March: Historische Wurzel der Vogelschützengilde

aus Jubiläumsschrift 1995: 300 Jahre Vogelschützengilde; mit freundlicher Genehmigung von Dr. U. March


Historische Wurzel der Vogelschützengilde

von Ulrich March

Im Juni 1995 feiert die Bramstedter Vogelschützengilde ihr dreihundertjähriges Bestehen. Das ist, wissenschaftlich gesehen, durchaus in Ordnung, denn laut schriftlicher Überlieferung der Gilde ist diese im Jahre 1695 gegründet worden. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, daß die Wurzeln des Bramstedter Gildewesens viel weiter in die Vergangenheit zurückreichen. Mit der Möglichkeit, daß 1695 an eine ältere Tradition angeknüpft wurde, daß die Gilde damals also nicht neu-, sondern wiederbegründet wurde, muß gerechnet werden.

Für diese Hypothese gibt es mehrere Anhaltspunkte. Im Bewußtsein der Gildebrüder und Gildeschwestern ist die Vogelschützengilde uralt. Wenn bei feierlichen Anlässen immer wieder von „uns dusendjährige Gill“ die Rede ist, so ist das nicht rhetorische Ubertreibung, sondern Ausdruck der Vorstellung, daß es die Gilde eigentlich seit jeher gegeben habe.

Aussagekräftiger noch sind gewisse archaische Rituale, die sich in der Vogelschützengilde bis zum heutigen Tag erhalten haben. Alljährlich findet zum Ende der Gildetage ein mitternächtlicher Besuch des Vorstands im Haus des neuen Gildekönigs statt, wo der Ältermann der Königin unter striktem Ausschluß der Öffentlichkeit ein FruchtbarkeitsSymbol übergibt, das am selben Abend unter Beachtung strenger Rituale angefertigt wird und nur Eingeweihten bekannt ist.

Dieses an alte Mysterienkulte erinnernde Gilde-Zeremoniell kann kaum in einer bereits stark christlich geprägten Zeit entstanden sein. Zwar haben sich in Nordelbingen heidnische Kultformen in bestimmten Bereichen mindestens bis zum 13. Jahrhundert erhalten, da die kirchliche Infrastruktur – zunächst nur vier Kirchen zwischen Eider und Elbe – eine ausreichende gottesdienstliche Versorgung und seelsorgerische Betreuung der Bevölkerung nicht gewährleisten konnte. Dennoch kann das beschriebene, offenkundige auf heidnische Vorstellungen beruhende Gilderitual wohl nicht erst im späten Mittelalter (1250- 1500) entstanden sein; es ist vielmehr auf das Hochmittelalter (800 – 1250) oder gar auf das Frühmittelalter zurückzuführen.

Auch die sonstigen Modalitäten des in jedem Jahr stattfindenden Zeremoniells verweisen auf die vorchristliche Zeit. So veranstalten die Vorstandsmitglieder, während sie in düster-nächtlicher Atmosphäre zum Haus des Königs gehen , allerlei Lärm, unter anderem indem sie mit ihren Stöcken an Gegenständen oder auf den Boden schlagen; offensichtlich sollten einstmals so die bösen Geister verscheucht werden. Das ganze erinnert entfernt an die alemannische Fassenacht, die ja ebenfalls auf heidnische Zeiten zurückgeht.

Ein weiteres Argument für die Vermutung, daß die Bramstedter Vogelgilde ältere Wurzeln hat, ist die Tatsache, daß das Gildewesen seine eigentliche Blütezeit nicht in der Neuzeit, sondern im Mittelalter erlebt hat. Eine Gilde ist “eine auf freier Einigung beruhende, oft durch Eid bekräftigte Personenvereinigung zu gegenseitigem Schutz und Beistand, zu religiöser und gesellschaftlicher Tätigkeit sowie zur beruflichen und wirtschaftlichen Förderung ihrer Mitglieder“ (Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte). Angesichts dieses Aufgabenkatalogs ist es zumindest recht wahrscheinlich, daß es in Bramstedt auch vor dem ausgehenden 17. Jahrhundert bereits gildeähnliche Vereinigungen gegeben hat.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß Bramstedt spätestens seit Anfang des 14. Jahrhunderts zentralörtliche Funktionen erfüllt, als Kirchort nämlich eines ausgedehnten Kirchspiels. Hier residiert der Kirchspielsvogt, hier tritt das Kirchspielsding zusammen, mehr noch: Die Kirchspiele bilden die Gliederungseinheit des öffentlichen Lebens schlechthin. Damit ist seit dem Spätmittelalter die Voraussetzung, ja die Notwendigkeit für die Tätigkeit von Gilden oder gildenähnlichen Vereinigungen gegeben.

Die Tätigkeit von Gilden ist damals schon deswegen erforderlich, weil es Staatlichkeit im modernen Sinne noch nicht gibt. Die Geschichtswissenschaft unterscheidet zwischen dem älteren Personenverbandstaat, in dem bestimmte Personengruppen öffentliche Aufgaben wahrnehmen, und dem institutionellen Flächenstaat der Neuzeit, der flächendeckend und mit dem Anspruch auf Monopol durch seine Institutionen in zunehmendem Maße das gesamte öffentliche Leben durchdringt. Zu den Personenverbänden, die ursprünglich solche Funktionen erfüllen, die heute Sache des Staates sind, gehören neben Sippen und Gauverbänden auch die Gilden, die insbesondere im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben eine wichtige Rolle spielen.

Der Ausdruck ‘gilda‘ bedeutet im Althochdeutschen soviel wie ‘Opfergelage“. Der Begriff verweist damit auf die für die Gilden kennzeichnende Verbindung zwischen – in heidnischer Zeit von Opfern begleiteten – öffentlich-staatlichen und geselligen Aktivitäten, von denen sich die letzteren bis auf den heutigen Tag erhalten haben. Die Verfassungsentwicklung in Schleswig-Holstein ist dadurch gekennzeichnet, daß sich Staatlichkeit im modernen Sinne nur sehr allmählich entwickelt. Bis zum 15. Jahrhundert, in Dithmarschen bis zum 16. Jahrhundert ‚ werden öffentliche Aufgaben weitgehend von Personenverbänden wahrgenommen, und zwar von Abstammungsverbänden (z. B. Sippen, Geschlechtern), Siedlungsverbänden (z. B. Gau- oder Kirchspielsverbänden) und Gilden oder gildenartigen Vereinigungen (Genossenschaften, Schwurverbänden). Ein Beispiel für die letzteren ist etwa die berühmte Schleswiger Knutsgilde, die im 12. Jahrhundert zeitweilig landesweit Bedeutung gewinnt.

Erst um die Wende zur Neuzeit kommt es zu einer stärkeren staatlichen Durchdringung des öffentlichen Lebens. Der Staat setzt sein Gewaltmonopol durch, entwickelt immer mehr Institutionen und Verwaltungen (z. B. Forstwesen, stehendes Heer) und beansprucht in zunehmendem Maße Kompetenzen auch auf unterer Ebene. Je stärker der Einfluß des modernen Staates wird, umso mehr geht die Bedeutung der Personenverbände zurück. Diese Entwicklung betrifft auch die Gilden; sie verschwinden zwar nicht, verlagern aber ihre Tätigkeit auf den gesellschaftlich-geselligen Bereich.

Auch wenn wir für Bramstedt aus der Zeit vor dem 17. Jahrhundert keinerlei Nachrichten haben, kann man wohl davon ausgehen, daß sich — aufs Ganze gesehen —die Entwicklung hier nicht wesentlich anders vollzogen hat. Vielleicht hängt der Nachrichtenmangel ja gerade mit dem Rückzug der Gilden auf den geselligen Bereich zusammen.

Wie erklärt sich nun aber die Gründung oder – wenn man der vorgetragenen Hypothese folgt – die Neubegründung bzw. Reaktivierung beider Bramstedter Gilden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts?

Die stärkere staatliche Durchdringung des öffentlichen Lebens und damit die Zurückdrängung der Personenverbände war auch dadurch begünstigt worden, daß die Schleswig-Holsteiner im 16. und auch noch im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts zumeist ruhige, friedliche Zeiten erlebt haben. Dagegen beginnt mit dem Angriff Tillys und Wallensteins auf Schleswig-Holstein im Jahre 1627 für die Herzogtümer im allgemeinen und für Bramstedt im besonderen eine lange Not- und Leidenszeit. Die einzelnen Feldzüge des Dreißigjährigen Krieges, der dänisch-schwedischen Kriege, insbesondere des für die Bevölkerung ganz schrecklichen sogenannten Pollackenkrieges, schließlich des Nordischen Krieges bringen Einquartierung, Plünderung, Brandschatzung, Zerstörung. Die Not ist fast überall groß, und damit wächst die Neigung der Bevölkerung zu korporativen Zusammenschlüssen bzw. die stärkere Betonung vorhandener entsprechender Verbindungen. In Bramstedt zeigt sich dies sehr deutlich daran, daß die Fleckensgilde aus dem zwischen 1685 und 1695 von den Bramstedtern geführten Freiheitskampf hervorgegangen ist, also aus einer ausgesprochenen Notsituation heraus entstanden ist.

1695 ist die Freiheit der Fleckenseingesessenen zwar gesichert, aber die Probleme waren damit noch nicht beseitigt. Vor allem hatte sich während der Wirrnisse des nunmehr allmählich zu Ende gehenden Jahrhunderts eine gewisse Funktionsunfähigkeit des noch nicht gefestigten Staates erwiesen. Der Staat konnte weder die Wohlfahrt der Bürger noch deren äußere Sicherheit gewährleisten: Große Teile der Bevölkerung waren verarmt, und auf den Straßen trieben sich Räuber und sonstige Banditen herum – Strandgut der zahlreichen Kriege.

Was lag näher, als daß sich die Gilden angesichts dieser Situation wieder auf ihre alten Aufgaben besannen? Das Versagen des Staates veranlaßte sie, ihre Tätigkeit wieder stärker in den öffentlichen Bereich zu verlagern und gewisse Teilfunktionen des Staates zu übernehmen.

Dabei kommt es in Bramstedt zu einer klaren Aufgabenteilung zwischen den beiden Gilden. Während sich die Fleckensgilde vor allem um die innere Ordnung des Fleckens kümmert (Feuerwehr, Versicherung, Beerdigungswesen ), fühlt sich die Vogelschützengilde für die äußere Sicherheit der Bürger verantwortlich. Das Vogelschießen hat einen ganz praktischen Zweck: Man muß notfalls mit der Waffe umgehen können.

Die Vogelschützengilde spielt also vor 300 Jahren eine ähnliche Rolle wie etwa heute die Bürgerwehren, die bei Gefährdung der öffentlichen Sicherheit die Polizei unterstützen. Dabei bleibt es jedoch nicht lange. Nach dem Nordischen Krieg brechen wieder friedliche, in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht erfreulichere Zeiten für Schleswig-Holstein an. Insbesondere während der Ära Bernstorff sorgt der Staat in geradezu vorbildlicher Weise für seine Bürger. Die Vogelschützengilde kann sich endgültig auf die Aufgaben zurückziehen, die sie bis heute wahrnimmt: die Pflege von Tradition, Brauchtum und Geselligkeit.

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