March: Der Raum Segeberg im Zeitalter der altsächsischen Gauverfassung

aus dem Heimatkundlichen Jahrbuch des Kreises Segeberg 1987, S. 14 ff


Dr. Ulrich March, Bad Bramstedt

Der Raum Segeberg im Zeitalter
der altsächsischen Gauverfassung

  Der germanische Gau ist ein politisch organisiertes Siedlungsgebiet mittlerer Größe, das von den Nachbargauen in der Regel durch breite, verkehrsfeindliche Zonen (Ödmarkengrenzen) getrennt ist. Sein wichtigstes politisches Organ ist die Gauversammlung, in Norddeutschland als „Goding“ bezeichnet, die nicht nur die politischen Grundsatzentscheidungen fällt, sondern auch Heeres- und Gerichtsversammlung darstellt. Von den etwa hundert Gauen, die es auf dem Gebiet des Sachsenstammes zum Zeitpunkt seiner Unterwerfung durch Karl den Großen gibt, liegen drei nördlich der Elbe: der Dithmarschengau (heutiger Landkreis Dithmarschen), der Holstengau (Mittelholstein) und der Stormarngau (Großraum Hamburg). Die beiden letzteren erstrecken sich auch über das Gebiet des heutigen Kreises Segeberg, und zwar gehört der Westen des Kreises (Raum Bramstedt/Kaltenkirchen) zum Holstengau, der Raum Norderstedt und das heutige Amt Itzstedt zum Stormarngau. Östlich von diesen Gebieten, im Bereich des Segeberger Forstes und an der mittleren Trave, befindet sich eine breite, kaum durchdringbare Ödmarkenzone. Sie ist ein Teilstück des Limes Saxoniae, der sich von der Kieler Förde bis zum Sachsenwald erstreckt und das Siedlungsgebiet der Sachsen von dem der in Ostholstein ansässigen Slawen trennt.

  Anders als im übrigen Deutschland bleibt die Gauverfassung in den Gebieten nördlich der Elbe während des Hochmittelalters erhalten, da sich die Vertreter der Reichsgewalt, Grafen und Herzöge, und die im übrigen Reich vorhandenen Verfassungsinstitutionen, etwa Grundherrschaft oder Lehnswesen, hier zunächst nicht oder nicht auf Dauer durchsetzen können. Bis in die Zeit Heinrichs des Löwen hinein liegt vielmehr die eigentliche politische Macht bei den überkommenen volksrechtlichen Gewalten, vor allem beim Goding, dessen Vorsitzender, der „Overbode“, auch noch im 13. Jahrhundert genannt wird. Das Goding des Stormarngaus tritt in der Nähe von Hamburg (wahrscheinlich bei Volksdorf), das für den Holstengau zunächst in Schenefeld bei Hohenwestedt, dann bei Lockstedt im Kreis Steinburg oder auf dem Jahrschen Balken nördlich von Itzehoe zusammen.

  Im Jahre 1139 erobern die Holsten, Stormarner und Dithmarscher das ostholsteinische Slawenland, das seit 1143 planmäßig besiedelt wird. Was das Gebiet des heutigen Kreises Segeberg angeht, so siedeln im Bereich des alten Limes Saxoniae vor allem Holsten, östlich davon, im ehemaligen Slawengau Dargun, vorwiegend Westfalen. Auch im ostholsteinischen Neusiedelland bildet sich ein Goding, das auf dem Megedeberg bei Plön (in der Nähe des heutigen Hotels Fegetasche) zusammentritt und mehrfach bezeugt ist. Nach der Vorstellung der Zeitgenossen wird also durch die Eroberung Ostholsteins den drei vorhandenen Gauen ein vierter Gau „Wagrien“ hinzugefügt. Zu diesem Gau „Wagrien“ gehören somit auch die mittleren und östlichen Teile des heutigen Kreises Segeberg.

  Obwohl die älteste Nachricht über die nordelbische Gauverfassung erst aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts stammt, lassen sich die Gaugebiete und Gaugrenzen bereits für das frühe Mittelalter erschließen. Trägt man nämlich auf einer Karte alle dieje

Zusammentreffen dreier nordelbischer Gaue im Raum Segeberg
=     Gaugrenzen im 12. Jahrhundert
o  Kirchspielsort
_   Grenze des heutigen Kreises Segeberg

nigen Orte ein, die aufgrund ihrer Namensform sehr alt sind — das ist etwa bei den auf -stedt, -dorf und -feld endenden Orten der Fall —, so ergibt sich eine deutliche Konzentration auf Dithmarschen, Mittelholstein und den Raum Hamburg, während die dazwischen liegenden Gebiete mehr oder weniger ausgespart bleiben. Schon im frühen Mittelalter konzentriert sich also die Siedlung auf die seit dem 11. Jahrhundert bezeugten Gaugebiete, während die dazwischen liegenden Zonen, für die keine oder nur sehr wenige Belege der ältesten Ortsnamensschicht beizubringen sind, die seit altersher vorhandenen Ödmarkengrenzen sein müssen.

  Kombiniert man den Befund der Ortsnamenkarte mit den ältesten einschlägigen Nachrichten, so lassen sich für den Bereich des Kreises Segeberg die älteren Siedlungsgebiete und Ödmarkenzonen in etwa bestimmen. Legt man die ältesten Kirchspielorte zugrunde, die nicht nur in religiöser, sondern auch in politischer Hinsicht die Bezugspunkte für das Umland darstellten, so gehören Bornhöved, Segeberg und Leezen mit Sicherheit zum Neusiedelland, also zum „Gau Wagrien“. Kaltenkirchen und Bramstedt dagegen gehören seit jeher zum holsteinischen Altsiedelland, ebenso wie der „Faldera-Gau“, das Gebiet um Neumünster. Zu den ältesten Kirchspielorten, die für den Stormarngau bezeugt sind, gehören Rellingen, Nienstedten, Bergstedt und Sülfeld. Dazwischen erstrecken sich die Ödmarkengrenzen, durch die der Holstengau, der Stormarngau und Wagrien voneinander geschieden sind. Die zum Teil gewaltigen Dimensionen der Kirchspiele erklären sich daraus, daß sie erhebliche Teile des Ödmarkengebietes umfassen.

  Am leichtesten läßt sich die Westgrenze des alten Slawenlandes, also des „Gaues Wagrien“, bestimmen. Da das ostholsteinische Neusiedelland in kirchlicher Hinsicht dem Bistum Lübeck untersteht, braucht man nur die Westgrenze dieses Bistums zu ermitteln. Sie entspricht der Westgrenze der Kirchspiele Bornhöved und Segeberg sowie der Südwestgrenze der Kirchspiele Leezen und Oldesloe. Innerhalb des Kreises Segeberg verläuft diese Grenze westlich des heutigen Segeberger Forstes und über die Moor- und Niederungsgebiete südwestlich der Linie Hartenholm-Todesfelde-Fredesdorf-Heiderfeld und Groß Niendorf; die genannten Gemarkungen gehören noch zum Bistum Lübeck und damit zum „Gau Wagrien“.

  Was die Grenze zwischen dem Holsten- und dem Stormarngau angeht, so läßt sich die alte Ödmarkengrenze teilweise bis heute aus den geographisch-naturräumlichen Gegebenheiten ermitteln. Im Südwesten, Süden und Osten des Kirchspiels Kaltenkirchen erstrecken sich jahrhundertelang ausgedehnte Wald-, Moor- und Sumpfgebiete, die den Holstengau nach Süden abschließen. Dazu gehören die Moore zwischen Lentföhrden und Quickborn, das Niederungsgebiet der oberen Pinnau, der Oberalsterraum und der Kisdorfer Wohld. Die Gaugrenze verläuft südlich von Alveslohe, Ulzburg und Wakendorf, wendet sich sodann in nördliche Richtung und läuft auf die oben gekennzeichnete Grenze des Wagrien-Gaues zu, wobei die Gemarkungen Kisdorfer Wohld und Hüttblek beim Holstengau verbleiben. Dagegen gehören die Orte Nahe, Itzstedt, Oering, Sievershütten, Struvenhütten, Stuvenborn und Seth zum Stormarngau, da das riesige Stormarner Kirchspiel Sülfeld sich in diesem Bereich sehr weit nach Nordwesten erstreckt.
Der germanische Gau besteht — ähnlich wie die Stadt des Mittelalters — in aller Regel aus vier Vierteln, unter denen man Siedlungskammern zu verstehen hat, die — wie der Gau selbst — in politischer, rechtlicher und kultischer Hinsicht Bedeutung haben. Für den Holstengau hat die Forschung ein Nordviertel, ein Nordostviertel, ein Westviertel und ein Südviertel ermittelt; diesen Vierteln entsprechen die „Urkirchspiele“ Jevenstedt, Nortorf, Schenefeld und Kellinghusen. Die Kirchspiele Bramstedt und Kaltenkirchen, die man sich als Abspaltungen des Urkirchspiels Kellinghusen vorzustellen hat, gehören zum Südviertel des Gaues. Für den Stormarngau läßt sich die Viertelsgliederung nicht so genau nachweisen, doch wird im allgemeinen ein Westviertel (Kirchspiele Rellingen/Eppendorf), ein Ostviertel (Rahlstedt/Steinbeck), ein Nordviertel (Hamburg/Nienstedten) und ein Nordostviertel (Bergstedt/Sülfeld) angenommen; die heute zum Kreis Segeberg gehörigen Gebiete haben demnach den beiden letzten angehört.

Spuren einer alten Viertelsgliederung finden sich auch im Bereich des „Gaues Wagrien“, allerdings nur noch im kirchlichen Bereich. In vier Kirchenverzeichnissen des 13. Jahrhunderts werden die Pfarrkirchen des Bistums Lübeck, dessen Ausdehnung der des „Gaues Wagrien“ entspricht, unter geographischen Gesichtspunkten zu vier Gruppen zusammengefaßt, die jeweils einer Hauptkirche („ecclesia Stationalis“) zugeordnet sind. Als Hauptkirchen werden Plön, Oldenburg, Süsel und Segeberg bzw. Warder genannt. Zum Südwestviertel des Bistums gehören neben Segeberg und Warder außerdem die Kirchspiele Bornhöved, Schlamersdorf, Gnissau, Pronstorf, Oldesloe und Leezen. Da die Quartgliederung des Bistums Lübeck zum großen Teil auch den Siedlungs- und späteren Verwaltungsgrenzen Ostholsteins entspricht, ist nicht auszuschließen, daß hier eine zeitweilig vorhandene Viertelsgliederung des ostholsteinischen Neusiedellandes durchschimmert.

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