In den Kirchenzeitung „Schleswig-Holsteinischer Sonntagsbote“ des Jahres 1911 druckt der Bad Bramstedter Pastor Dr. Ernst Hümpel in mehreren Teilen einen Bericht des bekannten (Kunst-)Journalisten Wilhelm von Busch über den in Hitzhusen geborenen Kunstmaler Hinrich Wrage nach. Wrage ist ein Maler dessen Malereien noch heute zu guten Preisen gehandelt werden.
Ein oldenburgischer Maler in Holstein!
Ein oldenburgischer Maler in Holstein! So betitelt der Publizist Wilhelm von Busch einen Aufsatz über den in Hitzhusen geborenen Maler Hinrich Wrage in Gremsmühlen. Man könnte also auch die Ueberschrift umkehren in die Worte: Ein holsteinischer Maler in Oldenburg. Der Aufsatz, der zu Ehren unseres berühmt gewordenen Sohnes hier abgedruckt werden möge, lautet:
„Ausstellung von ca. 100 meiner Gemälde in Pension Bucheneck“ — diese ungewöhnliche Ankündigung auf Schildern fiel mir in dem zwischen Wald und See entzückend eingebetteten Gremsmühlen auf, und die Unterschrift „H. Wrage“ erinnerte mich an großzügige Dünenschilderungen von Sylt und an Waldbilder vom Keller- und Dieksee, die der Oldenburger Kunstverein vor Jahren im Augusteum ausgestellt hatte. In Urlaubsstimmung, ganz dem Genusse der Natur hingegeben, entschließt man sich schwer, sich mit Kunst zu beschäftigen, was so fatal in die Arbeitszeit zurückversetzt. Aber mich zog der Name an und das herbe, aufrichtige Verhältnis zur Natur, das ich seinerzeit in den Werken des unbekannten Gremsmühler Malers sympathisch durchgefühlt hatte.
In der Pension wird er ausgestellt haben, weil ihm dort vermutlich ein großer Saal zur Verfügung steht, dachte ich, und war nicht wenig erstaunt, den Künstler als Besitzer des größten Besitztums von Gremsmühlen kennen zu lernen, das nach meinem Geschmack alle andern Häuser in dem an komfortablen Fremdenpensionen nicht armen Badeorte weit hinter sich läßt. Ein verzauberter Garten umfängt den von der Holmpromenade am Dieksee Eintretenden, jener Garten, den Quellen durchrauschen und Springbrunnen beleben, dessen fast tropische Flora in Berg und Tal die seltsamsten Grotten und Lauben belebt, den Teiche und Alleen, lauschige Plätze und allerhand seltsame Bauten zu einem Paradiese für Träumer und Naturschwärmer machen.
Aber das alles sollte ich erst später kennenlernen. Fürs erste nahm ein himmelhohes Atelier mit den prächtigsten Bildern mich ganz, in Anspruch. Die Geheimnisse des tiefen holsteinischen Buchenwaldes, der Zauber der ‚baumbekränzten dunklen Seespiegel, die weltverlassene Einsamkeit der Bergmoore, die scharfe Lust an den meerumbrandeten Nordseeinseldünen, die Schauer der grauen Vorzeit an Hünensteinen, all das schaut dort auf 100 großen Leinwandtafeln an der Wand, in einer Technik, fast zu gediegen und kraftvoll für den Geschmack der Gegenwart, ohne je in Manier oder vordrängerische Absichtlichkeit zu verfallen, mit einer unbestechlichen Ehrlichkeit der Natur in hingebender Liebe abgelauscht. Der Buchenstamm, den Wrage malt, hat Kern und Kraft, sein Sonnenschein leuchtet mit warmem Scheine, und seine Meerwellen strömen förmlich salzigen Seeduft aus. Es ist eine Kunst, von den Modewandlungen der letzten Jahrzehnte unberührt, die nur darauf ausgeht, die großen Eindrücke der Natur treu und rein widerzuspiegeln und sich durch eine hochgerichtete Kunst davon zu befreien.
Dann lernte ich auch den Künstler selber kennen ——- keinen Kraftmenschen, wie man nach dem markigen Gehalt seiner Bilder denken sollte, sondern — das Herz tat mir weh — eine zarte Figur mit traurig verkrüppelten Beinen und einem feinen ergrauten Künstlerkopfe, dessen Augen aber in jugendlichem Feuer und voll Idealität in die Welt schauen. In seinem interessanten, von angestrengter Arbeit zeugenden Privatatelier hörte ich seine Geschichte.
Aufgewachsen in einem kleinen holsteinischen Torfe, Hitzhusen, als Sohn eines schmalen Eigners, lebt er — 1843 geboren —als kerngesunder Junge das Leben eines frischen Bauernburschen. Im Winter einige Stunden Schule, sonst Arbeit im Hause, im Sommer Viehhüten von Sonnenauf- bis -untergang. Im zwölften Jahre ziehe er sich eine Erkältung zu, die Füße schwellen an, der spät hinzugezogene Arzt behandelt das Leiden wohl falsch, jedenfalls verkrüppeln die Beine vollständig, und vier lange Jahre muß der Junge das Bett hüten. Ein Martyrium für ein Kind, das gewohnt war, Feld und Wald als seinen Spielplatz zu betrachten! Jede Unterhaltung ist ihm recht, und sein liebster Freund wird der alte Schäfer, der jeden Abend bei ihm einkehrt und ihm seltsame Geschichten erzählt. Eines Tages bringt er ihm ein Zeichenbuch mit allerhand Figuren, die er frohbeglückt anschaut. „Moder, dat kann ick ok,“ meint er, läßt sich Papier und Stift geben und zeichnet zur Verwunderung seiner Umgebung alles getreulich nach. Der Pastor bringt ihm eine Kinderfibel mit den seltsamsten bunten Zeichnungen, so kompliziert, wie man sie heute keinem Kinde in die Hand geben würde. Der Kranke wendet einen ganzen Winter (1858, 15 Jahre alt) daran, um sie vollständig mit Schrift und Druck, zu kopieren. Mit Rührung habe ich das vergilbte Heft betrachtet, in dem ein kaum noch für möglich gehaltener Fleiß sich mit minutiöser Treue betätigt hat. Es wird natürlich als Familienstück hochgehalten.
Der unglückliche Knabe, schwer an Stöcken gehend, wurde nach Kiel zu einem Porzellanmaler in die Lehre getan, konnte aber schon als Lehrling viel mehr als sein Meister. In der Gewerbeschule lernte er die ersten Grundlagen seiner späteren Lebensbeschäftigung, und reiche Hamburger Kunstfreunde ermöglichten sein Studium in Düsseldorf, wo er ein Lieblingsschüler des verstorbenen Oswald Aschenbach (von dem Großherzog Peter einige wundervolle Bilder erwarb) wurde. 1875 ging er mit seinem Freunde, Prof. Hagen, nach Weimar. In München war er Gussows Musterschüler, in Berlin auf der Akademie ließ er sich von Hertel leiten. Aus mehreren weiten Reisen lernte er die malerischen Schönheiten Deutschlands und Italiens kennen.
Aber die Sehnsucht seiner Jugend zog ihn 1879 aufs Land zurück. Ein Häuschen am Dieksee in dem damals noch ganz unbekannten und wenig besuchten Gremsmühlen erwarb er sich und begründete hier eine Malschule. Bald mußte er die benachbarte alte Fischbrutanstalt dazukaufen, um seine Pensionäre alle unterzubringen, und, nachdem er eine seiner Schülerinnen geheiratet hatte, gestaltete sich das immer größer werdende Besitztum, dessen Bau- und Gartenanlagen der Künstler in allen Einzelheiten mit glücklicher Hand selbst entwarf, zu der großen Fremdenpension Bucheneck, deren Zulauf der wundervollen Lage entspricht. Nun hat H. Wrage seine Schule längst aufgegeben, die Leitung des Unternehmens seiner Frau und drei fixen Töchtern überlassen, und widmet sich wieder ganz seiner schönen Kunst.
Gehaltvolle Stunden habe ich in dem gemütlichen Atelier verlebt, und war immer aufs neue erstaunt über die unerschöpfliche Fülle von Studien und Skizzen, die sich vor mir aufbauten. Wie bequem ist ihm das Malen aber auch gemacht! Aus jedem Fenster der vielen, geschmackvoll nur individuell ausgestatteten Zimmer schaut er ein Bild; der Garten ist eine unerschöpfliche Quelle von Motiven, und in einer Minute steht er in dem kirchenstillen Holm dessen himmelhohe, schlanke Buchen leise raunend Zwiegespräch halten mit den murmelnden Wellen des Dieksees.
Auch in unserem Lande hat der Künstler ein ihm zusagendes Gebiet gefunden: Den Urwald, dessen alte Bäume, namentlich die gestürzten Rieseneichen, ihm wundervolle Studienobjekte boten. Ich habe ihm zugeredet, hier wieder auszustellen, und er hat es in Aussicht genommen, zugleich mit einem neuen Studium des Urwaldes. Zunächst wird er Sylt wieder besuchen, wo ihn das Meer ungewöhnlich anzieht. Er studiert es in jeder Stimmung und bei jeden: Wetter, als er das letzte Mal dort einmal von frühmorgens bis mittags bei Sturm und Regen unter seinem Malschirm mit Pinsel und Palette ohne Unterbrechung arbeitete, kam mehrere Male ein Steinfuhrmann mit seinem schmerbeladenen Gespann vorbei. Als der den Maler trotz Kälte und Nässe immer noch sitzen sah, sprach er zuletzt die denkwürdigen Worte zu ihm: „Nä, Maler, denn will ick doch lewer Steene föhren!“
Auf wie viele Hunderte deutscher Maler dies Wort wirklich Anwendung finden könnte, das lehrt ein Gang durch die sommerliche Kunstausstellung mit ihrer unübersehbaren Bilderflut. Der Besitzer von Bucheneck konnte es allerdings mit Humor anhören. Seine Kunst braucht ihm nicht die „milchende Kuh“ zu sein; er kann sich ihr ohne störende Nebenrücksichten widmen und schöne Bilder ohne Ende schaffen, die sich — .zugleich mit der wundervollen Besitzung — jeder ansehen sollte, der dem lieblichen Gremsmühlen einen Besuch abstattet.
Wilhelm von Busch.
Soweit der Bericht des Herrn von Busch. Daß der Künstler gerade den Wald mit seinen markigen Eichen und Buchenstämmen, mit seinem wirren Durcheinander und seinen stillen silbernen Lichtreflexen, kurz, den Wald in seiner rauhen Wirklichkeit und in seiner anheimelnden Lieblichkeit zum Gegenstand seiner Studien gemacht hat, das zeigen einzelne Werke aus der Werdezeit des Malers. So befindet sich im Besitz des Herrn Kirchenältesten Ohrt in Hagen ein echter Wrage. Das Bild stellt die Bramau mit ihrem hohen Ried im Schatten der Harmsschen Eichenpartie dar. Von einem andern echten Wrage sah ich kürzlich eine Kopie, verfertigt von Herrn Maler Struve. Es stellt den Durchblick durch die hochragenden Eichen- und Buchenstämme des früheren Harmsschen Liethwaldes bei Hitzhusen auf unsere Kirche dar. In beiden Bildern die energische Vorliebe für den deutschen Wald! Wer selbst in einem Walddorfe aufgewachsen ist, kann diese Vorliebe mit empfinden. — Schade, daß beide malerischen Bilder in der Natur nicht mehr vorhanden sind!
Unserm Künstler aber möge diese anspruchslose Nachschrift klingen wie eine Erinnerung an das Werden in jungen Jahren zu dem, was er ist, dein liebevollen, gedankenreichen, gemütstiefen Darsteller des heimischen Waldes. — Ernst Hümpel.
Die Miniaturbilder sind entnommen bei:
http://www.artnet.de/k%C3%BCnstler/joachim-hinrich-hinnerk-wrage/auktionsresultate