. Natürlich staute sich der Verkehr an diesen Engstellen. Außerdem waren die Menschen russischen Luftangriffen auf dem Eis besonders schutzlos ausgesetzt.

Meine Großmutter hat es aber mit ihrem russischen Helfer geschafft, über das Eis auf die Nehrung und weiter nach Westen über die Weichsel zu kommen. Sie ist dann, immer kurz vor der Front weiter westwärts bis Pommern gelangt. Dort hat sich Alexander von ihr verabschiedet um zu seinen Landsleuten überzugehen. „Sonst Kopf ab“, hat er ihr erklärt. Sie ist alleine noch etwas weitergefahren bis sie von der Front eingeholt wurde. Sie hielt sich dann bei einer Familie Knaak auf und ist 1946 wie diese von den polnischen Behörden ausgewiesen worden und kam in die Uckermark in Vorpommern, später DDR, wo sie in Kleisthöhe, wie Knaaks eine landwirtschaftliche Siedlungsstelle aus der Aufteilung eines Gutes übernahm.

6) Abwehrkämpfe .. Seite 309: „Am 25. Januar schoben die Sowjets stärkere Kräfte beiderseits von Elbing vor, … (und) erreichten das Frische Haff bei Cadinen.“

Aber zurück nach Königsberg im Januar 1945. Die Stadt wurde zur Festung erklärt und war vom 30.1.45 an eingeschlossen. Dabei wurde auch der Vorort Metgethen besetzt, wobei es auch zu Greueltaten gegenüber der Zivilbevölkerung kam, die nicht evakuiert oder gewarnt worden war. Meine Großeltern befanden sich zum Glück nicht dort, weil das Sommerhaus nicht ausreichend geheizt werden konnte. Auf der Straße vor unserem Haus stand das Wrack eines Militärfahrzeugs für das sich aber, außer den Kindern niemand interessierte.

Ab 19.2.45 wurde die Landverbindung von Königsberg nach Westen zum Seehafen Pillau durch Bodentruppen mit Unterstützung durch Schiffsartillerie wieder freigekämpft, wobei das Ausmaß der Übergriffe der russischen Angreifer deutlich wurde. So soll eine entferntere Nachbarin meiner Großeltern in Metgethen, die Ehefrau eines Rechtsanwaltes, umgekommen sein. Mein Großvater fuhr einige Tage später mit dem Fahrrad nach Metgethen um nach seinem Grundstück zu sehen. Die Zäune waren von Panzern niedergewalzt, das Gartenhäuschen stand noch, hatte aber keine Fenster mehr und die Möbel lagen in der Gartenlaube.

Am Morgen des 23. oder 24. 2. erfuhr meine Mutter, daß wir im Laufe des Tages evakuiert werden sollten. Sie hatte so einige Stunden Zeit zum Packen, andere nur eine Stunde. Meine Großeltern blieben zurück. Mein Großvater sagte zu meiner Mutter: „Paß mir bloß auf die Jungens auf.“ Die Frauen mit kleinen Kindern hatten sich auf einem Sammelplatz einzufinden und wurden mit Lastwagen zum Hafen befördert. Es war ein kalter Tag mit bleichem Sonnenschein und es trieben Eisschollen auf dem Wasser. Es soll das Hafenbecken IV gewesen sein, wo wir in Lastkähne verladen wurden, sogenannte „Äppelkähne“, mit denen vorher aber Kohlen befördert wurden. 7) Meine Mutter hatte 2 Koffer als Handgepäck. Für uns Kinder hatte sie Rucksäcke genäht. Mit uns zusammen war auch meine Tante Herta (die Schwester meines Vaters) mit ihrer Tochter Daniela, 13 Jahre alt. 8) Gegen Abend wurden die Lastkähne aus dem Hafen geschleppt, wobei die Eisschollen heftig gegen die Bordwand schlugen. Möglich wurde diese Rettungsaktion nur durch den persönlichen Einsatz des RAD-Führers Carl Friedrich von Möller, der die technischen Voraussetzungen dazu geschaffen hatte, wie in seinem Artikel: „Königsberger Odyssee 1945“ nachzulesen ist.9)  Es sollen an diesem Tag insgesamt 16400 Zivilpersonen abtransportiert worden sein.10)   Ziel der  Menschen war  der Seehafen Pillau und der Weitertransport nach Westen mit Seeschiffen.

7) Th. Schieder; Die Vertreibung .. Band I/1, Seite 125/126: „Am 24. Februar forderte man uns auf, Königsberg zu verlassen. Auf dem Trommelplatz sollten wir uns ungeachtet der Fliegergefahr mit einem kleinen Handgepäck innerhalb von 3 Stunden sammeln und mit Autos nach dem Hafenbecken IV gebracht werden. .. Im Hafen angelangt begann das Verladen auf Kohlenschleppkähnen.“

8) Meine Tante Herta hat einen Taschenkalender geführt, in den sie alle Orte und Daten der Flucht eingetragen hat und der erhalten geblieben ist und mir jetzt vorliegt. Danach sind wir am 23.2.45 nach Peyse gekommen. Diese Eintragung hat sie aber vielleicht erst nachträglich vorgenommen, so daß sie nicht unbedingt richtig sein muß und die Angabe 24.2. entsprechend Anmerkungen 7) und 10) wohl eher zutreffen wird.

9) Carl Friedrich von Möller: „Königsberger Odyssee 1945“ in Leben in Ostpreußen, München 1963

10) Helmut Blocksdorf; Pillau – Chronik eines Untergangs, Hamburg 2000, Seite 67: “Sonnabend 24. Februar .. Nun, nach der Wiederherstellung der Verbindung .. hatte der Flüchtlingsstrom aus Königsberg wieder eingesetzt. Da der zum Abtransport der vielen Flüchtlinge erforderliche Schiffsraum in Pillau nicht ausreichte, hat man in Peyse ein Zwischenlager eingerichtet. .. Bis 18.00 Uhr waren in Peyse 16 000 Königsberger angelandet worden.
Abwehrkämpfe .. Seite 309: „Am 24. (Februar) um 18.40 Uhr trafen die ersten 400 Flüchtlinge der neuen Transportwelle aus Königsberg auf dem Wasserweg in Pillau ein, 16 000 weitere wurden am gleichen Tage schon in Peyse ausgeschifft“ (nach Kaftan, Seestadt Pillau I Seite 57) .

Es sollen aber nur 400 Personen direkt dorthin gebracht worden sein. Für uns und den Großteil der Flüchtlinge endete die Evakuierung vorerst in Peyse11),12) im Samland, einem kleinen Fischerdorf in dessen Nähe ein Kohlekraftwerk errichtet worden war und das noch weiter ausgebaut wurde. In den noch vorhandenen Baubaracken sollen Flüchtlinge einquartiert worden sein.13) Wir waren aber in dem vermutlich anschließenden großen Militärgelände, daß durch eine Eisenbahn erschlossen wurde. Hier befanden sich ein Sperrwaffenarsenal der Kriegsmarine und das Tierdauerfutterwerk des Heeres.14) Offenbar in dessen Hallen wurden wir zunächst einquartiert. Stroh für Nachtlager mußte von Strohballen geholt werden, die draußen in großem Haufen lagen, auf denen wir Kinder später herumkletterten. Zum Empfang der Verpflegung, Wassersuppe in der Kartoffelschalen schwammen, mußte man sich draußen an der „Gulaschkanone“ (Feldküche) anstellen. Man hatte uns ein Kochgeschirr und Besteck ausgehändigt. Die Feldküche wurde von Pferden gezogen. Einmal schlug eine Artilleriegranate in der Nähe ein und die Pferde gingen mit ihrer Last durch und mußten eingefangen werden. Ich glaube aber, es kam niemand in der Warteschlange zu Schaden.

Aborte waren provisorisch in einiger Entfernung aufgestellt worden. Manchmal, wenn ich mit meiner Mutter dorthin unterwegs war, mußte ich kleinlaut melden: „ist schon drinn“, bevor wir angekommen waren. Das passierte aber auch größeren Kindern, denn offenbar litten viele unter Durchfall.

11) Otto Lasch; So fiel Königsberg, Seite 76: „Auf meinen dauernden Druck hin versuchte man zwar zunächst, die Masse der Zivilbevölkerung hinauszuschaffen. Da aber der hierfür erforderliche Schiffsraum in Pillau in Kürze gar nicht bereitgestellt werden konnte und der Abschub der Bevölkerung nur nach und nach vor sich gehen konnte, richtete man ein Zwischenlager in Peyse am Königsberger Seekanal ein.“

12) C. F. von Möller, Seite 202: „..daß Pillau infolge des Ausfalls der in der Ostsee dann torpedierten großen ‚Wilhelm Gustloff‘ und ‚Steuben‘ alsbald so überfüllt war, daß man ein – natürlich in keiner Weise vorbereitetes – Zwischenlager in Baracken auf halben Wege in Peyse einrichten mußte.“

13) Dr. Paul Gusovius; Der Landkreis Samland, Seite 368-369: Das Kraftwerk wurde danach ab 1938 errichtet, lieferte 1940 den ersten Strom und befand sich 1945 noch im weiteren Ausbau: „In den ersten Tagen der Vertreibung hat das neben dem Kraftwerk befindliche Lager vielen Landleuten, insbesondere Frauen und ihren Kindern, auf ihrem schweren Wege Unterkunft und Verpflegung gewährt.“
Pillau – Chronik eines Untergangs, Seite 34: „In Peyse hatte man die Flüchtlinge in den Lagerhallen der Heeresfuttermittelfabrik sowie in den von den Kriegsgefangenen geräumten Baracken untergebracht.“

14) F. Puhlmann; Das Ende des Sperrwaffenarsenals Peyse, Seite 2: „Das Sperrwaffenarsenal Peyse, erbaut 1938-1941, umfaßte ein Waldgelände von ca. 465 ha nördlich des Dorfes Peyse. In Peyse lagen noch folgende wichtige Anlagen: Die Torpedomunitionsanlage Peyse (nördlich an das Sperrwaffenarsenal anschließend), die Heeresfuttermittelfabrik Peyse (östlich des Dorfes), das neue Großkraftwerk Peyse (1½ km südöstlich des SprwArs.) und die Schwere und Leichte Flak-Batterie Peyse.“

Seite 3: „In den Dörfern Peyse, Zimmerbude hatten sich inzwischen Tausende von Flüchtlingen aus dem Samland, Königsberg usw. angesammelt, die in den Lagerhallen der Heeresfuttermittelfabrik, sowie in den von den Kriegsgefangenen geräumten Baracken untergebracht wurden. Die Betreuung lag in den Händen von Parteidienststellen.“ 
Helmut Borkowski; Die Kämpfe um Ostpreußen und das Samland 1944-1945, nennt die militärische Einrichtung in Peyse mehrfach „Marinearsenal“.        

In der Nähe stand eine alte demolierte Lokomotive, ein bevorzugter Spielplatz der größeren Kinder, aber es fuhren neue Dieselloks durchs Gelände. Die Hallen waren kaum geheizt, es gab nur wenige eiserne Öfen und ich bekam angefrorene Füße. (Meine Mutter hatte mir zwei Paar Socken übereinander angezogen. Dazu waren meine Schuhe, obwohl auf Zuwachs gekauft, wohl doch zu klein.) Außerdem bekamen mein Bruder und ich hohes Fieber.

Aus diesem Grunde wurde uns ein Privatzimmer im Dorf Peyse zugewiesen. Es war ein kleines ziemlich neues Haus mit dem Giebel zur Straße, das von den Eigentümern bereits verlassen worden war und wo  sich jetzt  Flüchtlinge aufhielten.  Ich kann mich erinnern, dass ich nicht laufen mußte, sondern mit einem Rodelschlitten gezogen wurde. Wir wurden wieder gesund, konnten aber dort bleiben, meine Füße waren danach aber noch jahrelang besonders kälteempfindlich. Wir bekamen auch öfter Geschwüre. Dagegen hatte meine Mutter „Sprangersche Zugsalbe“ in einer Spanschachtel. Da die Salbe schon etwas eingetrocknet war, wurde sie bei Bedarf mit einem Messer aufgetragen, eine schmerzhafte Prozedur.

In dem neuen Quartier war auch eine Bauernfamilie Müller, die aus der Umgebung von Tilsit hierher geflüchtet war. Zur ihr gehörte eine erwachsene Tochter, von Beruf Krankenschwester. Wir mußten uns selber verpflegen. Die Grundlage bildeten Kartoffeln, die sich im Keller fanden. Sie wurden aufgeteilt und reichten gerade bis zum Ende unseres Aufenthalts aus. Wir haben hauptsächlich Kartoffelflinsen (= Pfannkuchen) gegessen. Unsere Tante Herta, die im Lager geblieben war, hat uns mehrfach mit ihrer Nachbarin Frau Timm, besucht. Sie genossen es, nach Wochen wieder auf einem Stuhl sitzen zu können.

Als sich eine Gelegenheit ergab, machte meine Mutter mit deutschen Soldaten die Verpflegung besorgen wollten, einen Abstecher zurück nach Königsberg, um zusätzliche Betten aus der Wohnung zu holen. Sie fand sie noch immer unzerstört vor, traf auch die Schwiegereltern gesund an und kam wieder glücklich zurück. Wir Kinder waren in der Zwischenzeit in der Obhut unserer Tante.

Im März wurde das Wetter warm und blieb lange schön. Wir Kinder konnten draußen spielen. Deutsche Soldaten waren damit beschäftigt, Deckungslöcher zu graben, was wegen des Sandbodens schwierig war, weil die steilen Böschungen nicht hielten. Wir wurden freundlich angehalten, nicht gerade da im Sand zu buddeln. In der Nähe in einem Wald war eine Flak-Batterie. Wir konnten die Bahnen der Leuchtspurmunition verfolgen, bis zu den Explosionswölkchen der ins Leere gehenden Geschosse. Einmal wurde vor unseren Augen ein Flugzeug getroffen, daß wie eine brennende Fackel, aber weit von uns, abstürzte. 15)

Wir waren etwa 6 Wochen in Peyse. Ursprünglich war wohl an einen kürzeren Aufenthalt der Menschen gedacht worden.16) Es sollen sich dort und der Umgebung

insgesamt ca. 20000 Flüchtlinge aufgehalten haben! 17) Als sich der Aufenthalt dort in die Länge zog, sind jedoch viele wieder nach Königsberg zurückgekehrt, wo die Lebensmittelversorgung wegen gut gefüllter Lagerhäuser besser war.

15) Möglicherweise den selben Abschuß erwähnt Puhlmann, Sperrwaffenarsenal auf Seite 6: „Der Feind machte in den Märztagen einige Luftangriffe auf das Arsenal… Ein durch die Flakbatterie abgeschossenes Flugzeug fiel brennend auf den südlichen Teil des Arsenals. Der Brand konnte gelöscht werden. Die russische Besatzung verbrannte.“

16) Ingrid Bidlingsmaier; Entstehung und Räumung der Ostseebrückenköpfe 1945, Seite 66: „Anfang März trat allerdings eine Sperre der West-Ost-Transporte (von Pillau aus) von etwa drei Wochen ein, eine Folge der bedrohlichen Lage um Danzig und Gotenhafen. Beide Städte waren in unmittelbare Frontnähe gerückt, so daß man den Abtransport bis zu ihrem Fall am 27. und 28. März verstärkt betreiben und für diese Zeit alle Kräfte der Marine an Westpreußen binden mußte.“

17) Th. Schieder; Die Vertreibung.. Seite 139: Bericht des ehemaligen Landrats des Kreises Samland, v. d. Gröben: „Der Gauleiter Koch, der bekanntlich sein Hauptquartier in Neutief aufgeschlagen hatte, wünschte, daß möglichst viele Leute aus Königsberg in das Samland verbracht würden. Nach den damaligen offiziellen Angaben befanden sich in Königsberg noch ca. 150 000 bis 160 000 Menschen, die nicht direkt mit der Verteidigung beschäftigt waren. Von dieser Bevölkerung wurden im Laufe der nächsten Wochen rund 100 000 in das Samland überführt, wobei sich folgende Verteilung ergab (alles in runden Zahlen):

                                               20 000 Raum Peyse

                                               20 000 Fischausen und Umgebung

                                               20 000 Raum Palmnicken

                                               20 000 Raum Groß Kuhren       

                                               20 000 Rauschen und Neukuhren“

Ostersonntag, 1.4.45 war sehr schönes warmes Wetter, da waren wir noch in Peyse. Am Abend, wir Kinder schliefen schon, kam Tante Herta vom Lager herüber und sagte: „Ich habe gehört, Morgen früh um 5 Uhr geht der Transport vom Lager ab“. Meine Mutter hat uns und das Gepäck dann mit Hilfe der vorher erwähnten   Krankenschwester Müller ins Lager geschafft, wo unser Platz noch frei war. Tante Herta hat dann, es stürmte und regnete inzwischen, noch Onkel Kurt, Ihren Ehemann besucht,   der   als   Volkssturmmann   in   der   Nähe  stationiert   war,  um   sich   zu verabschieden. Er war auch noch in Königsberg gewesen und hatte uns mehrere Brote von unserem Bäckermeister Szamait mitgebracht. Er soll zu meiner Mutter gesagt haben: „Frieda, ich muß Dir gestehen, daß ich ein Brot selber aufgegessen habe“. Onkel Kurt kam später in Gefangenschaft, ist dann an Typhus erkrankt und am 8. oder 9. August im Internierungslager Narva in Estland gestorben, was später ein Kamerad unserer Tante berichtet hat.

Am nächsten Morgen, Ostermontag dem 2.4.45, wurden wir nach Pillau weiter transportiert. Hier verläßt uns unsere Erinnerung. Ich habe die dunkle Ahnung, daß dies per Eisenbahn geschah. Auch meine Mutter und mein Bruder  glauben, daß wir mit einem Güterzug von Peyse nach Pillau gebracht wurden. Technisch war das möglich, denn Peyse war durch eine neu angelegte Stichstrecke in Normalspur, die beim Bahnhof Powayen abzweigte und durch den Forst Kobbelbude führte, mit der Eisenbahnlinie Königsberg-Pillau verbunden.18) Nach einer Angabe in der Literatur die ich fand, sollen die Menschen von Peyse allerdings über das Haff nach Pillau gebracht worden sein.19)

In Pillau haben wir uns ca. 3 Tage aufgehalten. Es herrschte dort großer Andrang aber nach meiner Erinnerung kein Chaos. Zur Registrierung und Zuweisung eines Schiffsplatzes waren wir in einem Büro im Hafen, wo wir lange anstehen mußten. Da kann ich mich auch an das Kopfsteinpflaster erinnern. Wir lebten in einem größeren, von den ursprünglichen Bewohnern längst verlassenen Haus. Es war etwas dunkel, weil die Fenster zum Teil mit Brettern vernagelt waren. Meine Mutter hat in dem Haus zunächst das WC saubergemacht. Ein Mann in mittlerem Alter in Zivil der sich dort aufhielt, vielleicht ein Parteifunktionär der sich absetzen wollte, soll daraufhin gesagt haben: „Man sieht doch gleich, wenn eine Frau im Hause ist“.

18) Diese Bahnlinie ist auf dem Nachdruck der Karte von Mitteleuropa 1:300 000, Blatt Q55 mit Ausgabestand 1939 verzeichnet, nicht jedoch auf dem entsprechenden Blatt der Karte 1:100 000 mit Ausgabestand 1937. Nach Dr. P. Gusovius; Der Landkreis Samland, Seite 196 wurde die Stecke 1940 in Betrieb genommen.

19) I. Bidlingsmeier; Ostseebrückenköpfe, Seite 63: „Ausreichender Schiffsraum für den Abtransport der Königsberger Bevölkerung aus Pillau war in der Kürze der Zeit nicht zu beschaffen; und da die Flüchtlinge in Pillau schwer unterzubringen waren, war man gezwungen, über den Königsberger Seekanal in Peyse ein Zwischenlager einzurichten, von wo aus ein Kurzstreckenverkehr über das Haff die Flüchtlingsmassen allmählich nach Pillau schaffte.“

In dem Haus gab es einen Herd, der an einem Fenster stand, daß noch Glasscheiben hatte. Das Fenster ging aber auf einen dunklen schachtartigen Innenhof. Meine Mutter hat dort, mit Zutaten die sie vorfand oder sich irgendwie besorgen konnte, Plätzchen gebacken. Ein Teil davon kam in ein Einmachglas, das ich in meinem Rucksack tragen mußte. Ich fand das schwer. Außerdem kann ich mich an eine große weiß gekachelte Küche erinnern in einem anderen Haus, wo Klopse gebraten wurden, die in einem weiß emaillierten Eimer landeten.

Am Abend des 4.4. kamen wir auf das Schiff „Koholyt“. Es war ein kleineres Handelsschiff  von  884  BRT  im Besitz  der  Kohlenimport  &  Poseidon  GmbH Königsberg  (KIAG). 20), 21)   Mein Vater  hat  dieses  Schiff,  Jahre  früher,  zufällig  im Königsberger Hafen fotografiert. Koholyt AG hieß eine Tochtergesellschaft der Zellstoff-Fabrik in Königsberg, die von der Feldmühle AG übernommen wurde. Vermutlich wurde das Schiff, Baujahr 1920, von dieser Firma genutzt. Ich erinnere mich, wie das Gepäck mit Hilfe des Ladebaums an Bord gebracht wurde. Es herrschte ein großes Gedränge und meine Mutter hatte Furcht, daß wir ins Wasser gestoßen werden könnten. Wir wurden in einen Laderaum verfrachtet. Es waren offenbar vorher Lumpen transportiert worden, von denen Reste noch am Boden lagen 22). Wir hatten das Glück, das wir einen Platz an der Bordwand bekamen, wo meine Mutter sich anlehnen konnte. Zum hinlegen war für die Erwachsenen nicht genügend Platz, man saß mit seinem Gepäck dicht an dicht auf dem Schiffsboden. Es mögen ca. 1000 Flüchtlinge oder mehr an Bord gewesen sein,23) für die es nur 2 Toiletten gab. Entsprechend sah das Deck an jedem Morgen aus, bevor es mit einem Wasserstrahl gesäubert wurde. Die Verpflegung für uns war vergleichbar der in Peyse.

20) G. Steinweg; Die deutsche Handelsflotte im 2. Weltkrieg, Seite 115, 173: Abkürzung KIAG bei H. Schön; Ostsee ’45, Menschen, Schiffe, Schicksale, Seite 675. Der Name KOHOLYT wurde von Kohle, Holz und Elektrolyt abgeleitet, Hilfsmitteln zur Papiererzeugung.

21) Nach einem Dokument im Bundesarchiv (Ost-Dok 4/38, Fol 11) hat das Schiff am 1.4.45 275 to Ladung (Munition) in Hela gelöscht und ist dann leer nach Pillau gelaufen. In dem Dokument Anmerkung 23) in dem die Fahrten des Schiffes ab 13.2.45 aufgeführt sind ist diese Fahrt ebenfalls genannt, allerdings endet die Aufstellung damit und der Bemerkung: „Bis Schluß der Berichte, 29.4.45, keine weitere Meldung“. Allerdings ist die Aufstellung offenbar nicht vollständig. So heißt es: „10.3.45 in Swinemünde, Order nach Kahlberg“ und dann ist der nächste Eintrag erst wieder unter dem 1.4.45 (in Hela). Aus den Aufzeichnungen von Hugo Kaftan über das Kriegsende in Pillau (Ost-Dok 8/534, Fol 87) geht hervor, daß am 2.4.45 vom MS Sandkug 500 Flüchtlinge von Neutief zum Dampfer Koholyt (in Pillau) gebracht wurden. Offenbar zusätzlich zu diesen Flüchtlingen, die sich schon auf dem Schiff befanden, wurde unsere Gruppe am 4.4.45 an Bord genommen.

22) Pillau – Chronik eines Untergangs, berichtet auf Seite 92 von einem anderen Flüchtlingstransport des Schiffes Koholyt: „Die Frauen und Kinder mußten im Laderaum auf leeren Munitionskisten und auf Lumpen sitzen …“

23) Nach dem Dokument im Bundesarchiv (Ost-Dok 4/55, Fol 51) soll das Schiff am 8.3.1945 1000 Flüchtlinge in Stolpmünde an Bord genommen und vermutlich nach Swinemünde gebracht haben. Vorher hat es nach der selben Quelle bei einer Kurzstreckenfahrt sogar 1800 Personen befördert.

Für die Mannschaft wurde extra gekocht. Wir konnten von oben in die Kombüse sehen, wie Pudding-Teller zum Abkühlen abgestellt wurden. Für uns unerreichbar. Das Schiff fuhr zusammen mit 12 anderen im Geleitzug 24). Der Verband wurde nicht angegriffen, die Belagerung von Königsberg und der beginnende Kampf um Berlin zog wohl alle Kräfte an sich. Es war schönes Wetter und ruhige See, wir konnten im vorbeifahren die Kreidefelsen von Rügen sehen.  Wir waren 3 Tage auf See und liefen am 7.4.45 gegen Abend in Stralsund ein, wobei sich per Megaphon folgender Dialog zugetragen haben soll: „Kapitän, was habt ihr an Bord?“, „Menschen!“ „Wir haben keine Luft zum Atmen für euch“ war die Antwort vom Pier. Das war der Empfang im „Reich“ und wir durften erst am nächsten Morgen, einem Sonntag, an Land gehen. Das Schiff soll wieder zurückgefahren sein, um weitere Flüchtlinge zu holen. Es hat aber den Krieg überstanden, wurde 1947 an Griechenland übergeben und hat Dienst in der griechischen Handelsmarine getan, bis es 1953 in einem Sturm sank.20)

Ca. 1938: Hafen mit Koholit. Mein Vater hat auch Bilder vom Hafen in Königsberg gemacht. Auf einem ist zufällig das Schiff „Koholit“ zu sehen mit dem wir im April 1945 Ostpreußen ab dem Seehafen Pillau verlassen haben. Es waren ca. 1000 Menschen auf dem relativ kleinen Schiff.

In Stralsund trennte sich meine Mutter von dem Flüchtlingstransport um auf eigene Faust weiterzufahren. Die anderen Flüchtlinge, darunter auch Tante Herta mit Danie, wurden am Sonntag zunächst mit Wagen nach Andershof bei Stralsund gebracht, wo sie 3 Tage blieben.8) Am 11.4. ging es für sie mit der Eisenbahn zunächst nach Bergen auf Rügen, dann am 12. nach Saßnitz und am 13. von Saßnitz zurück über Bergen und  Stralsund nach  Rostock.  Dann  weiter über Bad Kleinen,  wo sie  einen schlimmen Tieffliegerangriff auf den Zug überstehen mußten nach Lübeck, wo sie am Morgen des 14.4. Zwischenstation machten. Es ging dann weiter über Hamburg nach Flensburg, wo sie am Mittag des 15.4. ankamen. Dort war Danie krank und kam ins Städt. Krankenhaus. Tante Herta bekam ein Quartier bei Bauern im Dorf Osterholm zugewiesen, wo sie zunächst alleine am 20.4. eintraf. Am 28.4. konnte sie dann ihre Tochter aus dem Krankenhaus abholen und bekam auch bald ein besseres Quartier bei dem Bauern Marquardsen. Sie blieben dann mehrere Jahre in der Gegend.

Aber zurück zum 8.4. in Stralsund. Wir machten uns auf, zum Bahnhof zu laufen. Meine Mutter hatte Schwierigkeiten das Gepäck zu tragen, zwei Koffer und einen Bettsack. Als sie nicht mehr weiter konnte, erkundigte sich eine Passantin bei ihr wo wir herkämen und wo wir hin wollten. Diese sprach daraufhin zwei zufällig vorbeikommende uniformierte junge Männer an, nach Meinung meiner Mutter HJ-Führer in Paradeuniform, die dann unwillig die Koffer schulterten und mit Sturmschritt zum Bahnhof gingen, so daß wir Schwierigkeiten hatten, zu folgen. Wir fuhren etwa um 1 Uhr mit der Eisenbahn in Richtung Bad Bramstedt ab, kamen aber nur bis Lübeck. Dort gab es gerade Fliegeralarm, als wir ankamen. Das Bahnhofsgebäude war abgeschlossen und so verbrachten wir die Nacht auf den Stufen einer Gleisunterführung. Übrigens glaubt meine Mutter, dort auf dem Bahnhof in Lübeck den Opa Jaquet aus Kaschen gesehen zu haben, wie er von zwei Soldaten geführt wurde. Wegen des Fliegeralarms und uns Kindern sei sie ihm nicht nachgelaufen.

Am nächsten Tag fuhren wir über Bad Oldesloe nach Bad Bramstedt, einem kleinen Rheumabad und kamen dort am frühen Nachmittag des 9. April an. Hier war vom Krieg nichts zu spüren, die Leute gingen spazieren wie im Frieden.

24) Nach Pillau – Chronik eines Untergangs, Seite 93 und 94 sollen für diese Tage folgende Schiffe für den Verwundeten- und Flüchtlingstransport ab Pillau vorgesehen gewesen sein: Marburg, Posen, Rügen, Glückauf, Pineta, Renate, Mercator, Ida Blumenthal, Söderham, Wiegand, Rodeneck, Schauenburg, Moltkefels, Goya, Mendoza, Fangturm und Koholyt. Einige dieser Schiffe werden sich in unserem Geleitzug befunden haben.                                      

Meine in Königsberg zurückgebliebenen Großeltern haben das Kriegsende zunächst überlebt. Tante Herta erhielt die folgende Nachricht ca. 1950 von Gerhardt Lüneberger, ihrem Neffen (dem Sohn einer Schwester ihres Ehemannes), der auch in Königsberg gewohnt hatte und dort als 13-jähriger mit seiner Mutter zurückgeblieben war. Er hatte in Ostpreußen überlebt obwohl seine Mutter gestorben war und durfte später ausreisen: Er traf meine Großmutter zufällig im Sommer 1945 in Königsberg. Der Großvater war verhaftet worden und mußte zu Fuß zum Lager Preußisch Eylau marschieren, wo er zu Baumfällarbeiten herangezogen wurde. Dort war er im Juni oder Juli an Typhus oder Ruhr, die im Lager grassierten, gestorben. Meine Großmutter hat vermutlich die 2. Jahreshälfte oder den folgenden Winter nicht überlebt. Eine spätere Nachforschung beim Roten Kreuz brachte kein Ergebnis. Sie wurden später mit Datum vom 31.12.1945 für tot erklärt.

Zur Fortsetzung siehe meinen Text: Erinnerungen an Bad Bramstedt

16.2.2002, Gernot Neumann,  Fehlerkorrekturen: 4.5.2004, 9.2007, 2.2012

Literaturangaben:

In den Anmerkungen wird aus diesen Quellen zitiert.

Abwehrkämpfe am Nordflügel der Ostfront 1944-1945, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1963

Helmut Blocksdorf; Pillau – Chronik eines Untergangs, Hamburg 2000

Ingrid Bidlingsmaier; Entstehung und Räumung der Ostseebrückenköpfe 1945, Neckargmünd 1962

Helmut Borkowski; Die Kämpfe um Ostpreußen und das Samland 1944-1945, herausgegeben von der Kreisgemeinschaft Fischhausen in Pinneberg 1993

Bundesarchiv (Ost-Dok 4), archiviert in der Nebenstelle Bayreuth

Diekert – Grossmann; Der Kampf um Ostpreußen, Minden 1960

Bernhard Fisch; Nemmersdorf Oktober 1944, Was in Ostpreußen tatsächlich geschah, Berlin 1997

Dr. Paul Gusovius; Der Landkreis Samland. Ein Heimatbuch der ehemaligen Landkreise Königsberg und Fischhausen, Würzburg 1966

Otto Lasch; So fiel Königsberg, München 1958

Edgar Günther Lass; Die Flucht: Ostpreußen 1944/45, Bad Nauheim 1964

Carl Friedrich von Möller; „Königsberger Odyssee 1945“ in: Leben in Ostpreußen, München 1963

F. Puhlmann; „Das Ende des Sperrwaffenarsenals Peyse“ (Bundesarchiv, Ost-Dok 8, Nr. 548), archiviert in der Nebenstelle Bayreuth

Th. Schieder; Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, herausgegeben vom Bundesministerium für Vertriebene Band I/1, Groß-Denkte, Wolfenbüttel 1953

H. Schön; Ostsee ’45, Menschen, Schiffe, Schicksale; Stuttgart 1983

G. Steinweg; Die deutsche Handelsflotte im 2. Weltkrieg

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