Platte: Festvortrag 1986 – 125 Jahre Bramstedter Turnerschaft

Aus dem Heimtkundlichen Jahrbuch des Kreises Segeberg 1986

Wolfgang Platte, Wiemersdorf

125 Jahre Bramstedter Turnerschaft

Festvortrag, gehalten anläßlich der Jubiläumsfeierlichkeiten 1986

Die sportlichen Großveranstaltungen des Jahres 1986 haben erneut den engen Zusammenhalt der beiden Bereiche Sport und Politik deutlich gemacht — verwiesen sei in diesem Zusammenhang nur stellvertretend auf die Fußball-Weltmeisterschaft, die Schwimmweltmeisterschaften in Berlin oder die in der vergangenen Woche abgeschlossenen Commonwealth Games im schottischen Edinburgh.

Sport und Politik, so mögen Sie jetzt fragen — was hat ausgerechnet dieses Thema mit der historischen Würdigung der Bramstedter Turnerschaft von 1861 zu tun, die mir hier zur Aufgabe gestellt worden ist? Eine genauere Betrachtung beider Bereiche zeigt jedoch schnell, daß der Sport im weitesten Sinne mit der Politik wesensverwandt ist. Beide, der Sport, wie auch die Politik, haben mithin die gleiche historische Wurzel.

Betrachten wir zunächst einmal den Begriff des Sportes etwas eingehender. In der deutschen Sprache ist der dem Englischen entnommene Begriff Sport (dort die Kurzform für disport = Vergnügen) seit dem Jahre 1928 nachweisbar und wird seither synonym für den Begriff Leibesübungen verwendet. Die Bezeichnung „Leibesübungen“ steht dabei mehr für den erzieherischen Aspekt, das Schulfach Leibesübungen oder Leibeserziehung etwa; die in besonderen Vereinen praktizierten Leibesübungen werden sprachlich mit dem Begriff des Turnens belegt.

Verweilen wir einen Augenblick jedoch bei den Leibesübungen. Sie lassen sich historisch zurückverfolgen bis in die griechische Agonistik, d. h. etwa bis ins achte vorchristliche Jahrhundert hinein. Sie waren wesentlicher Bestandteil der in den Götterkult eingebundenen großen Spiele, z. B. den olympischen Spielen oder Isthmischen Spielen, zu denen nach der damaligen Auffassung von der Einheit von Körper und Seele eben nicht nur die Beherrschung der sportlichen Kampfdisziplinen, sondern auch die Rede- und Vortragskunst der Athleten zählte. Sportliches Engagement kam in der antiken Polis dem politischen Engagement gleich, dementsprechend galten die Regeln für den sportlichen Wettkampf der Form nach auch für die politische Auseinandersetzung um die Belange der rei publicae, der öffentlichen Angelegenheiten des Stadtstaates also.

In diesem mehr der antiken Urbedeutung der Begriffe angelehnten Sinne möchte ich hier auch Politik verstanden wissen: als eine Gemeinschaft von Menschen, die ihre Geschicke, die Angelegenheit ihres Gemeinwesens, ihrer Polis also, selbst in die Hände nehmen, alleinverantwortlich und autonom Entscheidungen für ihr Gemeinwesen treffen und sich dabei füreinander einsetzen und füreinander Verantwortung über­nehmen.

Im Mittelalter waren die Leibesübungen fester Bestandteil des ritterlichen Lebens. Sportlicher Wettkampf und sportliches Training symbolisierten die Wahrhaftigkeit eines Staates, dokumentierten zugleich den Einsatz des Athleten für die Belange seines Gemeinwesens. Lediglich die körperfeindlich gesonnene nachreformatorische Zeit ließ die Bedeutung der Leibesübungen als politisch integrierendes Element staatlichen Lebens in den Hintergrund treten.

Erst die sogenannten Philantropen (Menschenfreunde) des ausgehenden 18. Jahrhunderts, unter ihnen die Pädagogen Vieth, Bagedow und später auch, als bedeutendster unter ihnen, Friedrich Ludwig Jahn, entdeckten die Einheit von Körper und Seele neu und damit auch den Wert der Leibesübungen. Von ihnen stammt auch die Bezeichnung ,Turnen“, ein allen politischen Vorbehalten gegen das Französische zum Trotze aus dieser Sprache abgeleiteter Begriff. Turnen — frz. Tournement bezeichnete zum einen das Dehnen, Drehen und Recken des Körpers, zum anderen aber auch Turnier gleich Wettkampf. Die als Drehen, Recken und Strecken bezeichneten Bewegungsabläufe beziehen sich dabei auf das Geräteturnen. Das Engagement des Lehrers Friedrich Ludwig Jahn für das Turnen führte im Jahre 1811 zur Gründung der deutschen Turnbewegung.

Wie auch in Antike und Mittelalter wurde das Turnen nicht als Selbstzweck, als l’art pour l’art angesehen. Vielmehr betonten Friedrich Ludwig Jahn und seine Anhänger den Wert des Turnens als Mittel einer vormilitärischen Jugenderziehung, und beriefen sich dabei in der im Jahre 1816 erstmals erschienenen Schrift „Die deutsche Turnkunst“ auf die Jugenderziehung im griechischen Sparta. Gerade der Aspekt der vormilitärischen Jugenderziehung etwa im Sinne des antiken Sparta ist Kristallisationspunkt des politischen Hintergrundes, ohne den die Turnbewegung des frühen 19. Jahrhunderts nicht oder nicht hinreichend verstanden werden kann, war doch das politische Hauptziel dieser Bewegung einerseits die Beseitigung der napoleonischen Fremdherrschaft (daher die ideologischen Vorbehalte gegen das Französische) und, weiterführend, die Überwindung der deutschen Kleinstaaterei, mithin also die Bildung eines einheitlichen deutschen Gesamtstaates. Die deutsche Turnbewegung sollte somit zu einer der wichtigsten Triebkräfte in Richtung auf die Gründung eines deutschen Nationalstaates werden.

Der innere Aufbau der deutschen Turnerschaft ähnelt somit in vielen Bereichen einer politischen Partei oder man könnte auch von einer Kampfgruppe sprechen. Die starke gemeinschaftsorientierte Bindung, die in einer einheitlichen Turnkleidung, der Turnerfahne, des Turnerwahlspruches, ja sogar einer eigenen Turnersprache, zum Ausdruck kam, ist dabei als Vorstufe staatlicher Einheit zu sehen, die das einzelne Mitglied im Dienste des Ganzen beanspruchte. In ihr kam das Streben nach Gemeinschaftlichkeit, Gleichheit und vaterländischer Gesinnung zum Ausdruck. Es waren dies die Wünsche und Sehnsüchte vieler Menschen am Beginn des 19. Jahrhunderts, die in den Idealen der deutschen Turnbewegung zum Ausdruck kam, und die schließlich mit ihr ein Ventil im gemeinsamen Kampf um die Freiheit von der napoleonischen Herrschaft fand, eine Bewegung, die nicht allein auf einige deutsche Teilstaaten beschränkt war, sondern die durchaus europäische Züge hatte, wie sich etwa in der Völkerschlacht von Leipzig zeigen sollte.

Der freisinnig-liberale und gleichzeitig nationale Charakter der deutschen Turn­bewegung sollte in der Zeit nach 1815 sehr bald in den Strudel des Restaurationszeitalters kommen. Den auf den Erhalt ihrer traditionellen Herrschaft erpichten deutschen Territorialfürsten, an ihrer Spitze der Österreicher Metternich, waren Bewegungen wie die der deutschen Burschenschaft mehr als suspekt, so daß im Jahre 1819 das Verbot der deutschen Turnbewegung im Zuge der sogenannten Karlsbader Beschlüsse folgte. In der nachfolgenden Zeit des Biedermeier war das Turnen gleichbedeutend mit einer subversiven und somit kriminellen politischen Betätigung, bis im Jahre 1842 die Turnsperre in Preußen aufgehoben wurde. Sehr schnell verbreitete sich das Turnen in Schulen, Vereinen und insbesondere den Burschenschaften, wobei erneut der Aspekt einer gemeinschaftsorientierten Bindung in den Vordergrund rückte. Ihrem Streben nach Schaffung eines einheitlichen deutschen Nationalstaates getreu begann sich die deutsche Turnbewegung über die Grenzen der deutschen Teilstaaten hinweg „gesamtdeutsch“ zu organisieren. Bindeglied zwischen den einzelnen Landesverbänden wurde vom Jahre 1856 die „Deutsche Turnzeitung“ als überregionales Organ der deutschen Turnbewegung. Das Jahr 1860 sollte in diesem Zusammenhang einen ersten Höhepunkt dar­stellen. Erstmals fand ein deutsches Turnfest im bayrischen Coburg statt.

Es ist als wahrscheinlich anzusehen, daß dieses große turnerische Ereignis, das in der liberalen Presse jener Jahre als großartiges Gemeinschaftserlebnis gefeiert wurde, die ein Jahr später erfolgte Gründung des Männerturnvereins zu Bramstedt nachhaltig motivierte. Wenn wir den Vereinsunterlagen leider keine Informationen über die Motive der damaligen Gründungsmitglieder Voigt, Lütje, Schulz, Höpke und Rumpf entnehmen können, so ist der Zusammenhang durchaus rekonstruierbar. Ein der Bramstedter Türnerschaft gewidmeter Zeitungsartikel vom 1.7.1929 führt u.a. aus, daß die Gründung der Bramstedter Turnerschaft unter Mitwirkung von Turnern des im Jahre 1859 gegründeten Männerturnvereins Neumünster erfolgt sei. Was liegt näher als die Verbindung der drei genannten Daten zu einem Zusammenhang, das heißt, Turner aus der Nachbarstadt Neumünster, die ihre in Coburg zusätzlich entfachte Begeisterung auf die Gründung der Bramstedter Turnerschaft übertragen.

Allerdings hatte das organisierte Turnen in Schleswig-Holstein einen anderen Stellenwert als etwa in Preußen. Obgleich als Pflegestätte des nationalen Gedankengutes vor 1848 anzusehen, wurden die Turnvereine in den Herzogtümern Schleswig und Holstein insbesondere in der Zeit nach 1867, dem Jahr also, als die „up ewig ungedeelten“ sich plötzlich zwangsweise als Preußen wiederfanden, als Stätten preußischen Drills betrachtet und als Symbol des ungeliebten Staates weitgehend abgelehnt. Dieser Umstand ist auch auf das plötzliche Einschlafen der Vereinstätigkeit nach 1868 anzuwenden. Ein in dem bereits angesprochenen Zeitungsartikel vorgetragener Erklärungsversuch, der den Deutsch-Französischen Krieg von 1870 für das Einschlafen der Vereinstätigkeit verantwortlich macht, erscheint bei genauerer Betrachtung als unzutreffend.

Das im Jahr 1884 zu verzeichnende Wiederaufleben des Vereins kann wiederum im Zusammenhang mit Veränderungen im politischen Bereich — regional wie überregional — gesehen werden. Allgemeinpolitisch hatten sich die Vorbehalte nach der deutschen Reichsgründung grundlegend verändert. Politisch-ideologisch motivierte Verhalten gegen dem Turnen als Symbol preußischen Drills wurden als Folge eines für die Zeit nach der Reichsgründung charakteristischen euphorischen Fortschrittsdenken und einem sich auch in Schleswig-Holstein langsam verfestigenden Nationalbewußtseins nicht nur aufgegeben, sondern sollten insbesondere in der wilhelminischen Ära eine ausgesprochen positive Umdeutung erfahren.

Auch im Zusammenhang mit der Ortsgeschichte zeichneten sich von Beginn der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Veränderungen ab. Das Gründungsjahr der Bramstedter Turnerschaft, genauer des „Männerturnvereins zu Bramstedt“, fällt in eine für den Flecken Bramstedt außerordentlich schwierige Zeit, machen sich doch überall im Orte die Folgen der im Jahre 1840 erfolgten Weigerung, die Trasse der Altonaer-Kieler Eisenbahn über Bramstedter Gebiet verlaufen zu lassen, bemerkbar. Auf eine kurze Phase außerordentlicher wirtschaftlicher Prosperität nach Eröffnung der Kunststraße Altona-Kiel folgte nunmehr als Konsequenz einer zunehmenden Verkehrsverlagerung zu Gunsten der Eisenbahn eine Phase des wirtschaftlichen Niedergangs, der um das Jahr 1860 alle Bereiche des örtlichen Lebens erfaßt hatte. Diese schwere Zeit sollte erst mit dem Amtsantritt einer der profiliertesten Bürgermeisterpersönlichkeiten der Bramstedter Geschichte, Gottlieb Freudenthal, im Jahre 1878 ein langsames Ende finden. Vor dem Hintergrund dieser schwierigen Verhältnisse mußte der Männerturnverein zu Bramstedt praktisch ohne materielle Unterstützung durch den Flecken aus­kommen, hinzu kommt die insgesamt ungünstige wirtschaftliche Lage des größten Teils der Einwohnerschaft und schließlich eine zunehmende Außenseiterrolle, die der Verein als Folge der politischen Großwetterlage hinzunehmen hatte.

HkJB1986_Bild1

HkJB1986_Bild2

Erst 1884 bekam der neugegründete Verein in Gottlieb Freudenthal einen engagierten Fürsprecher, der seine Person und sein Amt immer wieder für den neugegründeten Verein in die Waagschale warf. Dabei reagierte er durch seinen spontanen Einsatz für die Belange der Turnerschaft in angemessener Form auf die sich wandelnden Lebensbedingungen im Orte: ein in der zweiten Jahrhunderthälfte deutlich werdender Wandel der Erwerbsstruktur weg von der landschaftlich-gewerblichen Doppelexistenz zu einer landwirtschaftlichen oder gewerblichen Einzelexistenz führte nicht nur zu einem Mehr an Freizeit, sondern auch zu einem verstärkten Bedürfnis körperlicher Betätigung.

Hinzu kommt der gemeinschaftsfördernde Charakter, insbesondere des gemeinschaftlichen Turnens, der, wenn erst einmal genügend Bürger des Ortes als Mitglieder gewonnen waren, zu einem stärkeren Zusammenhalt der Bewohner untereinander und mithin zu einer stärkeren Bindung des einzelnen an seine Stadtgemeinde (Fleckensgemeinde) führt. Freudenthal hatte hier sehr wohl den integrierenden Charakter des Turnens erkannt und wußte ihn zum Wohle des Ortes zu nutzen, mußte er doch neben den schon genannten wirtschaftlichen Schwierigkeiten auch einer zunehmenden Abwanderungsbewegung, insbesondere junger Menschen, begegnen.

Dennoch war es ein weiter Weg, bis die Bramstedter Turnerschaft beispielsweise den bereits im Jahre 1890 beschlossenen Bau einer Turnhalle verwirklichen konnte. Es war ein langer und mühevoller Weg, den die Bramstedter Turnerschaft durch Höhen und Tiefen der örtlichen und überörtlichen Entwicklung zurückzulegen hatte. Nur langsam, aber stetig, stieg die Mitgliederzahl. Aus den Anfangsjahren sind zwar keine genauen Zahlen (außer einem guten Dutzend) überliefert, aber bereits im Jahr 1904, dem ersten dokumentierten Jahr, sind es 109, 1908 = 135.

Das Jahr 1908 ist — neben der Fertigstellung und Einweihung der Turnhalle am Bahnhof — insofern von Bedeutung, daß in diesem Jahr erstmals Frauen aufgenommen wurden — angesichts der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse jener Jahre ein Zeichen ausgesprochen liberalen und fortschrittlichen Denkens. In ihrer liberalen Vereinspraxis frei von politischer Parteinahme (das übergeordnete Ziel einer Reichsgründung war ja erfüllt) wurde die Bramstedter Turnerschaft gleichwohl immer wieder in den Strudel politischer Auseinandersetzungen der folgenden Jahre hineingezogen. Insbesondere der ausgeprägte Gemeinschafts- und Gemeinsinn und der angesprochene integrierende Charakter des Vereins ließen ihn vielfach für die Verwirklichung politischer Ziele interessant erscheinen und setzten ihn häufiger einer ungewohnten Einflußnahme von außen aus. Nur so ist es zu verstehen, daß sich Überlegungen hinsichtlich der Gründung einer allgemeinen und bewaffneten Bürgerwehr in der Zeit nach dem Ende des 1. Weltkrieges zunächst ausschließlich auf die Mitglieder der Turnerschaft bezogen. Nur so ist es zu erklären, daß die Nationalsozialisten, in dem Fall von Brokstedt aus gesteuert, ihren Einfluß zunächst in Vereinen wie der Turnerschaft oder auch der Feuerwehr geltend zu machen versuchten.

Die Bramstedter Turnerschaft hat solchen Anfechtungen nach Kräften getrotzt. Im steten Festhalten an den Vereinszielen, der Pflege des „Deutschen Turnens“, oder wie es in einer neueren Ausgabe der Vereinssatzung heißt, die „Turn- und Sportarten, die körperliche und sportliche Betätigung und die charakterliche Entwicklung seiner Mit­glieder zu fördern“ — und dies ist im Grunde ja nur eine nähere Erläuterung dessen, was ursprünglich mit dem Begriff des „Deutschen Turnens“ gemeint war — konnte der Verein sich über zwei Weltkriege hinweg, durch die Wirren der Weimarer Zeit und die Anfechtungen durch den Nationalsozialismus, Untergang und Neubeginn hindurch eine über kurzlebigen Alltagsereignissen stehende integrierte Position im Gemeinwesen unserer Stadt schaffen. Gerade hierin liegt die eminent politische Bedeutung der Bramstedter Turnerschaft nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart und Zukunft.

Dieser Beitrag wurde unter G - Buchtexte, Broschüren, Festschriften, M - Schulen Kultur Soziales veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.